„Beschädigtes“ Mädchen: „Ewige Jugend“ – Donna Leons 25. Brunetti-Krimi

„Weh´ mir! Grausamer Gott, / Warum ließest du mich nicht sterben / Im Wasser, warum wurde ich errettet?“ In seiner Oper „Radamisto“ hat Georg Friedrich Händel die verzweifelte Todessehnsucht eines aus den Fluten geretteten Menschen in allerschönste Noten verwandelt. Ein Fingerzeig für die US-amerikanische Autorin Donna Leon, die ihre kriminalistischen Streifzüge durch ihre Wahlheimat Venedig gern mit einem aus der Opern-Literatur geborgten Motto beginnt und damit die Richtung vorgibt, in die sich ihr Commissario Brunetti bei der Lösung seines jeweiligen Falles bewegen wird.

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Aus dem Wasser gerettet, und doch mehr tot als lebendig, so steht es um Manuela, einst ein kluges und bildschönes 15jähriges Mädchen, heute ein 30jähriges Kleinkind. Denn bei dem Sturz in einen venezianischen Kanal war sie so lange im Wasser und hat sich so schwere Verletzungen zugezogen, dass in ihrem längst erwachsenen Körper die geistigen und emotionalen Fähigkeiten eines kleinen Kindes wohnen.

Ihre alte und sterbenskranke Großmutter, Contessa Lando-Continui, mag sich bis heute nicht damit abfinden und will, bevor sie das Zeitliche segnet, unbedingt Klarheit darüber erlangen, was damals wirklich geschah, ob es nur ein Unfall oder vielleicht ein Mordanschlag war. Für die Contessa ist Manuela seitdem, und sie mag das Wort kaum aussprechen, ein „beschädigtes“ Mädchen.

Und wer könnte besser Licht in die dunklen Geheimnisse der Vergangenheit bringen als Commissario Brunetti? Ist er doch nicht nur jemand, der aktuelle mafiöse Machenschaften aufdeckt, sondern auch ein Faible für die Fallstricke der Geschichte hat. Denn so wie die Autorin Liebhaberin des Barock und ausgewiesene Kennerin von Händels Musik ist, wandelt eben auch ihr Commissario bisweilen auf klassischen intellektuellen Pfaden, besucht die Oper in Venedig, La Fenice, oder schmökert in den Werken der griechischen und römischen Klassiker. Das macht er natürlich auch diesmal, bei der Lösung seines 25. Falles, in einem Roman, dem Donna Leon den Titel „Ewige Jugend“ gegeben hat.

Immer das gleiche, kaum variierte Spiel

Euripides und dessen „Medea“ liegen gerade auf Brunettis Nachttisch. Aber ob und was das Drama um die von ihrem Gatten betrogene und von ihrer Heimat entwurzelte Fremde mit dem Schicksal von Manuela zu tun hat, sollte jeder Leser selbst herausfinden. Das gehört schließlich zum literarischen Spiel, das Donna Leon nur allzu gern in Gang setzt, um den Ausflügen in mörderische menschliche Abgründe einen ironischen intellektuellen Überbau zu geben.

Zum irgendwie immer gleichen, nur leicht variierten Spiel gehört auch, dass Brunetti zu Hause mit Gattin Paola bei köstlichem Essen und gutem Wein über die Verrücktheiten der Moderne diskutiert und sich über die touristische Verwüstung der Lagunenstadt erregt. Klar ist auch, dass sein Vorgesetzter, Vice-Questore Patta, dem Commissario Steine in den Weg legt. Und dass Computerspezialistin Signorina Elettra aus den Untiefen des Internets wichtige Informationen empor zieht.

Neu ist aber, dass Brunettis Kollegin, Claudia Griffoni, jetzt eine so dominierende Rolle spielt. Inspektor Vianello dagegen läuft diesmal nur am Rande mit. Aber um das Vertrauen von Manuela zu erlangen, braucht es halt keinen kauzigen Kerl, sondern eine einfühlsame Frau. Zumal eine, die, wie einst Manuela, einen Hang zu Pferden hat und weiß, wie man hoch zu Ross sitzend auf die schnöde Welt herunter blicken kann. Denn genau das ist die Welt: schnöde, banal und hundsgemein.

Manuelas Retter, der sie aus dem Wasser zog, ist ein schwerer Säufer, will sein Wissen mit Geld veredeln und unterschreibt damit sein eigenes Todesurteil. Und der Mann, der Manuela „beschädigte“ und jetzt zum Mörder wird… Ach nein, dass wollen wir lieber nicht verraten.

Fazit: Auch dieser Fall ist als Krimi nicht besonders aufregend, aber unterhaltsam und literarisch filigran in Szene gesetzt.

Donna Leon: „Ewige Jugend. Commissario Brunettis fünfundzwanzigster Fall.“ Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Diogenes, Zürich 2016, 324 S., 24 Euro.

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Fakten über die Autorin:
Donna Leon, geboren 1942 in Montclair/New Jersey, lebt seit 1981 in Venedig. Bevor sie Erfolgsautorin wurde, arbeitete sie als Reiseleiterin, Werbetexterin und Lehrerin, lebte in der Schweiz, im Iran, in China und in Saudi-Arabien.
Ihren ersten Brunetti-Roman veröffentlichte sie 1992 („Venezianisches Finale“), seitdem ist jeder neue Venedig-Krimi ein internationaler Bestseller.
Weil Donna Leon ein normales Leben in Venedig führen möchte, erscheinen ihre Romane nicht in der Sprache ihrer Wahlheimat Italien. Donna Leon ist Liebhaberin klassischer Musik, weiß alles über Georg Friedrich Händel und unterstützt zwei musikalische Barock-Ensembles. Fast alle Brunetti-Krimis laufen als TV-Verfilmungen im deutschen Fernsehen.

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