Festspiel-Passagen VII: Spaß am Ungehörten – Francesco Morlacchi in Wildbad wiederentdeckt

Beifall für Morlacchis Oper "Tebaldo e Isolina" in Wildbad. Foto: Elias Glatzle

Beifall für Morlacchis Oper „Tebaldo e Isolina“ in Wildbad. Foto: Elias Glatzle

Der gemeinhinnige Kulturbetrieb setzt auf die Freude am Wiedererkennen: Spielen wir Beethoven, dann kommen die Leut‘. Die Schwergewichte unter den Musikfestivals setzen schon aus Überlebens- und Konkurrenzgründen auf dieses probate Mittel, bemäntelt mir mehr oder weniger geschickten programmatischen Schlagworten oder mit ein paar Nischenkonzerten, in denen man Aufgeschlossenheit demonstriert. Und um Zeitgenossenschaft zu dokumentierten, empfiehlt es sich, Wolfgang Rihm einzuladen, der mit seiner stets freundlichen Ausstrahlung des genießenden Intellektuellen mit schwer genießbarer Musik versöhnt.

Es gibt aber auch ein paar Festivals, die sich diesem probaten Rezept entziehen. Rossini in Wildbad zum Beispiel. Da halten in einem Tal im nördlichen Schwarzwald eine Handvoll idealistischer Freaks um den Intendanten Jochen Schönleber und dem intellektuellen Überbau-Manager Reto Müller einen Komponisten hoch, den der Betrieb sonst meist nur mit komischen Figuren aus Gewerben duldet, die längst ausgestorben sind: Barbiere zum Beispiel – heute auf den Friseur reduziert – oder Küchenhilfen am aschigen Herd.

Frisch renoviert: Das Wildbader Kurtheater. Foto: Marcel Menz

Frisch renoviert: Das Wildbader Kurtheater. Foto: Marcel Menz

Auch „Rossini in Wildbad“ hat seine zeitgenössische Komponente: Adriana Hölszky hatte man eingeladen, und die in Stuttgart lebende Komponistin brachte gleich zwei Uraufführungen mit, gespielt im hübschen, mühe- und kostenträchtig renovierten Kurtheater, einer frisch herausgeputzten Perle gründerzeitlicher Unterhaltungs-Architektur. Aber ansonsten gab es etwa eine „Hommage“ an jemanden, den heute nur noch Eingeweihte kennen: Adolphe Nourrit, führender Tenor der Pariser Oper zur Rossini-Zeit, zwischen 1826 und 1836 der König des hohen „D“.

Zum Profil des Festivals im einstigen königlichen Bad in Württemberg gehört auch, sich vergessenen Komponisten der Rossini-Zeit anzunehmen. In diesem Jahr rückte der Dresdner Hofkapellmeister Francesco Morlacchi ins Blickfeld. Für den 1784 in Perugia geborenen Komponisten kannte die ältere – und bis heute nachwirkende – Musikgeschichte nur verächtliche Urteile: Außerordentlich dürftiger Satz, flache Brillanz, dürftige Homophonie der Instrumentation, lärmende Verwendung der Blechbläser – so ist etwa in „Musik in Geschichte und Gegenwart“, einem wissenschaftlichen Standard-Lexikon, aus dem Jahr 1961 zu lesen.

Morlacchi, lange nur als Dresdner Rivale Carl Maria von Webers rezipiert, ein Fall für’s Archiv? Die Wildbader Aufführung lässt an solchem Urteil zweifeln. „Tebaldo e Isolina“, 1822 für den Star-Kastraten Giovanni Battista Velluti entstanden, im Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführt, für eine Dresdner Aufführung 1825 gründlich überarbeitet und für Mezzosopran umgeschrieben, beweist eindrucksvoll, dass Morlacchi sich unter den „Tonsetzern“ seiner Epoche sehr wohl behaupten kann.

„Tebaldo e Isolina“ variiert einen Romeo-und-Julia-Stoff mit einem glücklichen Ende: Zwei Adelsgeschlechter werden durch einen heimtückischen Mord zu erbitterten Feinden, versöhnen sich aber, als die beiden ursprünglich einander versprochenen Kinder in einem dramatischen Finale um Einsicht, Menschlichkeit und Vergebung flehen. Falsche Identitäten, ein unbekannter Ritter, ein wiedergefundener Sohn und ein zurückkehrender Rächer garantieren Spannung und überraschende Wendungen. Und Schauplätze wie ein alter Friedhof mit einer Kirchenruine und einem schwarzen Ritter könnten einem der Romane Sir Walter Scotts entnommen sein. In diesem italienischen „Melodramma romantico“ sind Donizettis „Lucia di Lammermoor“, aber auch Heinrich Marschners „Der Templer und die Jüdin“ nicht mehr weit.

Der Berliner Musikwissenschaftler Michael Wittmann vermutet in seinem informativen Beitrag im Programmheft, die Harmonien in der Musik könne nur jemand erdacht haben, der den „Freischütz“ kannte. Tatsächlich weckt die farbenreich instrumentierte Musik Morlacchis den Eindruck des „Romantischen“: Schon die Holzbläser der Ouvertüre, die Klarinette in der Einleitung der Cavatina der Isolina, aber auch die Soli des Cello zu Beginn des zweiten Akts und die Hörner in der Einleitung zu Scena und Romanze des Tebaldo lassen auf den ersten Eindruck an Weber denken. Doch in der formalen Anlage seiner Musik nähert sich Morlacchi seinem Dresdner Konkurrenten nicht – und die instrumentale Raffinesse lässt sich mit einem Blick auf die Opern eines Simon Mayr und vor allem eines Gioacchino Rossini schlüssig erklären.

Verknüpfungen zwischen deutscher und
italienischer Opern-Entwicklung

Abwegig ist Wittmanns These dennoch nicht, Morlacchi habe einen späten Versuch unternommen, die auseinander driftenden Entwicklungen in der italienischen und der deutschen Oper noch einmal zusammenzuführen. Manches in „Tebaldo e Isolina“ klingt nach frühem Heinrich Marschner; der Komponist war ab 1824 die italienische Oper in Dresden angestellt und hat den Klavierauszug zu Morlacchis Werk erstellt. So könnten sich durch das Werk überraschende Einsichten in Tradition und Entwicklung der deutschen Oper ergeben. Als Ergebnis bleibt: Die dunklen Schatten der „Titanen“ dieser Epoche – Beethoven, Rossini, Weber – aufzuhellen, bringt Musik zutage, die nicht nur handwerklich oder musikhistorisch aufschlussreich ist. „Tebaldo e Isolina“ befriedigt keineswegs nur Archivare.

Mit der Aufführung in Bad Wildbad hat das Rossini-Festival seine Nische erfolgreich besetzt und ist aus dem Schatten „großer“ Festivals herausgetreten, denen – wie Salzburg in diesem Jahr – etwa zum Strauss-Jubiläum nichts anderes einfällt als ein „Rosenkavalier“. Der musikalische Leiter von „Rossini in Wildbad“, Antonino Fogliani, hat das Händchen für die federnde Rhythmik der Rossini-Anleihen, aber auch die Phrasierungslust und das Gefühl für den atmenden Bogen, die für die Kantilenen und die romantisierenden Harmoniefolgen nötig sind. Dass die Virtuosi Brunenses, das Orchester des Festivals, nicht mehr auf der Höhe der Konzentration waren, ist nach den anstrengenden Aufführungen der Vortage nicht verwunderlich: die Intonation ließ zu wünschen übrig, auch Präzision der Einsätze und Formung des Tons waren schon zuverlässiger.

Zweifelhalftes aus Italien

Deutlich zeichnet sich im diesjährigen Festival ab: Intendant Jochen Schönlebers Weg, sich auf junge, italienisch ausgebildete Sänger zu stützen, geht nur zum Teil auf. Die Gesangsschulen jenseits der Alpen können nicht mehr an die großen Traditionen anknüpfen, die bis in die sechziger Jahre hinein für erstklassigen Sängernachwuchs sorgten.

In Wildbad war zu hören, wie sich technisch unzureichend gebildete, harte und vibratogesättigte Stimmen an anspruchsvollen Aufgaben abarbeiten. Laura Polverelli, kein unbekannter Name in der italienischen Opernszene, tremoliert sich durch die Partie des Tebaldo. Ihr schneidend-metallischer Ton wird im piano flach, für die Kantilenen fehlt ein gleichmäßig gebildeter Klang. Sandra Pastrana, in Spanien ausgebildet, hat mit Geläufigkeit und lyrischer Noblesse keine Probleme, wohl aber auch mit einer harten Tonbildung und angestrengt herausgeschleuderten, dabei überflüssigen hohen Finaltönen.

Anicio Zorzi Giustiniani als Boemondo d‘Altemburgo zählt unter die positiven Eindrücke der Wildbader Aufführungen: ein Tenor mit einer gelösten, abgerundeten Tonbildung, der nur das kehlige Timbre und die zu weit hinten sitzenden Vokale „e“ und „i“ entwickeln müsste. Als Geroldo erfüllt Gheorghe Vlad seine Rolle als Bruder Isolinas in einem kurzen Auftritt zuverlässig; mit Raúl Baglietta als Ermanno di Tromberga – Vater Isolinas und Gegenspieler der Familie d’Altemburgo – wurde man nicht glücklich: Ein flach positionierter Bass mit mühevoll gedrückten Höhen.

Wieder einmal hat „Rossini in Wildbad“ wertvolle Erkundungsarbeit in einem Repertoire geleistet, das nur über solche einfallsreiche Initiativen eine Chance hat, auf aktuelle Relevanz geprüft zu werden. Im Falle von Morlacchis Oper wäre eine szenische Realisierung nur zu begrüßen.

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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