Wir sind alle Kafka: Saisonauftakt im Düsseldorfer Schauspielhaus

70 „Kafka“-Figuren im charakteristischen schwarzen Anzug, Hut und Mantel strömen aus den ersten Sitzreihen des Zuschauerraums auf die Bühne und nehmen an der Rampe Aufstellung. Unter ihnen Josef K. „Ich bin Josef K., Prokurist“, sagt er – diesen Satz wird man in den nächsten drei Stunden noch öfter von ihm hören. Denn viel mehr weiß er nicht über sein Leben…

Zum Auftakt der Saison zeigt das Düsseldorfer Schauspielhaus eine Adaption von Kafkas Romanfragment „Der Prozess“ in der Inszenierung des russischen Regisseurs Andrej Mogutschi, der sich offenbar in Dreh- und Hebebühne verliebt hat. In einem wilden Reigen wirbeln die Kafka-Statisten (im Programmheft ausgewiesen als Chor) herum, fahren hinauf und hinab, wobei Josef K. (weltentrückt gespielt von Carl Alm) gleichzeitig noch das Kunststück zu bewältigen hat, sich mehrmals umzukleiden. Das erzeugt Stress, das erzeugt Zeitdruck. „Zu spät“, ruft Josef K., „ich komme zu spät.“ Das stimmt: Denn seine Verhaftung ist schon erfolgt, die Gerichtsbarkeit hat ihn in den Klauen. Doch was ihm vorgeworfen wird, weiß er nicht.

Dafür finden Mogutschi und seine Bühnenbildnerin Maria Tregubova seltsame, beinahe surrealistische Bilder: Auf schiefer Ebene ist Josef K.s Kammer mit in den Proportionen verzerrtem Mobiliar aufgebaut, es könnte auch das Zimmer von Gregor Samsa sein. Verzweifelt klammern sich die Schauspieler an die spärlichen Möbel, doch es hilft nichts: Sie stürzen buchstäblich in den Abgrund. In einer anderen Szene sitzt Josef K. leblos, gestützt von seinen Wächtern (Moritz Löwe und Jonas Anders), in einem schwarzen Oldtimer, die Statisten streuen rote Rosen und unversehens wird die Szenerie zum Leichenzug. Am Bühnenhimmel hängen Wattewölkchen und zum Advokaten (Sven Walser) rudert man im weißen Bötchen durch im Raum schwebende Türen. Die Musik (Alexander Monotskov) verstärkt die varietéhafte Anmutung des Ganzen. So bebildert die Inszenierung zwar ausführlich, manchmal witzig und leider auch etwas langatmig den Alptraum, in dem sich Josef K. befindet. Doch ihr Zentrum findet sie nicht. Sie kreiert eher ein Kafka-Abziehbild.

„Zum letztenmal Psychologie“ skandiert der Chor, obwohl am ehesten noch eine psychologische Deutung angeboten wird: Besteht Josef Ks. Schuld etwa in uneingestandener sexueller Begierde? Der nackte Advokat und seine Gespielin Leni (Betty Freudenberg) im monströsen Ganzkörpernacktanzug sowie die hohen Herren der Gerichtsbarkeit allesamt unten ohne sprächen dafür. Ebenso Fräulein Bürstners (Patrizia Wapinska) durcheinandergewirbelte Blusen. Doch nimmt man dem somnabulen Josef K. den Tausendsassa gar nicht ab. Soll er etwa das Riesenbaby gezeugt haben, das plötzlich über die Bühne geistert? Am Ende gar mit seiner Mutter?

Antworten gibt es naturgemäß nicht. Im Grunde ist Josef K. gesamtes Leben ein Prozess, den er nicht gewinnen kann, denn der unglückliche Ausgang ist vorprogrammiert. Da kann er sich noch so viele Advokaten auf dieser Lebensreise nehmen, irgendwann endet sie. In diesem Sinne sind wir wohl alle ein bisschen Kafka.

„Der Prozess“ nach Franz Kafka
Karten und Termine: www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

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