Festspiel-Passagen IX: „Jedermann“ als bilderreiches Mysterienspiel in Salzburg

"Jedermann" in Salzburg 2014: Cornelius Obonya ist die Titelfigur, Brigitte Hobmeier die Buhlschaft. Foto: Monika Forster

„Jedermann“ in Salzburg 2014: Cornelius Obonya ist die Titelfigur, Brigitte Hobmeier die Buhlschaft. Foto: Monika Forster

„Veronica Ferres war besser“, sagt der Mann auf der Holzbank nebenan. Soeben war mit kitschiger Engelsmusik das Sterben des reichen Mannes zu Ende gegangen; die bunte Truppe von Schauspielern hatte ihm mit Händen voll Erde die letzte Ehre erwiesen.

Bedeutend aber scheint nicht die Moral von der Geschicht‘, sondern die Darstellerin der Buhlschaft: Die Vierzig-Sätze-Partie ist Vorzeigerolle gerade populärer Schauspielerinnen, seit 1920 der Berliner Star Johanna Terwin in Max Reinhardts Regie die Rolle auf dem Salzburger Domvorplatz kreiert hat.

Dabei wäre es dem Stück angemessener, auf andere Rollen zu achten. Auf den Tod etwa, den unheimlichen Boten des Endgültigen. Den spielt anno 2014, erhaben und mit lapidarem Grandeur, der dürre, hochgewachsene Peter Lohmeyer mit kantigem Nosferatu-Schädel und nahezu knochenlos: Sein Gewand weht um die Gestalt wie Nebelschleier, und wenn er dem Jedermann sagt, was Sach‘ ist, zieht er mit dem riesigen gebeinfarbenen Tafeltuch samt der metallisch klappernden Trinkgefäße davon, während sich die Gesellschaft furchtsam hinter den Tischen verschanzt. Kennen ihn manche noch aus seiner Anfänger-Zeit am Bochumer Schauspielhaus ab 1984? Als Serebrjakow in Tschechows „Onkel Wanja“ kehrt der gebürtige Westfale am 20. September dorthin zurück.

Peter Lohmeyer, im Herbst am Schauspielhaus Bochum in "Onkel Wanja" zu erleben, spielt in Salzburg den Tod. Foto: Monika Forster

Peter Lohmeyer, im Herbst am Schauspielhaus Bochum in „Onkel Wanja“ zu erleben, spielt in Salzburg den Tod. Foto: Monika Forster

Der Tod und der Glaube – „das ist das Stück“, sagt das Regieteam im Programmheft: Brian Mertes und Julian Crouch haben Hoffmannsthal aus der Zeit gefallene Moritat im vergangenen Jahr neu erarbeitet und Christian Stückls erfolgreiche Version abgelöst. Ein Amerikaner und ein Engländer – die Globalisierung ist im Kerngebiet deutscher Sprechlandschaften angekommen.

Der Tod und der Glaube: Das sind ursprüngliche Wahrheiten, die sie weder einer distanzierenden Überformung noch einer kritischen Relativierung aussetzen wollten. Die sie aber auch nicht im Sinne eines alten Illusions- oder Allegorie-Theaters ausinszenieren, als gäbe es zwischen Hoffmannsthals artifiziellem Mittelalter und heutiger Nachaufklärung keinen kritischen Graben. Und als würde heute jeder fraglos akzeptieren, was der Dichter an christlicher Botschaft in das Stück integriert hat.

Pandämonium des Figurentheaters: Julian Crouchs riesige Puppenköpfe, hier porträtieren sie Max Reinhardt und Hugo von Hoffmannsthal. Foto: Monika Forster

Pandämonium des Figurentheaters: Julian Crouchs riesige Puppenköpfe, hier porträtieren sie Max Reinhardt und Hugo von Hoffmannsthal. Foto: Monika Forster

Doch ohne die nach Moritatenart verknappte Botschaft bliebe eben doch nur ein „aufgeblasenes Spektakel“, ein „deutungs- und ironiefreies Brimborium“, wie Rezensenten im letzten Jahr gallig vermerkten. Mertes und Crouch lassen sich auf die künstliche Zeitreise Hoffmannsthals ein. Sie führen ein farbenfrohes Spektakel vor, machen aber in jedem Moment bewusst, dass sich eine „Aufführung“ ereignet. Sie lassen Olivera Gajic die überbordende Kostüm-Fantasie ausleben, bremsen sie aber wieder ein, wenn Jedermann im Smokinghemd über die Bretter fegt und der „Glaube“ im schlichten dunklen Anzug mit einer zugbrückenähnlichen Maschinerie erhöht wird.

Die Ausrufer mit ihren Cuts und einige Musiker erinnern an Varietés oder Hotelkapellen aus den Zwanzigern. Auch die Miniaturhäuser der Bühne, die an das Mittelalter animierter Märchenfilme denken lassen, distanzieren sich in ihrem Zitat-Charakter von Illusion und Illustration.

Die Fantasie von Julian Crouch prägt die drastische, im Volks- und Straßentheater verortete Symbolik: Eine überlebensgroße Skelettpuppe führt die Prozession der einziehenden Darsteller an. Riesige Köpfe als Schreckgestalten aus Hanswurstiaden, der Mammon als gewaltiger goldener Kopf mit formatfüllendem Maul: Crouchs Puppen zitieren lustvoll das Pandämonium des Figurentheaters. Am Ende zieht die ganze bunte Truppe mitten hinein in die Zuschauer, die Tribüne hinauf.

Der Teufel (Simon Schwarz) und der Glaube (Hans-Peter Hallwachs). Foto: Monika Forster

Der Teufel (Simon Schwarz) und der Glaube (Hans-Peter Hallwachs). Foto: Monika Forster

Der Tod und der Glaube: Cornelius Obonya ist kein fettgefressener Lebenswollüstling. Er zitiert die Regeln des Geldverkehrs so überzeugend als Glaubenssätze, dass sie auch dem armen Nachbar (mit wenig Profil: Johannes Silberschneider) und dem aufbegehrenden Schuldknecht (stark und energisch: Fritz Egger) einsichtig sein müssten.

Jedermann hat ein Einsehen mit der Not dieser Menschen – aber zweifelt keinen Moment daran, dass ihre individuelle Schwachheit, nicht das erbarmungslose System der Zinswirtschaft für ihr Scheitern ursächlich ist. Das Geld wird’s schon richten: Diesen tiefen Glauben bekennt Jedermann sogar noch, als Jürgen Tarrach als großartiger, geldscheißender Zirkusdirektor aus dem Riesenmaul des Goldkopfs steigt und ihm klar macht: Der Reichtum mag zwar zur Verfügung stehen, der eigentliche Herrscher aber ist er, der Mammon. Die Szene, sinnlich-sinnbildhaftes Puppentheater und große Deklamationskunst verbindend, ist ein Höhepunkt dieses Salzburger „Jedermann“.

Zwischen Tanz und Tod brüllt, prahlt und flegelt Obonya, lacht und heult, fleht und greint. Er ist kein so charismatischer Sprachkünstler wie sein Großvater Attila Hörbiger, kein dominierender Darsteller wie die Großen der siebziger und achtziger Jahre, Curd Jürgens, Maximilian Schell oder Klaus Maria Brandauer. Er passt in seiner pragmatischen Alltäglichkeit ins 21. Jahrhundert. Doch er ist ein Jedermann, dem schon vor den Rufen des Todes irgendwie klar wird, dass der überquellenden Orgie des Daseins eine Dimension der Existenz abgeht, die ihm „unwohl“ werden lässt, weil er sie nicht erfassen kann.

Der Tod bestätigt – so gesehen –, was Jedermann bereits unbewusst in sich trägt: Das Wissen um das Wesentliche der Existenz, das der „Glaube“ dann mit einer präzisen Theologie von Buße, Barmherzigkeit und Erlösung umreißt. Hans-Peter Hallwachs, ein Patriarch des Sprechtheaters, kündet sie völlig locker und unaufgeregt von oben, überschüttet den Jedermann dann mit Wasser, das sich unschwer als das Taufwasser der Wiedergeburt deuten lässt.

Brigitte Hobmeier als "Buhlschaft". Foto: Monika Forster

Brigitte Hobmeier als „Buhlschaft“. Foto: Monika Forster

Ach ja, und die Buhlschaft? Brigitte Hobmeier, bis 1999 Studentin der Essener Folkwang Hochschule, erlöst sie aus der Knechtschaft des Vollweibs, brüstet sich nicht mit den Primärreizen des Sexuellen. Sie radelt in den zwischen tiefrot und grellorange changierenden Teufelsfarben (Simon Schwarz, der chancenlose Teufel, trägt sie später auch) fröhlich um ihren Jedermann herum – und man glaubt ihr, dass sie sich mit ihm auf mehr als auf eine lüsterne Beziehung einlassen könnte. Der Tod fegt sie ins Blumenbeet. Jedermann ist allein, im Moment der Entscheidung.

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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