Soziale Miniaturen (11): Einkaufserlebnis

Der kleine Dortmunder Supermarkt hat seit einiger Zeit jeden Abend bis 22 Uhr geöffnet und so seinen Einzugsbereich erweitert. Ab 19 Uhr ändert sich rasch die Struktur der Kundschaft, besonders ausgeprägt freitags und samstags. Wer früher vielleicht „anne Bude“ ging oder zur Tanke fuhr, um späten Saufstoff zu holen, taucht nun schon mal hier auf. Es ist ja auch billiger. Obwohl das wiederum vielen egal ist.

Hinzu kommen traurige Gestalten von einiger Art, die hier tatsächlich so etwas wie ein „Einkaufserlebnis“ suchen – auf äußerster Schwundstufe. Am Tage trauen sie sich kaum noch heraus. Dies hier gehört zu ihren letzten Verbindungslinien zur „Normalität“, die dem Namen jedoch Hohn spricht. Aber wenn diese Fäden auch noch gekappt werden…

Manche von denen, die erbärmlich wenig Geld haben, gehen unsanft damit um, als hätten sie Unmengen davon: Da werden 50-Euro-Scheine so verächtlich aufs Warenlaufband geworfen, als sei es nichts. Wer derart wenig besitzt, der hasst die „Kohle“ und zeigt es.

Wie grell manche ihre unwiderrufliche Hoffnungslosigkeit und Hinfälligkeit sehen lassen. Wie sie auf nichts mehr halten, weder auf sich noch auf andere.

Zwischendurch dröhnende Streits wie aus den übelsten Reality-Soaps im Privatfernsehen. Einige reißen das Maul beim geringsten Anlass gleich weit auf. Man hat es ihnen vorgemacht.

Diese Verwahrlosung, nicht selten aggressiv gewendet, oft aber auch nur noch das schutzlos blanke Elend. Diese umfassende Achtlosigkeit. Diese rundum ausstrahlende Rücksichtslosigkeit.

Nach 21 Uhr ist hier kaum noch jemand nüchtern.

Nun ziehen hin und wieder junge Horden hindurch und bedienen sich freihändig in den Regalen. Dosen aufreißen, gleich austrinken, leer zurückstellen oder auf dem Boden zertreten – und raus aus dem Laden… Das Personal, vielfach Hilfskräfte auf Abruf, wagt es nicht, sich entgegenzustellen. Für die paar Kröten etwas riskieren? Den breitbeinig gebellten Satz „Hast du ein Problem damit?“ möchten sie lieber nicht hören. Geschweige denn erleben, was dann vielleicht folgt.

Kampfbereite Gratis-Mentalität also. Es gehen öfter mal Flaschen zu Bruch. Man kann sich beinahe vorstellen, wie das ist, wenn nach Katastrophen marodiert und geplündert wird.

Nachdem kürzlich bei laufendem Abendbetrieb Schaufensterscheiben zersplittert sind, hat der Supermarkt-Konzern reagiert und postiert jetzt einzelne Security-Kräfte am Eingang. „Damit Sie in Ruhe einkaufen können“, versichert einer von ihnen leutselig. Er kann auch anders.

Und wie geht es weiter?

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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4 Antworten zu Soziale Miniaturen (11): Einkaufserlebnis

  1. scherl sagt:

    schwer was los bei euch, hab ich nicht mal in kassel so erlebt.

    Der erste Absatz beschert mir mal wieder nen schönen Verleser

  2. Ingo sagt:

    „Da werden 50-Euro-Scheine so verächtlich aufs Warenlaufband geworfen, als sei es nichts. Wer derart wenig besitzt, der hasst die “Kohle” und zeigt es.“

    Ja, genauso erlebe ich es des öfteren- wie stets präzise beobachtet und berührend festgehalten. Danke!

  3. Rudi Bernhardt sagt:

    Hallo lieber Bernd, was Du da in den Miniaturen jedesmal kenntlich machst, ist sehr mitnehmend, eingreifend, ja berührend. Danke für die Einblicke, ich mag nicht sagen, „gefällt mir sehr gut“, weil eigentlich gefällt mir meist nicht das, worüber Du schreibst, aber es gefällt mir, wie Du da tust, Gruß Rudi.

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