Festspiel-Passagen III: Rossinis „Guillaume Tell“ in München – Rebellion der Spießer

München; Rossinis "Guillaume Tell". Foto: Wilfried Hösl

München; Rossinis „Guillaume Tell“. Foto: Wilfried Hösl

Das gilt es festzuhalten: Ein Haus wie die Münchner Staatsoper mit knapp sechzig Millionen Staatszuschuss kümmert sich – endlich einmal – um ein Schlüsselwerk der Oper, Gioacchino Rossinis „Guillaume Tell“. Und streicht und kürzt in der Partitur herum, als habe es in den letzten Jahrzehnten keine kritische Neuerschließung des Materials und keinen Wandel in den ästhetischen Anschauungen zu Rossinis Arbeitsweise und Werkgestalt gegeben.

Ein Jahr vorher stellte ein Festival mit nicht einmal einer Million mühsam erkämpftem Zuschuss einen „Tell“ auf die wacklige Bühne einer ehemaligen Trinkhalle im württembergischen Bad Wildbad, der alle Striche öffnet und dem staunenden Zuhörer erstmals in vier Stunden und zwanzig Minuten den ganzen musikalischen Kosmos Rossinis erschließt.

In Bad Wildbad hörte man nicht die durchlöcherten musikalischen Formen üblicher Strichfassungen, kam Rossinis subtile Kunst der Ensembles, der groß geschlagenen musikalischen Bögen, der spannungsvollen Entwicklung zum Tragen. Und in München, bei der „Festspiel“-Premiere dieses Jahres? Die handlungsbezogenen Tänze, die zum Besten gehören, was Rossini je aus der Feder geflossen ist: gestrichen. Die Großformen der Ensembles: zerstückt. Dazu ein Dirigent, dem das Gespür für Transparenz, Finesse und freies Ausströmen der Musik abgeht, der die Gewittermusik knallen und scheppern lässt, der in der Ouvertüre weder Konturen ausbildet noch die subtilen Stimmungen der Naturlyrik ausphrasiert. Und der es zulässt, dass diese grandiose Konzentration des musikalischen Dramas in den dritten Akt – nach dem Apfelschuss – versetzt wird.

Nun ist Oper keine akademisch-philologische Angelegenheit, das stimmt. Und ein Abend ohne Kürzungen muss nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Aber gerade von einem Haus wie München wäre zu erwarten, dass es sein Potenzial einsetzt, um ein seit jeher verstümmeltes opus magnum der Opernliteratur in ein ungefiltertes Licht zu setzen. Die Länge kann kein Gegenargument sein: Man kürzt auch die „Meistersinger“ nicht, nur weil das Festspielpublikum zu lange sitzen müsste.

Regie und Dramaturgie hätten, so war zu lesen, auf den Kürzungen bestanden. Hätten sie das Ergebnis dieser ersten Operninszenierung des erfolgreichen Schauspielregisseurs Antú Romero Nunes wenigstens gerechtfertigt oder einsichtig gemacht. Nichts dergleichen: Die Chöre drängen sich an der Rampe oder stehen in Appellplatzformation herum; Solisten agieren mit überdeutlicher Gestik am vorderen Bühnenrand. Gesler, ein netter, grauhaariger Uniformierter, spaziert zwischen Schweizern und Habsburger Soldaten einher. Arnold bejammert seinen inneren Zwiespalt im Spot an der Rampe.

Säulen, Stämme, Rohre: Florian Lösches Bühnenbild sorgt für bezwingende Bilder, aber seine Wirkung schleift sich im Laufe des Abends ab. Foto: Wilfried Hösl

Säulen, Stämme, Rohre: Florian Lösches Bühnenbild sorgt für bezwingende Bilder, aber seine Wirkung schleift sich im Laufe des Abends ab. Foto: Wilfried Hösl

Ein Fall für sich ist Florian Lösches Bühne: Wenn sich bleifarben schimmernde Röhren im dunstigen Licht Michael Bauers herabsenken und einen Wald abweisender, metallglänzender Stämme bilden, durch die sich die Schweizer in Hochzeitskleidern schieben, sieht man einen beklemmenden Raum, in dem Menschen ihre kleinen Freiheiten suchen. Wenn sich die Röhren dann heben und mit ihren schwarzen Öffnungen wie Kanonen von oben auf das Volk starren, stellt sich das Gefühl einer gewaltigen, unfassbaren Drohung ein. Wirkmächtige Bilder.

Doch Löscher lässt in den folgenden drei Stunden diese Röhren in den verschiedensten Formation rauf und runter fahren: Mal liegen ein paar Stämme quer, mal bilden sie das Dreieck eines Hausdachs. Nach einer halben Stunde geht diese Dauerdemonstration der Münchner Bühnentechnik auf die Nerven. Selbst dem innehaltenden Naturbild von Mathildes „Sombre forêt“ gönnt sie keine Ruhe. Der Fluss der Szenerie bleibt beliebig, die Wirkung schleift sich ab.

Anmerkungen zu Europa? Die "Aktualisierung" geht nicht auf. Foto: Wilfried Hösl

Anmerkungen zu Europa? Die „Aktualisierung“ geht nicht auf. Foto: Wilfried Hösl

In Nunes‘ Regie rebellieren die Spießer. Ein Tell, von Annabelle Witt in einen Strickpullover gesteckt, spuckt seine Freiheitsideen als ideologische Tiraden aus – Michael Volle poltert und röhrt, als habe er einen veristischen Reißer zu überstehen – und bringt den alten Melcthal (mit wenigen gestemmten Sätzen: Christoph Stephinger) um die Ecke, um Arnold zum Kampf zu gewinnen. Gesslers Mannen sind von einer dunkelblau uniformierten kleinen Mussolini-Ausgabe kommandiert (schneidend militärisch: Kevin Conners als Rodolphe), der Landvogt selbst wirkt wie ein unwilliger Aristokrat, der versehentlich in einen Volksauflauf geraten ist. Im dritten Akt darf er sich einen Stierkopf überstülpen – aber die Maskerade hat nichts mit dem Wappen des Kantons Uri zu tun, sondern mit einer apokryphen Europa-Symbolik, die sich auch im Schwenken einer grau-schwarzen Fahne mit dem europäischen Sternenkreis manifestiert. Die EU alias Habsburg, die das bieder-spießige Schweizervolk bedrängt?

Nunes will uns zeigen, dass die Welt nicht so eindeutig in Gut und Böse einzuteilen ist, wie es das Freiheitspathos der Rossini-Oper suggeriert. Aber er kann nicht klären, was das letztlich bedeutet. Die Erzählung des Münchner „Guillaume Tell“ endet mit der stumpf musizierten Verklärungsmusik und den „Liberté“-Rufen von Revoluzzern, die gerade einmal das Erregungsniveau von Wutbürgern erreichen. Emblematisch dafür kann Tells Frau Hedwige – die schönstimmige Jennifer Johnston – stehen, die sich entschlossen die Schürze vom Kostüm reißt. Immerhin lässt Nunes uns nicht im Unklaren, wie die Liebesgeschichte zwischen Arnold und Mathilde endet: Die „Liberté“ macht ihn unempfindlich gegen die zärtlich auffordernde Annäherung der Frau.

Würde das Bayerische Staatsorchester Wagner so spielen wie diese Grand Opéra, der Protest im Publikum wäre programmiert. Aber es ist ja „nur“ Rossini. Und so dürfen Flöte und Oboe abschmieren, braucht es weder ein sanglich-weich phrasierendes Cello noch transparente Violinen. Die Anfeuerungsarbeit leistet Dan Ettinger, Mannheimer GMD, der bisher nicht durch Großtaten im Belcanto- oder französischen Fach aufgefallen ist. Er nimmt Rossini im Geiste des mittleren Verdi mit viel Saft und Kraft.

Zwischen der bewusst primitiv-martialischen Aufmarschmusik Rossinis und den entrückten Lyrismen könnte die Skala expressiver Möglichkeiten weiter aufgespannt sein. Die Chöre Sören Eckhoffs schlagen sich tapfer; einige Wackler und abgeflachte Phrasen sind bei den derzeitigen Festspiel-Übungen in Ausdauer und stilistischem „Umschalten“ mehr als verständlich.

Vokales Niveau auf Weltspitze präsentiert Marina Rebeka als Mathilde: Ihr gelingt das ariose Naturidyll von Wald und Bergen als Fluchtort vor ihrer Realität mit geschmeidigem Legato ebenso wie die heroisch punktierte Höhe oder der dramatisch geladene Einsatz für Tells Sohn Jemmy gegen die brutale Willkür Geslers. Evgeniya Sotnikova singt mit flexibler Stimme die Rolle des vorpubertären Buben, der mit kindlicher Radikalität den Ideen des Freiheitskampfes folgt.

Bryan Hymel als Arnold überzeugt vornehmlich mit sicher gesetzten Spitzentönen, nicht so sehr mit der unflexiblen, einfarbigen Tongebung und einem gerne ins Gaumige rutschenden Timbre. Im vierten Akt hatte er sich für seine berühmte Szene „Asile héréditaire“ frei gesungen und brillierte mit einem überwältigenden Vortrag. Auch Enea Scala in der zweiten Tenorpartie des Fischers Ruodi beeindruckte mit brillanter Höhe und sicherer Position. Günther Groissböck ist ein eleganter Gesler mit einem warmen Timbre – fast zu schön für den sadistischen Tyrannen. In der Premiere wurde der Regisseur mit Buhrufen überzogen; auch am besuchten Abend waren entschiedene Missfallenskundgebungen zu hören, die diesmal den Dirigenten trafen.

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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