Neue Horizonte im Damals: Botho Strauß‘ autobiographisches Buch „Herkunft“

Das hätte man nicht unbedingt erwartet: dass der hochmögende Zeit- und Zeichendeuter Botho Strauß (Jahrgang 1944) Teile seiner eigenen Lebensgeschichte quasi bis ins Anekdotische auffächert. Doch er greift ja auch weit darüber hinaus.

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Gewiss, es ist beileibe keine literarische Qualitätsaussage, doch ist „Herkunft“ seit langem das zugänglichste Buch von Strauß, wunderbar frei von etwaigen Verstiegenheiten. Vor allem aber ist es – auf gerade mal 96 Seiten – ungemein verdichtet: Man möchte Absatz um Absatz aus dieser Fülle zitieren.

Es schwant einem schon, wie Germanisten und Rezensenten ab sofort seinem neuen Text „Herkunft“ biographische Details entnehmen und dieselben auf seine erzählende Prosa, auf Essays und Theaterstücke beziehen werden. Tatsächlich dürfte es da etliche Verbindungslinien geben. Doch ach, wer wollte da deutelnd zu Werke gehen, wenn schon dem Autor selbst die eigene Vergangenheit auch ein Mysterium ist?

Ausgangspunkt ist Strauß’ anwachsendes Empfinden, die eigene Herkunft und besonders sein Vater hätten ihn weitaus mehr geprägt als ehedem gedacht. Sehnsüchtig gedenkt er der starken, führenden Hand, die ihm der Vater gereicht hat. Und also erinnert sich Botho Strauß streckenweise geradezu liebevoll an die Lebenswelt seiner Kindheit (mit ihren „bergenden Zeremonien“) und frühen Jugend.

Der schon im Ersten Weltkrieg verwundete Vater entwickelte, vorwiegend in Heimarbeit, neue Medikamente für die Pharma-Industrie. Er hielt sehr auf äußere Korrektheit, offenbar war ihm eine abweisend stolze Eleganz eigen, die sich auch sprachlich verwirklicht haben muss. Larifari gab es da nicht.

Man denkt dabei an den Schriftsteller Botho Strauß, der sich seit Jahrzehnten konsequent dem Literaturbetrieb und der medialen Aufregung zu entziehen sucht. Sein Vater muss wohl etwas entschieden Vorbildhaftes gehabt haben; einer, zu dem ein Sohn aufschauen konnte. Umso tiefer und anrührender erscheinen dann in den verschiedenen Lebensphasen die freudigen Momente: das erste eigene Fahrrad; die Erkenntnis, dass der gestrenge Vater einen Text von Brecht gelten ließ…

Nach der Übersiedlung aus Naumburg/Thüringen lebte die Familie in Remscheid und dann ab 1954 in Bad Ems an der Lahn (nicht weit von Koblenz), wo früher einmal Wagner, Dostojewski und Chopin Erholung in der Sommerfrische suchten. Hernach aber war es auch so ein westdeutscher Provinzort, wie sie immer wieder in der neueren und neuesten deutschen Literatur aufscheinen, zumal in den Ausprägungen der Nachkriegszeit – ob nun bei Peter Kurzeck, Andreas Maier oder auch Gerhard Henschel und Klaus Modick. Mitunter will es scheinen, als seien solche Orte literarisch mindestens ebenso ergiebig wie diese oder jene Metropole.

Natürlich bleibt es nicht bei all den anschaulichen Einzelheiten und Begebenheiten aus den 50er und frühen 60er Jahren. Strauß bemerkt, wie mit dem eigenen Altern das „Damals“ überhaupt immer gewichtiger wird, wie etwa jene Nachkriegsstrenge auf Dauer einen festeren Boden des Daseins abgebe, als jede neue geistige „Landnahme“. Wer sich dem „Einstweh“ ergibt, könne sogar ungeahntes Neuland erblicken. Zitat: „Die Erweiterung eines Horizonts besteht nicht selten darin, daß sich einem das Gewesene öffnet.“

Als es gilt, die elterliche Wohnung für immer aufzulösen, kommt es zu einem solchen Vergangenheitsschub: Bestürzend nahe rückt dem Sohn das Damalige, welches das Ureigene enthält – wie letztlich in jedem Lebenslauf. Zunehmend zeigen sich jene sich jene „zeugenden Bilder, die Stammzellen sind eines bestimmten Sehens, Empfindens, Begreifens.“

Restlos „aufklären“ und verstehen lassen sich diese Bilder allerdings nicht, so dass Strauß befindet, man müsse ohnehin über bloßes Wissen und schnöde Klugheit hinaus gelangen, sich hingegen lieber einmal vom Damals überwältigen lassen – eine Denkfigur, die auch sonst innig zur Straußschen Sphäre gehört. Man ahnt allenthalben, wie sehr er sich mit diesem Buch auf seinem Pfad bewegt.

Zugleich erweist sich der Blick in die eigene Vergangenheit als befreiende Möglichkeit, sich noch einmal so unschuldig und altklug zu fühlen wie einst. Es war eine Zeit vor den Enttäuschungen, vor allem nachträglichen und ach so billigen „Besserwissen“…

Botho Strauß: „Herkunft“. Hanser Verlag. 96 Seiten. 14,90 Euro.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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