Philosophische Suche nach dem Sinn

Bochum. Der Bochumer Gregor Nottebom hat eine ganz besondere „Ich-AG“ gegründet. Der studierte Philosoph versucht Menschen bei der Sinnsuche zu helfen – im direkten Gespräch, telefonisch oder auch via e-Mail und Internet. Gegen Gebühr, versteht sich. Ein Gespräch mit ihm über sein wahrhaft weitläufiges Arbeitsfeld.

Frage: Suchen die Leute das ganze Jahr über bei Ihnen Rat?

Gregor Nottebom: Hochsaison ist jetzt, um Weihnachten herum. Es ist tatsächlich so, wie man es sich vorstellt. Wenn zu Weihnachten viele mal etwas mehr Zeit haben, kommen auch manche Konflikte ans Licht. Und die Sinnfrage stellt sich stets in Konflikt-Situationen.

Wie grenzen Sie sich mit Ihren Ratschlägen vom Psychologen ab?

Nottebom: Meine Klienten sind in der Regel nicht krank oder ernsthaft gestört. Falls doch, dann empfehle ich ihnen eine Psychotherapie. Bei mir geht es eher um Kommunikations-Probleme, die mit dem Verstand bewältigt werden können. Da muss man nicht gleich unmittelbar über sein Problem sprechen, sondern kann „durch die Hintertür“ kommen. Wenn es sich nicht um Hobby-Philosophen handelt, die einfach mal fachsimpeln wollen, kommt man dann aber doch sehr schnell auf eine persönliche Ebene.

Wie vermitteln Sie mit der Philosophie Lebenssinn?

Nottebom: Es ist nicht so, dass jemand mich auffordert: Verraten Sie mir mal den Sinn des Lebens – und ich sage es ihm dann in ein paar Sätzen. Letztlich muss sich jeder seine Antworten selbst erarbeiten. Dabei können philosophische Anstöße helfen. Deswegen gebe ich auch Literatur-Hinweise – und wir sprechen dann über die Texte. An manchen philosophischen Zitaten kann man sich ja richtig schön abarbeiten. Einmal war eine krebskranke Frau bei mir, die noch dazu im Beruf gemobbt wurde. Mit ihr habe ich Schriften zum Thema „Stigmatisierung“ besprochen. Das alles hat gar nichts mit Esoterik oder Gesundbeten zu tun, sondern damit, dass man trainiert, die richtigen Fragen zu stellen.

Um welche Probleme geht es denn meistens?

Nottebom: Na, die ganze Bandbreite. Konflikte im Job. Stress mit Schule und Erziehung. Glaubensfragen. Im Vordergrund stehen aber Partnerschaftsprobleme. Fremdgehen ist ein häufiges Thema.

Etwa nach dem Motto: Welcher berühmte Philosoph kann mich beim Fremdgehen gedanklich unterstützen?

Nottebom: Ja, auch das kommt vor. Kennzeichen der wahren Philosophen ist es, nicht schon im Voraus moralische Gebote oder Verbote auszusprechen. Aber natürlich wird man in einem solchen Fall nicht nur nüchtern erwägen: Was nützt mir das Fremdgehen? Man wird wohl auch moralische Fragen anschneiden müssen. Es sitzen oft Paare oder auch Eltern mit halbwüchsigen Kindern bei mir, streiten sich oder schweigen sich an. Dann moderiere ich. Die Philosophie hilft, solche Konflikte auf eine sachliche, rationale Ebene zu bringen. Hinzu kommen Grundregeln der Kommunikation: keine Vorhaltungen, keine Verallgemeinerungen wie „Du hast ja immer schon…“ Erst wenn das geklärt ist, kann man sich der Sinnfrage nähern.

Sie könnten zum Beispiel mit Karl Marx vorgehen, aber auch mit Kant oder Nietzsche. Wie entscheidet sich, in welche Richtung die Gespräche laufen?

Nottebom: Ich gebe keine Richtung vor. Es liegt immer an der speziellen, persönlichen Fragestellung. Allerdings habe mich am meisten mit Hegel befasst. Mit seinem dialektischen Denken in Widersprüchen kann man sehr weit kommen: Der Sinn, den man für sich gefunden hat, gilt ja nicht für immer und ewig. Er kann sich ins Gegenteil verkehren. Man kann bei Hegel lernen, mit solchen Widersprüchen umzugehen. Auch bei Wertkonflikten sind philosophische Ansätze hilfreich, etwa um zu klären: Was ist mir wichtiger, die Familie oder der Beruf? Daraus lassen sich Entscheidungen über den Lebensweg ableiten.

Sehen Sie einen Sinn des Lebens, der für alle Menschen gilt?

Nottebom: Der besteht darin, dass wir ihn alle suchen. Die Suche nach dem Sinn ist eigentlich schon der Sinn. Die ständige Bereitschaft zur Sinnsuche ist schon der größte Schritt. Dabei ist es letztlich zweitrangig, ob man einen philosophischen, religiösen oder auch astrologischen Weg beschreitet. Feststehende Antworten gibt es ohnehin nicht. Wenn man versucht, den Sinn festzuhalten, ist das ein Zeichen dafür, dass man schon wieder dabei ist, ihn zu verlieren…

Also gibt es niemals eine “Ankunft“?

Nottebom: Ich glaube: Nein! Was heute für mich richtig ist, kann morgen falsch sein. Aber man muss sich nicht treiben lassen, sondern sollte bewusste Entscheidungen anstreben. Auch Nicht-Entscheiden oder Nicht-Handeln ist eine Möglichkeit. Wichtig ist dabei die Selbsterkenntnis. Die drei uralten philosophischen Kernfragen lauten ja ganz lebenspraktisch: Wer bin ich? Was will ich? Was kann ich tun? Darauf lässt sich jede Entscheidung im Leben gründen: Will ich mich trennen? Wechsle ich den Beruf? Ziehe ich in eine andere Gegend?

Apropos: Ist das westfälische Ruhrgebiet ein guter Standort für eine „philosophische Praxis“?

Nottebom: Es geht so. Generell scheint es im Süden besser zu laufen. Allein in Heidelberg gibt es mehrere Praxen dieser Art. Je weiter man nach Norden kommt, umso schlechter. Vielleicht hat es etwas mit Katholiken und Protestanten zu tun.

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INFO

Die philosphische (Lebens)-Beratung hat sich um 1982 zuerst in Deutschland etabliert. Inzwischen floriert sie auch in Ländern wie den USA, Kanada, Holland, Norwegen und Israel.
Berater wie Gregor Nottebom haben sich zusammengeschlossen in der Internationalen Gesellschaft Philosophischer Praxis e. V. (IGPP). Es gibt regelmäßige Tagungen. Im April 2006 wird man sich im spanischen Sevilla treffem, im Oktober 2006 in Berlin.
Weitere Informationen über Gregor Notteboms „Philosophische Praxis“ in Bochum: http://www.sinnsuchen.de
Konkurrenz belebt auch die philosophische Szene: Auf der Internet-Seite http://www.pro-phil.de stehen viele weitere philosophische Praxen in ganz Deutschland. Die Stadt mit den meisten Adressen ist übrigens München.

(Der Beitrag hat in leicht verkürzter Form am 24. Dezember 2005 in der „Westfälischen Rundschau“, Dortmund, gestanden).

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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