Er ist der Menschheit müde – Dortmunder „Elektra“ endet im Weltschmerz des Tyrannen

Elektra

Von rechts: Elektra (Caroline Hanke) sowie Bettina Lieder und Merle Wasmuth als Chor der Landmädchen. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Schon Minuten, bevor das Licht im Saal erlischt, kann man auf der Bühne einer jungen Frau bei ihren Turnübungen zusehen. Verbissen trimmt sie ihren Körper mit Liegestützen, stemmt, dehnt und streckt sich und wirkt dabei mit ihrer Arbeitshose und den groben Schuhen wie eine Gefangene in ihrer Zelle, die sich fit macht für bessere Zeiten „draußen“. Die Frau ist Elektra, das Stück „nach Euripides“, das an diesem Abend im Dortmunder Schauspielhaus gegeben wird, heißt wie sie, und eine Wartende ist sie auch.

Elektra, zwangsverheiratet und verbannt, wartet auf ihren Bruder Orest. Die zugrundeliegende Story – Sophokles, Aischylos und Euripides haben sie in der Antike erzählt, eine Heerschar von Autoren der Neuzeit hat sie nacherzählt – kreist um das Geschwisterpaar Elektra und Orest aus dem Geschlecht der Atriden, das Rache nehmen will an der ungetreuen Mutter Klytaimnestra, die den Vater ermorden ließ und seinen Mörder heiratete.

Elektra ist voller Rachsucht, doch als schwache Frau auf männliche Hilfe ihres Bruders Orest angewiesen. Orest hinwiederum ist reichlich unentschlossen. Doch die Rachemorde geschehen, und es wird nicht alles gut. Generationen von Pennälern und/oder Theatergängern durften sich bei Befassung mit diesem Stoff unter anderem fragen, ob offensichtliches, schweres Unrecht den Mord, in Sonderheit an eigener Verwandtschaft, rechtfertigen kann oder nicht.

Elektra

Orest ist wieder da! Elektras Umgebung in wüsten Freudentänzen (Foto: Theater Dortmund: Edi Szekely)

Der Text für Paolo Magellis Inszenierung stammt vom Dortmunder Dramaturgen Alexander Kerlin, umgangssprachlich kurz gehalten und gut verständlich und zumal dann, wenn der aus Bettina Lieder und Merle Wasmuth bestehende Zwei-Frauen-Chor seinen Senf dazugibt, oft auch ausgesprochen lustig.

Sparsam mit Elektra (Caroline Hanke), Klytaimnestra (Friederike Tiefenbacher) Orest (Peer Oscar Musinowski) Pylades (Carlos Lobo) und einem recht frei gestalteten „Henker/Bauer“ (Frank Genser) besetzt, ist dieses Stück eigentlich ein Kammerspiel, und es läßt sich auch so an, transportiert das ungeheuerliche Geschehen von einst und jetzt in manierlichen Dialogen.

Das heißt nicht, daß die Darstellerriege bewegungsarm auf der Bühne herumstünde und deklamierte; nein, Sportlichkeit wird den Mimen hier bis zur Schmerzgrenze abverlangt, wenn beispielsweise Peer Oscar Musinowski als Orest sich glückselig auf ein Feld von Bühnenschotter werfen und es gleich Dagobert Duck seine Geldspeicherschätze durchkraulen muß. Die griechische Heimaterde, die hier gemeint sein könnte und die dem Rückkehrer heilig ist, ist in der Dortmunder Bühnenwirklichkeit steinig und schmerzhaft.

Elektra

Auf spitzem Schotter ist das Knien schmerzhaft. Elektra (Caroline Hanke) in existentiellen Nöten (Foto: Theater Dortmund/Edi Szekely)

Wenn Elektras Entourage bei Orests Rückkehr ausflippt und säuft und tanzt bis zur Besinnungslosigkeit, wenn aus dem übermutigen Treiben ein bedrohlicher Veitstanz wird und die fröhlich in die Runde geworfenen Haß- und Schmähnamen für Königin und König sich andererseits zu einer Art Kindernachmittagsunterhaltung verselbständigen, dann wohnt all dem geradezu unübersehbar der Keim des Scheiterns inne. Und inszenatorischen Kunstgriffe wie diese wirken, wenn auch nicht eben erforderlich, so doch sinnhaft und intensivierend.

Gleichwohl ertappt man sich selbst in Betrachtung dieser Szenen bei der Vorstellung, alles in einer völlig schmucklosen, tunlichst schwarzen Kulisse ablaufen zu lassen, ohne jede Ablenkung, als in höchstem Maß konzentriertes, den Konflikt in den Mittelpunkt stellendes Sprechtheater. Dieser Wunsch bleibt unerfüllt, im Gegenteil: Um das Deutliche noch deutlicher zu machen, wird eine Live-Band unter Leitung von Paul Wallfisch aufgeboten, und über eine Leinwand über dem Bühnengeschehen laufen Videos (Mario Simon), die unter anderem Landschaften und Szenen aus glücklicheren Tagen des Atriden-Geschlechts zeigen.

Die Musiker machen ihre Sache fraglos sehr gut, Wallfischs Soundtrack ist einfühlsam und kongenial, passagenweise unerwartet leise und zart. Die ebenfalls zu preisenden Videos verharren oft in Betrachtungen karger Naturschönheit, zeigen Gräser und Landschaften, die indes eher im Revier als in Hellas gefunden worden sein dürften. Nur fragt sich, wo der Sinn von so viel erzählerischer Verdichtung liegen soll. Musikalisches und visuelles Zusatzangebot konkurrieren mit dem traditionellen Bühnenspiel um des Zuschauers Aufmerksamkeitsgunst, ohne daß der eine Weitung des Erfahrenen erführe. Kürzer gesagt: Weniger wäre mehr.

Elektra

Carlos Lobo als tyrannischer Pylades (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Die letzten gefühlt zwanzig Minuten dieses anderthalbstündigen Theaterabends gehören Orest-Begleiter Pylades, der dem ganzen ehrpusseligen Rache-Gemöhre der alten Griechen ein brutales Ende macht, indem er sich – wie er das schafft, bleibt etwas rätselhaft – zum blutrünstigen Tyrannen aufschwingt, der die anderen mit martialischen Kommandos traktiert und schließlich mit einem letzten Befehl Grabesruhe anordnet.

Offenbar mit grenzenloser Macht ausgestattet, denkt Pylades darüber nach, hundert, zweihundert Millionen Menschen zu ermorden. Ob er es aber tut, bleibt unklar. Vor allem nämlich ist er des menschlichen Machtgeschiebes, ja der Menschheit schlechthin, müde, läßt nur die Majestät der Natur und des Weltalls für sich gelten. Seine Suada ist lang, und man ist froh, wenn sie ihr Ende findet – obwohl Carlos Lobo immerhin die Synchronstimme von Javier Bardem ist.

Pylades’ Überdruß mag verstanden werden als Reaktion auf das ewige Rachenehmen und Vergelten, das die Menschheitsgeschichte bis heute prägt, unendliches Leid brachte und bringt. Statt sich den Kopf zu zerbrechen, wie man aus so einer vertrackten Elektra-und-Orest-Nummer rauskommt, könnte man es doch einfach auch ganz lassen. Einfach aufwachen. Einfach einen dicken Strich ziehen. Oder alles auslöschen. Das, in etwa, scheint die frustrierte Schlußbotschaft des berserkerhaften Herrn Pylades zu sein.

Mit dem honetten Kammerspiel ist es an diesem Abend also nichts geworden. Das Publikum aber zeigte sich begeistert.

Termine: 13.2., 28.2., 1.3., 12.3., 15.4, 24.4., 3.5.2015

http://www.theaterdo.de/detail/event/elektra/