Festspiel-Passagen V: Colmar im Elsass – Monumentale Musik in russischer Tradition

Er spielte in Colmar sein Schubert-Skrjabin-Programm: Evgeny Kissin. Foto: Bernard Fruhinsholz

Er spielte in Colmar sein Schubert-Skrjabin-Programm: Evgeny Kissin. Foto: Bernard Fruhinsholz

Einst war Colmar eine richtige Hauptstadt: Im Saal des „Koїfhus“ versammelten sich die Vertreter des Zehnstädtebunds. Seine Mitglieder unterstützten sich gegenseitig, um in den unruhigen Zeiten des späten Mittelalters ihre Rechte und Freiheiten zu sichern. Heute wird die elsässische Stadt einmal im Jahr zur Hauptstadt der Musik.

Das „Festival International de Colmar“ versammelt in knapp zwei Juli-Wochen Größen des Musiklebens zu einem weit über die Region hinaus strahlenden Zyklus von Konzerten. Und immer noch trifft man sich – wie vor 500 Jahren – in dem ehemaligen Zoll- und Warenlager im Zentrum der alten Stadt. Doch diesmal sind es die Liebhaber der Musik, die dort den Stellenwert der Musik im Reigen der Künste eindrucksvoll unterstreichen.

Das Festival rühmt sich der bedeutenden Künstler, die es für seine 27 Konzerte in seine ehrwürdigen Spielstätten holt. Nicht ohne Grund: Evgeny Kissin kam zwischen Klavier-Festival Ruhr und zwei Auftritten im schweizerischen Verbier in die großartige gotische Hallenkirche St. Matthieu; Grigory Sokolov spielte – wie vorher in Essen –  sein viel gerühmtes, faszinierendes Chopin-Programm. Und wenn Ensembles wie Prazak-, Schumann-, Sine Nomine- und Talich-Quartett zu hören sind und mit dem Moskauer Kopelman-Quartett eine russische Spitzenformation gastiert, ist das auch für den Kammermusik-Liebhaber ein Argument, ins Elsass zu fahren.

Ungestörte Mittelalter-Romantik: Fachwerkfassaden in Colmar. Foto: Werner Häußner

Ungestörte Mittelalter-Romantik: Fachwerkfassaden in Colmar. Foto: Werner Häußner

Colmar bietet Gelegenheit, Künstler zu erleben, die zumindest im deutschen Musikbetrieb nicht ständig und überall herumgereicht werden. Zum Beispiel der Pianist David Bismuth, Schüler der bei uns viel zu wenig bekannten Französinnen Anne Queffélec und Brigitte Engerer. Oder Boris Giltburg, der 2013 den Concours Reine Elisabeth in Brüssel gewann und jetzt einen Exklusivvertrag mit dem Label Naxos geschlossen hat. Oder die Cellisten Edgar Moreau, Alexander Kniazev und Pavel Gomziakov. Solche Begegnungen erweitern den Horizont und lassen Musiker entdecken, die vielleicht im hochgezüchteten internationalen Betrieb – aus welchen Gründen auch immer – nicht mithalten oder mithalten wollen, die aber mit überraschenden individuellen Aspekten in Ausdruck und Klang für sich einnehmen.

In jedem Jahr widmet sich das Colmarer Festival der Würdigung eines herausragenden Musikers. Begonnen hat diese Serie, als 1989 der russischer Geiger und Dirigent Vladimir Spivakov zum künstlerischen Leiter berufen wurde; Glenn Gould war der erste der auf diese Weise Geehrten. Im nächsten Jahr wird die französische Trompeten-Legende Maurice André (1933 – 2012) die geistige Präsidentschaft des Festivals einnehmen. In diesem Jahr stand der Name des großen russischen Dirigenten Evgeny Fjodorowitsch Svetlanov (1928 – 2002) über dem Programm. Er hat das ehemalige Staatliche Sinfonieorchester der UdSSR zu einem führenden Klangkörper entwickelt und mit ihm rund 2000 Einspielungen aufgenommen, war aber auch international rege unterwegs, so mit dem London Symphony Orchestra oder dem Het Residentie Orkest Den Haag.

Bei Warner Classics erhältlich: Evgeny Svetlanovs Mahler-Zyklus. Cover: Warner Classics

Bei Warner Classics erhältlich: Evgeny Svetlanovs Mahler-Zyklus. Cover: Warner Classics

Svetlanovs Liebe zum romantischen russischen Repertoire und zu einem prachtvoll-voluminösen Klangbild spiegelt sich in der Auswahl der in Colmar gespielten Werke: Da reiht Festival-Leiter Spivakov als Dirigent mit seiner Russischen Nationalphilharmonie Tschaikowsky an Rachmaninow, erinnert mit Mahlers Erster an die Verdienste Svetlanovs für die Mahler-Rezeption in Russland – unter anderem mit einer Gesamtaufnahme der Sinfonien. Auch streut er ein belcantoseliges Sängerfest ein, statt seiner Solistin Albina Shagimuratova die Gelegenheit zu geben, dem französisch und deutsch geprägten Publikum ein paar der ungehobenen Schätze der russischen Oper zu entdecken.

Wie es überhaupt – und das ist ein Manko dieser Art von Festivals – mit der Entdeckerfreude nicht immer zum Besten steht: Die beiden Eröffnungskonzerte des Orchestre National du Capitole de Toulouse unter Tugan Sokhiev etwa biederten sich in einer fast schon frivolen Art einem Publikum an, das man hemmungslos in seiner musikkulinarischen Lust bestätigt: Tschaikowskys Violinkonzert, Brahms‘ Zweite, Rimski-Korsakows „Scheherazade“. So mag man leicht Säle füllen, entwickelt aber kein künstlerisches Profil. Der von Svetlanov hoch geschätzte Komponist Nikolai Medtner etwa ist in ein Mittagskonzert mit Elena Filonova verbannt. Die Pianistin spielte Ausschnitte aus seinem Klavierzyklus „Vergessene Weisen“ – ein wohl unfreiwillig bezeichnender Titel.

Immerhin kam Evgeny Svetlanov auch mit einigen seiner Werke zu Wort. Der Dirigent verstand sich in der Tradition Gustav Mahlers nicht als gelegentlich komponierender Kapellmeister, sondern eher als dirigierender Komponist. Aus seinem reichhaltigen Œuvre erklangen in Colmar ein Streichquartett in D-Dur und die Variationen über ein russisches Volkslied für Harfe und Orchester. Bedauerlich ist, dass sich der außergewöhnliche Einsatz Svetlanovs für den Komponisten Nikolai Mjaskowski (1881 – 1950) im Colmarer Festival nicht niederschlug: Vor allem dessen nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Werke mit ihrem französischen Einschlag wären ein spannendes klingendes Dokument der musikalischen Verbindung zwischen den Völkern gewesen.

Vladimir Spivakov dirigierte den Großen Akademischen Chor Moskau in Colmar. Foto: Bernard Fruhinsholz

Vladimir Spivakov dirigierte den Großen Akademischen Chor Moskau in Colmar. Foto: Bernard Fruhinsholz

Für Liebhaber geistlicher Musik hatte das Festival an seinem Abschluss-Wochenende einen Höhepunkt parat: Der Große Akademische Chor Moskau sang Ausschnitte aus Tschaikowskys Liturgie des Heiligen Johannes Chrysostomus und aus Rachmaninows Vesper op. 37. Die Akustik der ehemaligen Jesuitenkirche Saint Pierre, einem schlicht gehaltenen Barockbau, begünstigte den tragenden Klang der prachtvollen Stimmen der Choristen, ließ die verfeinerte Dynamik wirken, die von schwebendem Pianissimo bis zum glanzvollen Forte wie aus einem Guss geführt war.

Der Chor hatte am folgenden Tag beim Finalkonzert einen weiteren beeindruckenden Auftritt in Rachmaninows „Die Glocken“ (op. 35), einer Tondichtung nach Edgar Allan Poe. Die symbolistisch aufgeladenen Bilder des Poems inspirierten Rachmaninow zu einer enormen, die satten Farben des großen Orchesters und des Chores ausbreitenden Komposition. Spivakov zähmte die gewaltigen dynamischen Wellen nicht; er ließ schon die „goldenen Hochzeitsglocken“ der zweiten Strophe so prächtig dröhnen, dass dynamische Entwicklungen nicht mehr möglich waren. Mussorgskys „Großes Tor von Kiew“ ließ grüßen, allerdings in einer pathetisch übersteigerten Monumentalarchitektur, wie sie in ihrer dramatischen Wucht auch dem Interpretationsstil Evgeny Svetlanovs entsprach.

Herrlicher Konzertraum mit überraschend klarer Akustik: Die gotische Hallenkirche St. Matthieu Colmar. Foto: Bernard Fruhinsholz

Herrlicher Konzertraum mit überraschend klarer Akustik: Die gotische Hallenkirche St. Matthieu Colmar. Foto: Bernard Fruhinsholz

Ähnlich erfüllt von Pathos und Bombast kommt Dmitri Schostakowitschs Festouvertüre op. 96 daher. Spivakov enthüllt mit seiner Interpretation den merkwürdig ambivalenten Charakter von Schostakowitschs Musik. Denn die Ironie, die man gerne hineindeutet, wird von solennen Bläserfanfaren weggefegt; auch das spritzige Thema, das ein Kritiker einmal „überschäumend wie eine soeben geöffnete Champagnerflasche“ beschrieben hat, trägt eher Soldatenstiefel als Kinderschuhe. Dabei kommt es aus dem „Kinderalbum“ op. 69 und trägt den Titel „Geburtstag“. Nun ja: Die Ouvertüre sollte zum 30. Jahrestag der Oktoberrevolution im Moskauer Bolschoi-Theater gespielt werden …

In der Neunten Sinfonie, die ein Siegesstück werden sollte, ist die Ironie so weit getrieben, dass sie selbst den nicht gerade auf Subtilitäten eingestellten Ohren der sowjetischen Musik-Offiziellen offensichtlich wurde. Schostakowitsch wurde daraufhin geächtet und schrieb erst nach dem Tode Stalins seine nächste Sinfonie. Dirigent Spivakov trat dem Stück nicht zu nahe, ließ die Russische Nationalphilharmonie ihre ganze Brillanz vorführen und setzte auf die unmittelbare Wirkung der absurd regelhaften fünf Sätze. Eine Offenbachiade mit dem Brokat-Faltenwurf einer Staatsrobe, die man als maliziöse Abrechnung mit den Erwartungen des sozialistischen Realismus und seiner falschen Klassizität lesen kann.

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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