Traumzeit in Duisburg und Moers

Die Kraftzentrale und das Zirkuszelt liegen Luftlinie 11,7 km auseinander. Pfingsten und Traumzeit trennten in diesem Jahr nur drei schnell vergangene Wochen. Im westlichen Ruhrgebiet verwöhnt der Frühsommer Liebhaber grenzüberschreitender Musikarten mit zwei Großereignissen.

Beide, das Moers Festival und das Duisburger Traumzeit-Festival, pflegen Musikrichtungen, für die es kaum einen oder sehr viele Namen gibt: Improvisierte Musik, freie Musik zwischen Jazz, (Post-)Rock, Indie, Neuer Musik, Elektronik, „Weltmusik“, Neo-Folk oder Klassik. Wer in der Vorstellung lebt, weit und breit der einzige zu sein, dem eine bestimmte Musikgruppe abseits des Mainstreams bekannt ist, stellt fest, es sind Tausende, die sich im Moerser Festzelt oder in einem der Meidericher Industriegebäude für anspruchsvolle musikalische Experimente begeistern können, Zigtausende sogar, die sich über den Schlosspark (Moers) oder die verschiedenen Aufführungsorte des Landschaftsparks (Duisburg) verteilen.

In diesem Jahr spielten Igmar Thomas & The Cypher an beiden Orten, in Moers und in Duisburg; über die Jahre verteilt, ist die Schnittmenge beider Festivals beachtlich. Die Künstlerischen Leiter, Reiner Michalke in Moers und Tim Isfort in Duisburg, öffnen ihre Festivals einem neuen Publikum, und seit neuestem bietet auch Duisburg – wie in Moers bereits seit Anbeginn üblich – gleich neben dem Festival eine Camping-Möglichkeit.

Wo aber liegen die Unterschiede? Moers überraschte in diesem Jahr gleich doppelt mit hartem Metal. Bei Orthrelm (USA) trifft Thrash Metal auf Minimal Music. Repetitive Klangmuster mit minimalen Variationen und kaum merklichen Entwicklungen tönen hier nicht wie bei Steve Reich mit klarem Vibraphon und festlichem Glockenspiel, sondern werden mit den trashigsten aller übersteuerten Gitarrensounds in rasantem Tempo hingeschmettert, mit einem wirbelnden Schlagzeuger, der ein 45-minütiges Solo hinlegt, nur nicht solo, sondern vervollständigt von einem ruhelos schrammelnden Gitarristen, dessen den Pedalen zugewandtes Gesicht von einem Vorhang langer glatter Haare verdeckt ist. Am nächsten Tag am gleichen Ort präsentieren Monolithic eine norwegische Variante: Ebenfalls im Duo Gitarre – Schlagzeug, mit angenehm unverständlichem Gesang. Auf Audio-Masochisten verschiedenster Couleur hat das Fest in Moers, das seit 1972 die meiste Zeit als „New Jazz Festival“ firmierte, immer schon eine besondere Attraktion ausgeübt. Mit Orthrelm und Monolithic zog in diesem Jahr die bislang härteste Spielart ein.

Neben den Festivalneulingen bleiben sowohl Moers als auch Duisburg Treffpunkte für die alten Hasen der Szene. In der Meidericher Kraftzentrale trieben der bekannte Fusion-Jazzer Mike Stern (Gitarre) und Didier Lockwood (Teufelsgeige) mit dem grandiosen Dave Weckl am Schlagzeug und Tom Kennedy am Bass die Perfektionierung des Sich-überlebt-Habenden auf die Spitze. Branford Marsalis (Saxophon, Klarinette), längst schon aus dem Schatten seines berühmten Bruders Wynton getreten, überzeugte gemeinsam mit dem Pianisten Joey Calderazzo durch Stil, Brillanz, Tempo, Größe.

Branford Marsalis

Branford Marsalis / Foto: Wolfgang Cziesla

 

Drei Wochen zuvor hatte sich in Moers der 71-jährige Ronald Shannon Jackson zwischen Vernon Reid an der Gitarre und Melvin Gibbs am Bass als ein scheinbar von aller Last des Alltags befreites Individuum präsentiert, bei dem ein langes Schlagzeugerleben nicht die geringste Verspannung hinterlassen hat. Warum auch – hatte doch bereits der 76-jährige Abdullah Ibrahim am Piano mindestens ebenso jugendlich gewirkt!

Die absolute Überraschung in Moers aber – nicht im gedruckten Programm aufgeführt und von der Ansagerin als Geburtstagsgeschenk des 40-jährigen Festivals an sein Publikum angekündigt – war Ornette Coleman (81 Jahre alt). Einer Legende gegenüber zu stehen mag beeindrucken; ein solches Highlight völlig unerwartet zu erleben, steigert die Wirkung um ein Vielfaches. Coleman, der 1960 den Free Jazz aus der Taufe gehoben hatte, und sein Quartett boten den Zuhörern allererste Qualität.

Aber mit dem Bemühen, möglichst große Stars in den Westen des Ruhrgebiets zu holen, sind wir wieder bei den Gemeinsamkeiten beider Festivals gelandet. Zurück zu den Unterschieden. Das Traumzeit-Festival verstand sich seit seiner Gründung 1997 immer auch als Bühne der sogenannten Weltmusik (eine fragwürdige Bezeichnung für fraglos spannende Musikrichtungen). Die Duisburger setzten in diesem Jahr den Länderschwerpunkt Myanmar, brachten Musiker aus dem südostasiatischen Land mit Kollegen aus Frankreich, Italien, Deutschland auf eine Bühne und vermittelten dem Publikum einen Klangeindruck von der hierzulande selten gehörten Bogenharfe saung gauk, dem Trommelkreis oder der burmesischen Kegeloboe hne.

Seltene Instrumente – um gleich wieder auf die Gemeinsamkeiten zu sprechen zu kommen – gab es auch in Moers. Mit einer 17- und einer 21-saitigen Koto kam Michiyo Yagi in das Festivalzelt, wo die Japanerin bereits 1992 aufgetreten ist. Diesmal spielte sie im Double Trio: Symmetrischer Bühnenaufbau: rechts und links außen jeweils ein Schlagzeug, halbrechts und halblinks je ein Kontrabass, der in einzelnen Stücken auch durch ein Cello ersetzt werden konnte. Und im Zentrum das Koto und das Bass-Koto von Michiyo Yagi. Perfektes Zusammenspiel, traumhaft.

Das Verwöhntwerden durch zwei herausragende Festivals in so kurzem Zeitraum bringt mit sich, dass ein Bericht über beide Großveranstaltungen selbst erstklassige Acts nur in der Aufzählung würdigen kann – wie Nils Petter Molvaer, Little Red Big Bang, Seun Kuti (alle in Moers); Cyro Baptista, Anne Paceo Triphase, das Portico Quartet, Hundreds, Mogwai oder Stefan Rusconi (in Duisburg).

Erstklassig sein genügt nicht. Was war das Phantastische der diesjährigen Traumzeit?

Caribou schuf fast unglaubliche Momente. Die vier Nerds aus Kanada im Medizinerweiß oder in Parka mit auf den Rücken geschnallter Gitarre schlugen zur Live-Elektronik die Beats präzise auf zwei Schlagzeuge, vergleichbar der US-amerikanischen Band Tortoise, und versetzten am Freitagabend bei einem ihrer seltenen Deutschlandauftritte das Publikum auf den Tribünen wie die Tanzenden gleichermaßen in Ekstase.

Zwei Tage später, gleicher Programmplatz: Der 28-jährige Vielkönner Patrick Wolf und Alec Empire (39) – der ehemalige Noise-Punker von Atari Teenage Riot – bilden ein ungewöhnliches Duo. Zu Wolfs Bluesstimme lebt 80er-Jahre-Elektropop, gebrochen von Empires Noise-Einlassungen, neu auf, und beim Spiel mit dem Bühnenbild verbindet sich alles zu einem popmusikalischen Gesamtkunstwerk. Auch wer sich keine CD der beiden komplett anhören möchte, dürfte vor allem von Patrick Wolfs dandyhaften Entertainer-Qualitäten nicht unbeeindruckt geblieben sein.

Jeweils um 23 Uhr an den drei Tagen traten in der Gießhalle die großen Gruppen auf: Mogwai, Amiina, Hundreds. Gleichzeitig aber wurde die Kraftzentrale von Klangzauberern bespielt. Am Freitagabend erwies sich Ólafur Arnalds als ein solcher. Der isländische Pianist wurde von einem Streichquartett und Elektronik begleitet – raumgreifender Enthusiasmus, Musik, in der man sich verlieren kann. Ebenso wie beim Bestaunen der dazu laufenden Zeichentrick-Videos. Schattenrisse von Vögeln, die sich von Mobiles lösen und frei fliegen, sich wie Kulissen verschiebende Wolken, ein Leuchtturm und Wellen, in denen ein Boot versinkt und verwandelt auftaucht. Vergleichbare Klang-Bild-Poesie hat 2003 an diesem Ort auch das Tin Hat Trio geschaffen.

Die Samstagnacht in der Kraftzentrale gehörte dem Amsterdamer Blockflöten-Trio aXolot. Zur atmosphärischen Vervollständigung sei kurz das Bühnenbild beschrieben: Eine halbe Schwingtür in komplettem Rahmen, ein extrem kleiner Kinderstuhl, ein normalgroßer Kunstleder-Schaukelstuhl, zwei Orientteppiche, ein Sofa und zwei dazu passende Ohrensessel, Kunstlederstühle mit Nieten – das Ganze in verdampfendes Nebelfluid getaucht. Das Programm der drei Flötistinnen bestand aus mittelalterlichen Klängen nicht mehr bekannten Ursprungs und Werken junger Komponistinnen und Komponisten: Dorothée Hahne, Aliona Yurtsevich, Stefan Thomas und des Amsterdamer Komponisten Paul Leenhouts, dessen bezauberndes Zultanas Raizins sie aufgeführten. Nicht-existente Töne schwingen hier mit – wie die Flötistin Kim-José Bode erklärt –, sogenannte Geisttöne, Töne, die als dritte entstehen, wenn man zwei spielt.

Die Samstagnacht ist ein gutes Beispiel, um den entscheidenden Unterschied zwischen den Festivals in Moers und Duisburg zu benennen: Moers konzentriert sich auf das große Zirkuszelt, in dem sich im Wesentlichen das gesamte Festival abspielt, ergänzt durch eine Reihe elektronischer Musik in einem Darkroom sowie durch Nachtprogramme und Matineen an verschiedenen Orten der Stadt. Das Traumzeit-Festival dagegen verteilt sich auf verschiedene Bühnen im nachts wunderbar beleuchteten Lapadu (Landschaftspark Duisburg-Nord): Kraftzentrale, Gießhalle, Open-Air-Bühne am Gasometer, Foyer Pumpenhalle, Gebläsehalle und Hüttenmagazin. Die guten Auftritte konkurrieren miteinander, und der Besucher kann von Luxusnöten gequält werden, wie ich am Samstag kurz vor 23.00 Uhr. In der Gebläsehalle spielten noch Bohren & der Club of Gore, deren Auftritt von 22.15 Uhr auf 22.30 Uhr verschoben wurde. Wer wäre düsterer als die vier Männer aus Mülheim? Während gealterte Virtuosen wie Mike Stern oder Joey Calderazzo in Duisburg losjammten, als hätten sie keine Zeit zu verlieren, verfügen Bohren & der Club of Gore über alle Ruhe der Welt, und nicht nur dieser Welt. Aus der Schwärze der Bühne mit unsichtbaren Gestalten heraus kam eine der spärlichen skurrilen Ansagen: „Es ist Mode geworden, auf junge gutaussehende Mütter, die ihre Kinder zum Fußball fahren, einzudreschen. Wir von Bohren unterstützen das und haben darüber ein Lied geschrieben, erstaunlicherweise schon 2003.“

Ich kann gerade noch die ersten der langgezogenen Doom-Töne auf mich wirken lassen, da flüstert mir eine innere Stimme zu, dass es an der Zeit ist für aXolot. Ein geschlossener Vorhang in der Kraftzentrale, und ein Wächter kündigt mir freundlicherweise an, der Soundcheck werde voraussichtlich noch eine halbe Stunde in Anspruch nehmen. Eine weitere innere Stimme sagt mir, dass aXolots gründliche Vorbereitung meine Chance ist, gegenüber in der Gießhalle ein paar Takte von Aniima wahrzunehmen, den jungen Isländerinnen, die an der Seite von Sigur Rós arbeiten, wenn sie nicht wie heute ihr eigenes Ding machen. Das ursprüngliche Streichquartett ist inzwischen durch eine Vielzahl an Instrumenten erweitert.

Zurück in der Kraftzentrale beginnt aXolot das Konzert mit der neuen Komposition von Dorothée Hahne, dessen Titel die innere Zerrissenheit eines Traumzeit-Besuchers auf den Punkt bringt: Interferences of Inner Voices.

Gut, dass ich kein Partygänger bin, sonst gäbe es zu später Stunde auch noch zwei verlockende Tanzveranstaltungen.

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Über Wolfgang Cziesla

lebt als Schriftsteller in Essen.
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