Diese hilflosen Menschen – Jan Costin Wagners Kurzgeschichtenband „Sonnenspiegelung“

SonnenspiegelungEin Flugzeug, das plötzlich vom Radar verschwindet und die Daheimgebliebenen ratlos zurücklässt. Der plötzliche Herztod eines glücklichen Familienvaters, der Frau und Kinder paralysiert zurücklässt. Verwaiste Kinder, verwaiste Eltern, eine Tochter auf Rachefeldzug, ein Ehemann kurz vor dem Amoklauf. In seiner ersten Anthologie „Sonnenspiegelung“ zeigt Jan Costin Wagner Menschen in Extremsituationen.

Acht ganz unterschiedliche Geschichten, so unterschiedlich wie das Leben selbst und der Tonfall, in dem sie geschrieben sind, nehmen den Leser mit in Abgründe, die er – vielleicht – kennt, sich aber ungern eingesteht.

Es sind sorgfältig komponierte Geschichten, in denen Wagner mit wenigen Worten dichte Szenarien zu erschaffen vermag. Dialoge sind selten und wenn, dann sehr knapp gehalten, was die Hilflosigkeit, die Ohnmacht der Protagonisten nur umso eindringlicher vermittelt.

Der Autor beschreibt den Alltag, die Situationen und auch die Gefühle der Menschen distanziert, aber seine Position ist die eines mitfühlenden Beobachters, der weiß, dass er nicht eingreifen kann, nicht eingreifen darf. Aktuelle Geschehnisse wie die des verschwundenen Flugzeugs oder die Finanzkrise bilden allenfalls einen Hintergrund, eine Wertung dieser Umstände jedoch wird nicht gegeben. Erzählt wird ohne Pathos und Larmoyanz von den kleinen, oft so unbeachtet bleibenden Schicksalen hinter den Katastrophen; von Menschen, die um sich und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen kämpfen (müssen).

Mal besteht die Erzählung aus vielen kurzen Absätzen, die jeweils eine kurze Sequenz aus der Sicht eines Beteiligten erzählen, mal sind es nur wenige Seiten, die aus der Sicht nur eines Beteiligten berichten, aber dennoch alle Seiten beleuchten. Immer aber erschließt sich der Zusammenhang erst ganz zum Schluß einer Erzählung, manchmal ergibt auch erst der letzte Satz das gesamte Puzzle.

Besonders beeindruckende Kaleidoskope gelingen dabei in der Titelgeschichte „Sonnenspiegelung“, in der sich weniger die Sonne denn das schlechte Gewissen eines Familienvaters spiegelt, der durch einen unerklärlichen Stalker so aus der Fassung gebracht wird, dass er für die aufkommende diffuse Beunruhigung einen hohen Preis bezahlt.

Ein anderes Mal – in der kurzen Geschichte „An einem anderen Ort“ gerät die Pointe jedoch zu effektheischend und hinterlässt ein äußerst schales Gefühl. Warum es diese Geschichte, die eher eine kurze Studie ist, unbedingt gebraucht hat, erschließt sich im Gesamtzusammenhang der ansonsten sehr berührenden, teils verstörenden Erzählungen nicht.

Allen Erzählungen gemein ist, dass sie Momentaufnahmen sind, keine in sich geschlossenen Geschichten. Die entscheidende Handlung hat vorher begonnen, man kann sie sich nur aus dem Zusammenhang erschließen. Ein geschicktes Stilmittel, mit dem der Autor sich jederzeit die ungeteilte Aufmerksamkeit des neugierigen Lesers sichert. Auch ein richtiges Ende gibt es nie. Insofern könnte man auch jede der acht Erzählungen als Studie bezeichnen.

Es sind wohl auch weniger die Geschichten an sich, die Wagner interessieren. Womit er sich beschäftigt, sind die Reaktionen, die Gefühle der Menschen in Ausnahmesituationen, die für unverrückbar gehaltene Grenzen verschieben. Wie gehen sie mit ihrer Angst um, mit der Angst vor Verlust, oft auch der Angst vor Kontrollverlust? Der Erzähler beobachtet die Menschen bei ihrem verzweifelten, manchmal vergeblichen Versuch, Kontrolle zurückzugewinnen und zeigt so die Fragilität und Gefährdung unserer Existenz.

„Sonnenspiegelung“ ist ein Buch, welches einen länger begleitet. Es ist unmöglich, die Geschichten hintereinander weg zu lesen. Jede der acht Erzählungen steht für sich und berührt auf eine andere Weise. Jede Geschichte wirkt lange nach und man muss sie eine Weile mit sich nehmen, bevor man bereit für eine neue ist.

Jan Costin Wagner wurde bekannt mit in Finnland spielenden Kriminalromanen um den melancholischen Kommissar Kimmo Joentaa, die bereits in 14 Sprachen übersetzt wurden. „Sonnenspiegelung“ ist sein erster Kurzgeschichten-Band.

Jan Costin Wagner: „Sonnenspiegelung“. Verlag Galiani Berlin, 192 Seiten, € 18,99.

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