Ohne Wachstum und gewaltfrei leben: „Das konvivialistische Manifest“

Eine neue Zeit der Manifeste scheint gekommen. Nach Stéphane Hessels manifestartigem Pamphlet „Empört Euch!“ und dem „Akzelerationistischen Manifest“ erschien im September 2014 in deutscher Übersetzung „Das konvivialistische Manifest“, das inzwischen mehr als 2.500 Unterzeichner gefunden hat.

Seit Ivan Illichs Veröffentlichung von „Tools of Conviviality“ (dt.: „Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik“, 1975) ist Konvivialität im politisch/soziologischen Diskurs – mehr noch im anglo- und frankophonen Bereich als in Deutschland – ein fester Begriff. Ein Jahr vor Illichs Erstpublikation des Buchs in den USA (1973) war der Bericht für den Club of Rome, „Die Grenzen des Wachstums“, erschienen, der seitdem in mehreren Neuauflagen aktualisiert worden ist, dessen Einschätzungen und implizite Warnungen bis heute jedoch nichts an Dringlichkeit eingebüßt haben.

Cover Konvivialistisches Manifest

Ausgehend von einem Kolloquium in Tokio im Jahr 2010 veröffentlichten 64 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlichster politischer und religiöser Überzeugungen unter dem kollektiven Autorennamen „Les Convivialistes“ das konvivialistische Manifest, das die wesentlichen globalen Herausforderungen benennt und Chancen aufzeigt, wie ein gewaltfreies Zusammenleben unter gleichzeitiger Schonung der Ressourcen unseres Planeten möglich sein könnte.

Der Markt dringt in jeden Winkel vor

Konstatiert wird, was nicht zu übersehen ist, ein Vordringen ökonomischen Denkens in Bereiche, die noch bis in die 1970er-Jahre weitgehend frei von marktwirtschaftlichen Ansprüchen waren. „Benchmarking und ständiges reporting werden nun zu den Grundwerkzeugen des lean management und der Verwaltung durch Stress.“ (S. 55) Veränderungen im Gesundheitswesen, Hochschulranking, Stadtmarketing, effizienteres Kulturmanagement – jedem Leser und jeder Leserin wird zu diesen Stichworten eine Vielzahl von Beispielen einfallen. Das Manifest begnügt sich zusammenfassend mit dem Hinweis auf ein „Neomanagement“, das nicht nur in den Wirtschaftsunternehmen ausartet, sondern auch den öffentlichen Sektor erfasst, bis der Markt auch den letzten noch unterkapitalisierten Winkel unserer Freizeit besetzt hat.

„Es gibt keine erwiesene Korrelation zwischen monetärem oder materiellem Reichtum einerseits und Glück oder Wohlergehen andererseits“, schreiben die Autor(inn)en (S. 68). Statt einer Verkürzung der Arbeitszeit durch technischen Fortschritt, wie sie John Maynard Keynes um 1930 voraussagte, erhöht die Automatisierung den Arbeitsdruck. Psychische Defekte wie Depression und Burnout gehen mit diesen Entwicklungen einher.

Die Standard-Wirtschaftswissenschaft gelte es in ihre Schranken zu verweisen. Von den Autoren des Manifests ist es vor allem der Ökonom Serge Latouche, der in den letzten Jahren mit Überlegungen zu einer möglichen Wachstumsrücknahme an die Öffentlichkeit getreten ist. „Degrowth“ im Englischen, bzw. „décroissance“ als das französische Äquivalent und, da der Glaube an Wachstum als eine Quasi-Religion angesehen werden kann, spricht Latouche analog zum Atheismus, auch von „acroissance“.

Selbstverständlich müssen für die weit und die weniger weit entwickelten Länder unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden, will man die nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage stets beteuerten Politikerfloskeln, die Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge verbessern zu müssen, beim Wort nehmen und einen wirtschaftlichen Ausgleich anstreben.

Die Maßlosigkeit bekämpfen

„Das Niveau des weltweit universalierbaren materiellen Wohlstands entspricht annähernd demjenigen der reichsten Länder um das Jahr 1970, vorausgesetzt, man erreicht es mit den heutigen Produktionstechniken.“ (S. 67) Das würde nicht nur Selbstbegrenzung in den Industrienationen erfordern, sondern eine Neudefinition der Ziele. Vom wirtschaftlichen Wachstum ist nicht nur keine Rettung zu erwarten; es führt geradewegs in den Untergang. Einfacher Wohlstand, der mit einem Konzept vom „guten Leben“ einhergeht, wird von den Konvivialisten anvisiert. Dazu müssen die der Zocker-Mentalität der Spekulanten eigene, zerstörerische Maßlosigkeit und die Auswüchse der Finanzwirtschaft bekämpft werden. Die Autor(inn)en setzen sich nicht nur für ein Mindesteinkommen, sondern auch für ein Höchsteinkommen ein.

Alternative Formen von Ökonomie sieht Alain Caillé, einer der maßgeblichen Initiatoren des konvivialistischen Manifests, in der „Schenkökonomie“, wie der französische Soziologe/Ethnologe Marcel Mauss sie in seiner Schrift „Die Gabe“ unter anderem am Beispiel des indianischen Potlatsch und des melanesischen Kula beschreibt.

Sicherlich ließen sich einem modernen Mitteleuropäer oder Nordamerikaner archaische Vorstellungen von der Beseeltheit und dem Eigenwillen von Dingen, etwa Geschenken, oder die unter Drohung von Ehr- und Gesichtsverlust unbedingte Verpflichtung des Beschenkten zur Gegengabe schlecht vermitteln und taugen kaum als Modelle zur Rettung der Welt. Doch lesen sich manche Gedanken aus dem 1925 veröffentlichten Werk erstaunlich aktuell. „Und wir müssen ein Mittel finden, um die Einkünfte aus Spekulationen und Wucher einzuschränken. Nichtsdestoweniger muss das Individuum arbeiten. Es muss veranlasst werden, mehr auf sich selbst zu bauen als auf andere. Andererseits muss es sowohl seine Gruppeninteressen wie seine persönlichen Interessen verteidigen. Allzuviel Großzügigkeit und Kommunismus wäre ihm und der Gesellschaft ebenso abträglich wie Selbstsucht unserer Zeitgenossen und der Individualismus unserer Gesetze“, schreibt Marcel Mauss.

Aufwertung des Unentgeltlichen

Die Verfasser(innen) des Manifests weisen in diesem Zusammenhang auf zahlreiche bereits praktizierte unentgeltliche Aktivitäten hin – Fair Trade, Open-source-Projekte, Ehrenämter, Non-Profit-Organisationen, digitale Netze als Gemeineigentum oder das Konzept einer „Weltzivilgesellschaft“. Das sind keine neuen Erfindungen, doch scheint in einer durchökonomisierten Welt das Bedürfnis gestiegen, auf den unentgeltlichen Dienst am Mitmenschen besonders hinzuweisen.

Der homo oeconomicus, wie die Wirtschaft ihn sich vorstellt, kenne nur „äußerliche Motivationen“ – Streben nach Gewinn und hierarchischem Aufstieg. In diesem System, folgern die Autorinnen und Autoren, wird sich jegliche intrinsische Motivation – Arbeit, die ihren Wert in sich selbst hat, Freude an gutem Handwerk, Drang nach sinnvoller Betätigung, Handlungen aus Solidarität oder aus Pflichtgefühl – zurückentwickeln.

Was kann man machen? Ulrike Herrmann, Wirtschaftskorrespondentin der taz und Autorin des Buchs „Der Sieg des Kapitals“ (2013), sagte in einem im Gespräch in der Reihe „Essay und Diskurs“ im Deutschlandfunk am 19.04.2015: „Wenn man sehr massiv in dieses System [des Kapitalismus‘] eingreift, wäre der einzige Effekt, dass es wirklich einbricht. Und das wäre ein chaotischer Prozess, den man sich auch nicht friedlich vorstellen darf. Da wären Verluste zu verkraften, und an Sicherheit, dass die Leute alle panisch würden.“

Was der Ritus vermag

Die Gefahr sehen auch die Autor(inn)en des konvivialistischen Manifests. „Die schwierigste Aufgabe, die dazu erfüllt werden muss, besteht darin, ein Bündel politischer, wirtschaftlicher und sozialer Maßnahmen vorzuschlagen, die es der größtmöglichen Zahl von Menschen ermöglichen, zu ermessen, was sie bei einer neuen konvivialistischen Ausgangssituation (einem New Deal) nicht nur mittel- oder langfristig, sondern sofort zu gewinnen haben. Schon morgen.“ (S. 74)

In seinem 1962 erschienenen Werk „Das wilde Denken“ erläutert Claude Lévi-Strauss, dessen ethnologische Arbeiten Marcel Mauss viel verdanken, den Unterschied zwischen Spiel (mit Wettkampfcharakter) und Ritus. Das Spiel gehe von einer prästabilen Ordnung aus und schaffe in seinem Verlauf Ungleichheit. Der Ritus dagegen habe eine Ausgangslage der Asymmetrie – profan und sakral, Gläubige und Priester, Tote und Lebendige, Initiierte und Nicht-Initiierte – und möchte alle Beteiligten auf die Gewinnerseite bringen, so Lévi-Strauss. Er nennt das Beispiel einer Ethnie in Papua-Neuguinea, die das Fußballspielen gelernt hat, „die aber mehrere Tage hintereinander so viele Partien spielen, wie nötig sind, damit sich die von jedem Lager verlorenen und gewonnenen genau ausgleichen.“ Den Wettkampf funktionieren sie zu einem Ritus um. Die großen Wirtschaftskonzerne werden sich diese ehrenwerte Haltung sicher nicht zum Vorbild nehmen. Die Hoffnung lastet auf den Zivilgesellschaften.

Les Convivialistes: „Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens“. Herausgegeben von Frank Adloff und Claus Leggewie in Zusammenarbeit mit dem Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research Duisburg, übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer; [transcript] Verlag, Bielefeld, 2014; 09/2014, 78 Seiten, kart.; 7,99 Euro; kostenloser Download über http://www.transcript-verlag.de

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Diese Besprechung wurde in ähnlicher Form ebenfalls im Hotlistblog veröffentlicht: https://derhotlistblog.wordpress.com/2015/06/26/affirmatives-vom-firwitz-2/

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Über Wolfgang Cziesla

lebt als Schriftsteller in Essen.
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