Die Stradivari als Flachbrett: Ray Chen im Konzerthaus Dortmund

Ray Chen 3(c)Chris Dunlop

Ray Chen (24) wurde in Taiwan geboren, wuchs in Australien auf und lebt heute in Amerika (Foto: Chris Dunlop)

Achtung, bitte anschnallen, gleich geht es los. Der zweite Satz von César Francks Violinsonate A-Dur steht bevor. Wild wird es im Konzertflügel brodeln, bevor die Violinstimme hinzu tritt: überstürzt lospreschend wie jemand, der immer gleich zwei oder drei Stufen auf einmal nimmt. Vor Leidenschaft schier taumelnd, wird sich ihr Thema vehement in die dunkelsten Farben der G-Saite wühlen.

Für den Geiger Ray Chen ist damit die Gelegenheit gekommen, als der „Junge Wilde“ hervor zu treten, als den das Konzerthaus Dortmund ihn jetzt präsentiert. Der gleichnamigen Nachwuchsreihe, der er drei Spielzeiten lang verbunden bleiben wird, kann er nun seine Reverenz erweisen.

Erwartungsgemäß geht Chen zur Attacke über. Er versetzt der vor Erregung kurzatmig abgerissenen Melodie scharfe Akzente, versucht seiner Stradivari alles Feuer zu entlocken. Was dabei heraus kommt, klingt hart und überraschend dünn. Der Violinton ist laut, aber ohne Tragkraft, forciert und in der Tiefe farbarm. Die kostbare „Lord Newlands“-Stradivari aus dem Jahr 1702, deren Strahlkraft und Durchsetzungsvermögen Isaac Stern einst rühmte, klingt unter Chens Händen nach einem enttäuschend flachen Stück Fichte. Auf die dramatischen Beleuchtungswechsel in Francks Sonate, auf ihre grüblerischen Abgründe versteht der 24-Jährige Sunnyboy sich nicht. Ihre existenziell gefährdete Fragilität, ihre schillernden Bruchstellen sind bei ihm wie mit einer Teflon-Schicht überzogen. Da bleiben alle Emotionen leicht abwaschbar. Wo Franck uns von der morbiden Schönheit fast verblühter Rosen erzählt, reicht Ray Chen uns einen Strauß mit Plastikblumen.

Auf der heiteren Seite der Musik fühlt sich der in Taiwan geborenen Australier, der am Curtis Institute of Music in Philadelphia ausgebildet wurde, weitaus wohler. In den salonhaft-eleganten Violinstücken von Saint-Saëns kann er seinen jungenhaften Charme spielen lassen, dem Violinton in der Höhe Süße geben und mit fixen Fingern ein Feuerwerk der Virtuosität zünden. Da gibt es fliegende Aufstrich-Staccati zu bestaunen, feine Flageolett-Töne und rasante Läufe, die sich mit größter Beweglichkeit in höchste Höhen schrauben. In zackiger Rhythmik lässt Ray Chen Saint-Saëns‘ „Introduktion und Rondo capriccioso“ tänzeln, zeigt dabei auch Freude an seinem technischen Können. Die effektvollen Piècen kommen geigerisch nahezu blitzsauber daher: Dass Chen als Musiker nicht weit unter die Oberfläche dringt, fällt bei diesen Stücken weniger ins Gewicht.

Nach gründlichem Exerzitium klingt Johann Sebastian Bachs E-Dur-Partita für Violine solo, mit der er den Abend eröffnet. Chen geigt das eröffnende Preludio schlank und klar, mit einem wie aus dem Handgelenk geschüttelten Detaché-Strich in der oberen Bogenhälfte. Er akzentuiert die silberhellen Farben der Tonart und unterstützt diese Tongebung in den Folgesätzen mit sparsamen Vibrato. Sein Timing und sein Rhythmusgefühl sind treffsicher, was besonders der Bourrée zu Gute kommt.

Warum sein Bach-Spiel trotzdem unter einer gewissen Farblosigkeit krankt, wird erst in der Reflexion dieses Werks durch den belgischen Geiger und Komponisten Eugène Ysaye ganz deutlich. Chens Ausdrucksmöglichkeiten sind viel zu begrenzt, um den Dämonen beizukommen, die bei Ysayes zweiter Solo-Sonate mit dem Beinamen „Obsession“ hinter jedem Takt lauern. Die zwanghaft anmutende Verschränkung von Bachs Solo-Partita mit dem mittelalterlichen „Dies irae“-Motiv aus der lateinischen Totenmesse nimmt bei ihm keine überzeugende Form an. Vielmehr ist seine Interpretation unentschlossen und geprägt von willkürlich zerdehnten Tönen, die bedeutungsvoll den Zeigefinger erheben, ohne etwas zu sagen zu haben. An die Stelle einer eigenen Handschrift treten Manierismen. Die Stimmführung zersplittert, der „Tanz der Schatten“ (Danse des ombres) wird zu einer seltsamen Pizzicato-Polka. Vom Kern der Musik ist Ray Chen hier einmal mehr weit entfernt.

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Weitere Informationen zur Nachwuchsreihe „Junge Wilde“ im Konzerthaus Dortmund gibt es hier.

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