„Kein Wunder“ – ein enttäuschender Roman von Frank Goosen

Sommer 1989: Nichts ist mehr so, wie es mal war und doch hat sich (noch) nicht allzu viel verändert. Die Schulfreunde Förster und Brocki studieren vor sich hin, gehen altvertraute Wege, besuchen altvertraute Kneipen und wagen sich nur zaghaft an Neues. Weniger aus Angst vor dem Unbekannten als aus einem diffusen „Ist doch alles ganz nett so“-Gefühl heraus.

Ganz anders ihr alter Kumpel Fränge. Der hat immerhin einen kleinen Aufbruch gewagt. Nach Berlin hat er sich aufgemacht, angeblich vor der Einberufung „geflüchtet“. In Wahrheit wurde er ganz unprosaisch ausgemustert, aber auch sonst strickt er gerne an seiner eigenen Mär eines coolen und aufregenden Lebens. Fränge ernennt sich zum Weltenwanderer der Liebe, im Westen der geteilten Stadt unterhält er eine Beziehung zu Marta, im Osten zu Rosa.

Den ungleich größeren Aufbruch im Osten bekommt er dennoch lange nur am Rande mit. Erst als die Mauer durchlässig und seine Jonglage schwieriger wird, realisiert Fränge, dass er eigentlich mittendrin statt nur dabei war. Selbst die schwer auf sich konzentrierten Förster und Brocki bekommen bei ihrem Berlin-Besuch mehr von der Ost-Berliner Dissidenten-Szene mit.

Förster? Brocki? Fränge? War da nicht mal was? Die kennen wir doch? Richtig, die drei Spezialisten turnten schon mehr oder weniger unbedarft durch Goosens (nicht besten) Roman „Förster, mein Förster“. Da waren sie 30 Jahre älter, wenn auch nicht unbedingt weiser als in Frank Goosens neuem Roman „Kein Wunder“.

Praktisch für den Autor: keine Arbeit mit neuen Figuren

Praktisch für den Leser, da braucht er sich nicht schon wieder an neue Figuren zu gewöhnen. Noch praktischer für den Autor, braucht er doch keine neuen Figuren zu entwickeln. Noch praktischer für den Autor, in der Zeit zurückzugehen, hat man nicht soviel Arbeit mit der Weiterentwicklung von Charakteren. Führt unpraktischerweise nur leider beim Leser schnell zu Langeweile. Wieder von denselben Befindlichkeiten im einmal geschaffenen Mikrokosmos zu lesen, hat etwas zutiefst Ermüdendes. Vor allem, wenn man weiß, dass sie dreißig Jahre später immer noch nicht so viel weiter sind.

Die Werke des Bochumer Schriftstellers und Kabarettisten Frank Goosen werden gerne als eine Art Chronik des Ruhrgebiets u n d der Babyboomer-Generation verstanden. Möglicherweise fiel Goosen auf, dass in dieser Chronik die Zeit des Mauerfalls fehlte, möglicherweise war ihm die Zeit der Post-Pubertät mit seinem ersten Roman „liegen lernen“ noch nicht genügend abgearbeitet – was auch immer sein Motiv war, klar wird es nicht in „Kein Wunder“.

Sonst reicht es bei Goosen, wenn er wie sein Protagonist Förster agiert: „Zuschauen. Und sich alles merken. Und irgendwann aufschreiben“. Diesmal ganz und gar nicht. Es ist ohnehin selten eine gute Idee, wenn Menschen mittleren Alters sich am Coming of Age versuchen.

Wo ist die lockere Art von früher geblieben?

Goosen ist weit weg von seinem Mittzwanziger-Ich. Mehr als ein paar extrem bemühte Kratzer an der Oberfläche schafft das Buch nicht. Scheinbare Mühelosigkeit war sonst immer ein Markenzeichen des Autors. Ein Blick in das locker runtergeschriebene Nachwort reicht, um die Diskrepanz zwischen bisherigen Goosenschen Texten und der bemühten Krampfigkeit von „Kein Wunder“ zu erkennen.

Nicht einmal für einen nennenswerten Wiedererkennungswert reicht es. Beschreibt er einen reviertypischen Arbeiterhaushalt, sieht man sofort die Ekel-Alfred Kulisse vor sich, der frankophile Akademiker-Haushalt ist auch nicht mehr als eine platte Karikatur. Und die Befindlichkeiten der Freunde? Sorry, aber so oberflächlich waren die wenigsten in den 80ern. Dieses hingeschnodderte „Krupp/Thyssen – war da nicht mal was?“ – ein Armutszeugnis. Hat wirklich keiner in Bochum etwas von den Demos in Duisburg auf der Brücke der Solidarität mitbekommen?

Als die Ruhris nach Berlin aufbrachen

Genauso die Szenen aus der Nacht des Mauerfalls. Was will uns der Autor damit sagen? Neue Wege im Osten, neue Böden im Westen? Betroffenheit kommt erst auf, als Förster merkt, dass aus seinem Filmprojekt über den Niedergang des Ruhrgebiets nichts mehr wird. Die intellektuelle Avantgarde hat sich bereits vom Revieracker gemacht in Richtung Berlin.

Sollte es Goosen darum gegangen sein, die Chronik der Babyboomer um die Zeit des Mauerfalls zu vervollständigen, kann man nur sagen: das hat Sven Regener bereits deutlich berührender erledigt. Sollte es Goosen darum gegangen sein, den Stellenwert des Ruhrgebiets zu heben und den Hype um Berlin zu relativieren, dann sei ihm gesagt: Wissen wir schon. Ein alter Hut. Frag‘ er seine Omma: „Woanders ist eben auch Scheisse“.

So bleibt nach Lektüre der einzige Erkenntnisgewinn, dass die Aussage „reisen nach dem Ausland sind ….“ grammatikalisch falsch war. Prima, dass endlich einer darauf hinweist.

Frank Goosen: „Kein Wunder“. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 352 Seiten, €20,00




„Mit jedem Jahr“ – Simon Van Booy erzählt die Geschichte einer unwahrscheinlichen Adoption

Das Mädchen Harvey lebt das typische unbeschwerte Leben eines amerikanischen Mittelstandskindes. Doch im zarten Alter von sechs Jahren wird ihre Welt plötzlich auf den Kopf gestellt. Ihre Eltern kommen bei einem Autounfall ums Leben und sie bleibt nicht nur mittellos, sondern auch ohne nähere Angehörige zurück.

Sie kommt in verschiedene Heime und Pflegeheime, ihre einzige richtige Bezugsperson ist die einfühlsame, unkonventionell agierende Sozialarbeiterin Wanda. Ihr vertraut sie das Geheimnis des verstorbenen Vaters an: Irgendwo lebt noch ein Onkel Harveys, der ältere Bruder des Vaters. Ihre Familie sprach nie offen über ihn, weil ihre Mutter ihn als Bedrohung empfand. Aber ihr Vater hat ihr erzählt, wie gut dieser Onkel Jason ihn und seinen kleinen Hund vor den gewalttätigen Großeltern beschützt hat.

Wanda folgt einer Ahnung und macht diesen Onkel ausfindig. Jason lebt nach einer Knast-Vergangenheit ein einsames Leben und ist zudem körperlich eingeschränkt nach einer harten Schlägerei. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er mit einer kleinen Rente und dem Verkauf von Trödel übers Internet. Seine schwelende Wut auf die Ungerechtigkeit des Lebens hält er nur sehr mühsam unter Kontrolle.

Auf ein Leben mit einem traumatisierten Kind ist Jason so unvorbereitet, wie man nur sein kann. Doch Wanda vertraut auf seine weichere Seite, seinen Beschützerinstinkt und setzt durch, dass Jason Harveys gesetzlicher Vormund wird. Sie ist sich sicher, dass jeder die letzte Chance des anderen sein kann. Und „mit jedem Jahr“, das ins Land geht, wird sie mehr recht behalten.

Simon Van Booys bewegender Roman über eine ganz und gar unwahrscheinliche Adoption entfaltet sich auf zwei Zeitebenen. Die erste beginnt mit dem sechsjährigen Mädchen, auf der zweiten begegnen wir einer erwachsenen Harvey. Seit ihrem 26. Geburtstag lebt und arbeitet sie in Paris. Als wir ihr dort begegnen, bereitet sie gerade Jasons ersten Besuch bei ihr vor. Der Vatertag, den sie immer besonders gefeiert haben, steht vor der Tür und Harvey plant eine Reihe von Überraschungen für ihren Ziehvater. Sie hat eine ganze Kiste voller Geschenke für ihn, für jeden Tag seines Besuchs eins. Jedes ist eine besondere Reminiszens an ein Ereignis ihrer Kindheit.

„Mit jedem Jahr“ bringt Simon Van Booy nicht nur die Gegensätze zwischen dem verwaisten Mädchen Harvey und dem unruhigen Jason zusammen, sondern er schafft auch das Kunststück, eine bewegte Kindheit in zarten, ruhigen Nuancen zu erzählen. Ganz zurückhaltend entfaltet sich langsam die Botschaft des Buches: Wie es ein Leben verändern kann, wenn man für einen anderen da ist und wie es einen selbst verändern kann.

So ist der Roman bei weitem nicht nur eine weitere klassische Coming-of-Age-Geschichte, sondern es ist auch die Geschichte eines Mannes, der gegen seine Dämonen und Schuldgefühle kämpft und den Mut findet, sich auf ein Leben mit Verantwortung einzulassen. Er ist dafür über seinen Schatten gesprungen, nicht widerwillig, aber voller Ängste und ohne rechtes Zutrauen in sich selbst. Getragen wurde er von tiefem Mitgefühl, welches irgendwann zur Liebe wurde. Schließlich ist es die junge Harvey, die ihn erlöst. So kindlich, wie sie ist, so sehr hat sie doch ein Gespür für Jasons Qualen und Verwundbarkeit. Sie verhilft ihm zu einer überraschenden Absolution.

Der vielseitige und preisgekrönte britische Schriftsteller Simon Van Booy, der zurzeit mit seiner Familie in New York lebt, gibt beiden Charakteren eigene unverwechselbare Stimmen. Kurze, knackige Sätze, minimale Interpunktion kennzeichnen Jasons lakonischen Charakter, Harvey hingegen erzählt eher poetisch.

Der Autor begleitet beide Figuren mit viel Empathie, er weiß um ihre Schwächen und Fehler, aber er begegnet ihnen gnädig und gibt ihnen stets eine Chance. Es hätte eine kitschige Geschichte werden können, aber er schafft es, sentimentale Klippen zu umschiffen. Nicht zuletzt durch die allgegegenwärtige Bedrohung von Jasons lange nur mühsam unterdrückter Aggressivität.

Das letzte Geschenk aus Harveys Kiste enthüllt ein Familiengeheimnis, auf welches Harvey ganz zufällig gestoßen ist. Leider wirkt genau dieses arg konstruiert und zu sehr darum bemüht, den Kreis sich schließen zu lassen. Simon Van Booy hätte diese Effekthascherei nicht nötig gehabt.

Simon Van Booy: „Mit jedem Jahr“. Roman. Insel Verlag, 307 Seiten, €22,00




Unschuldig auf 8 m² im Knast – leider ein mäßiges Krimidebüt

Zu Unrecht eines Doppelmordes verdächtigt! Unschuldig in Untersuchungshaft! Hört sich an wie der Stoff, aus dem Albträume sind oder aus denen man einen spannenden Krimi stricken könnte.

Das fand offenbar auch die Ratingerin Candida Schlüter und wob aus diesen Zutaten ihren Debütroman „8 m²“. Genau so groß ist die Zelle, in der die Ärztin Hannah Corvin ihre Untersuchungshaft in der JVA Düsseldorf absitzt.

Hannah Corvin soll ihren Ex-Verlobten und ihre beste Freundin aus Eifersucht umgebracht haben, dummerweise aber erinnert sie sich an so gut wie gar nichts. Im Gefängnis hat sie kaum Möglichkeiten, nachzuforschen und ihre Unschuld zu beweisen. Ohnehin braucht sie fast ihre gesamte Kraft, um mit der für sie völlig verstörenden Welt hinter Gittern zurecht zu kommen.

Autorin absolvierte sechs Wochen Praktikum im Gefängnis

Candida Schlüter interessierte sich schon während ihres Jurastudiums für Kriminalpsychologie. Der Klappentext suggeriert mit der Mitteilung „Während ihrer Tätigkeit in der JVA Düsseldorf lernte sie den Gefängnisalltag kennen„, dass der Roman uns Insider-Ansichten aus dem Alltag der dort Beschäftigten offenbaren wird.

Mit „Tätigkeit in der JVA Düsseldorf“ ist hier allerdings umschrieben, dass es sich gerade mal um ein sechswöchiges Studienpraktikum handelt. Natürlich kann man auch dabei Einsichten und tiefe Eindrücke gewinnen, die man gerne weitergeben möchte, dennoch bestätigt diese geschickte Umschreibung den Gesamteindruck des Werkes: Es wird viel versprochen, viel angerissen, doch die Substanz dahinter ist dürftig.

Die Einblicke aus dem Gefängnisalltag sind weniger beklemmend als erwartet. Ja, alles ist grau, die Fenster sind vergittert, die Matratzen dürftig, die Hygiene nicht so dolle, Mithäftlinge aggressiv, JVA-Beamte eher desinteressiert, doch wirklich Neues erfährt man nicht.

Juristische Merkwürdigkeiten nur angetippt

Spannung speist sich dürftig aus juristischen Übertretungen – so wird Frau Doktor vor Haftantritt nicht einmal dem Haftrichter vorgeführt und kommt auch in den ganz normalen Vollzug und nicht in eine Untersuchungshaftanstalt, wo man sie aus verhältnismäßig nichtigem Grunde in einer Einzelzelle fixiert. Der sich daraus ergeben könnende Skandal wird allerdings nicht weiter thematisiert – vielleicht hatte die Autorin Bedenken.

Bedenklich sind diese Schilderungen allerdings. Aus zwei Möglichkeiten heraus. Möglichkeit eins: Wenn solche Szenen und juristische Unterlassungen sich wirklich so darstellen, ist die Bedenklichkeit selbsterklärend. Sollten sie allerdings der Phantasie der Autorin entspringen und unter künstlerische Freiheit fallen, ist die suggerierte Insider-Position noch fragwürdiger und trägt nicht dazu bei, das ohnehin schon geringer werdende Vertrauen in den Rechtsstaat zu stärken.

Aufklärung an den Haaren herbeigezogen

Zurück zum Krimi, denn das sind die 8 m² ja auch noch. Der zugrunde liegende Kriminalfall birgt allerdings wenig Überraschungen. Der oder die große Unbekannte wird erst zur Mitte unvermittelt eingeführt und trotz kruder Gedankengänge von Mr. oder Mrs. X hat man nicht den Hauch einer Idee zum Motiv oder sonstigem Bezug zur Frau Doktor oder den Getöteten. Der Plot wird dann auch ziemlich unambitioniert aufgeklärt, dem Motiv gönnt die Autorin genau einen Satz – wahrscheinlich besser so, denn eine derart an den Haaren herbeigezogene Aufklärung hat man selten gelesen.

Ebenso wie das Motiv des Plots bleibt auch das Motiv der Autorin im Ungefähren. Wollte sie einen Krimi schreiben oder wollte sie eine Rahmenhandlung für das Thema Gefängnisalltag? Dann wäre vielleicht ein Buch im Stil einer Doku-Soap die deutlich bessere Wahl gewesen. Oder wollte sie einen kriminalpsychologischen Thriller schreiben, der mit den Ängsten der Leser spielt? Das allerdings würde nur gelingen, wenn man sich als Leser(in) mit der Hauptfigur identifizieren könnte. Doch da Frau Doktor genau wie die anderen handelnden Personen allenfalls holzschnittartig daherkommt, fehlt jedweder Anknüpfungspunkt für Empathie.

Dabei hätte die Geschichte der Hannah Corvin (ihr tiefer Fall von der Tochter aus gutem Hause zur Gefängnisinsassin) so einiges hergegeben. Doch auch das wird verschenkt. Sehr schade.

Candida Schlüter: „8 m²“. Grafit-Verlag, Dortmund, 268 Seiten, €9,99




Alejandro Zambras Erzählband „Ferngespräch“ – chilenische Geschichten vom Scheitern

„Nachts arbeitete ich als Telefonist, einer der besten Jobs, die ich je hatte….. Das Gehalt war nicht berauschend, aber auch kein Hungerlohn, der Arbeitsplatz wenig einladend ….. doch fror ich nicht im Winter und schwitzte nicht im Sommer.“

So wie dieser Telefonist in der titelgebenden Kurzgeschichte „Ferngespräch“ sind die meisten Protagonisten in Alejandro Zambras Geschichtensammlung. Sie arrangieren sich. Irgendwie. Mit ihrem Beruf, der selten Berufung ist, mit ihren Lebensumständen, mit der Familie, mit der Liebe.

Kindheit und Jugend unter dem Diktator Pinochet

In 11 Geschichten erzählt der chilenische Autor von Kindheit und Jugend im seinem Land unter dem Diktator Pinochet. Er erzählt von ersten Lieben, halbherzigen politischen Engagements, von der Schwierigkeit, mit dem Rauchen aufzuhören, einem Taxi-Überfall und einem Housesitter, der seine neue Aufgabe, die für ihn ein neuer Anfang hätte sein sollen, mit Grandezza vermasselt.

In der Originalfassung ist das Buch überschrieben mit „mi documentos“ und so darf man schlußfolgern, dass es Geschichten aus eigenem Erleben sind. Nicht alle autobiographisch, einige vermutlich auch aus dem engeren Umfeld adaptiert.

Alejandro Zambra ist ein über die Grenzen Chiles hinaus bekannter und verehrter Autor und Lyriker, der für seinen Debütroman „Bonsai“ den chilenischen Kritikerpreis entgegennehmen durfte. Das Thema dieses Romans ist das Aufwachsen in der Diktatur Pinochets – und genau mit diesem Thema eröffnet er auch seinen Geschichtenreigen. Die Erzählungen hängen nicht alle zusammen, aber im gesamten Zeitenbogen, der irgendwo zwischen Erinnerung und Gegenwart siedelt, ist „Ferngespräch“ doch schon fast wie ein Roman zu lesen. Der gemeinsame Nenner sind die Ängste seiner Generation.

Kein Ausweg aus der Vergangenheit

Zambras Charaktere sind alle von der Angst getrieben, im eigenen Land niemals wirklich glücklich werden zu können. Ihre Krux ist das Verharren in der Vergangenheit. Unterschwellig ist das ganze Buch durchzogen von einer leisen Kritik Zambras an seinen Landsleuten, die alle noch die Vergangenheit zu bewohnen scheinen und nicht wissen, wie sie sich von ihr lösen sollen, um in die Zukunft gehen zu können.

In ihrem Inneren sind Zambras Charaktere rebellisch und planen den Ausbruch aus ihren engen Leben, aber sie scheitern. Mit Anlauf. So kann man die Geschichten aus ihrem chilenischen Kontext lösen und sie auch als generell gültige Geschichten über das Scheitern lesen. Geschichten über Menschen, die an ihrer Vergangenheit scheitern, an ihrem eigenen Unvermögen und dem eigenen Anspruch.

Zurückhaltender Stil ohne überflüssige Worte

Bei lateinamerikanischer Literatur denkt man schnell an den überbordenden, ausschweifenden magischen Realismus des Gabriel Garcia Marquez und seiner mal mehr, mal weniger begabten Zeitgenossen. Zambra hingegen formuliert zunächst sehr vorsichtig. Er erzählt präzise, aber nicht detailversessen. Kein Wort ist zuviel, leiser Humor schimmert durch, immer begleitet von Melancholie. Seinen Charakteren begegnet er nicht durchgehend mit Zuneigung, aber immer mit Verständnis. Ganz selten kommt auch Wut zum Vorschein, aber immer Wut auf die Verhältnisse, nie auf die Menschen.

Nach fünf Geschichten ändert sich aber der Ton der Erzählungen. Nun nutzt er für zwei Geschichten abstrus schräge Themen eher experimentell, was leider verunglückt und überambitioniert wirkt. Im vierten und letzten Kapitel aber bedient er sich für die letzten vier Geschichten eines nahezu lyrischen Stils und ist damit authentischer und glaubhafter als in allen vorhergehenden Geschichten.

Nun wagt er sich an die ganz schweren Themen und beendet seine Anthologie mit einer Erzählung über einen Kindesmissbrauch, gewagt gekleidet in eine Gedächtnisübung. Doch dieses Experiment gelingt, selten hat man eine Geschichte über dieses verstörende Thema so berührend, so persönlich, so tief gelesen. Dieses Thema so lyrisch und leise zu erzählen, das ist hohe literarische Kunst und lässt die zwei, drei verunglückten Experimente vergessen.

Alejandro Zambra: „Ferngespräch“. Stories. Suhrkamp Verlag, 237 Seiten, €22,00.




Das leuchtende Tier aus der Genfabrik – Martin Suters märchenhafter Roman „Elefant“

Seien wir ehrlich! Ist es nicht mal Zeit für ein Märchen? Sehnen wir uns nicht alle danach? Nach so einem richtigen, beglückenden, trostspendenden Märchen?

Martin Suter, der Schweizer Erfolgsautor, der seine Leserschaft sonst eher mit psychologisch tiefgehenden Thrillern beschäftigt, hat uns mit seinem neuen Roman „Elefant“ dieses ersehnte Märchen geschenkt.

„Elefant“ heißt eine im Wortsinn zauberhafte Geschichte um einen klitzekleinen rosa Elefanten, der im Dunkeln anmutig leuchtet. Das Geschöpf jongliert mit Holzscheiten statt Baumstämmen und wäre sicher der Renner schlechthin im Spielwarengeschäft.

Doch es ist nicht die Spielwarenindustrie, die eine märchenhafte Tamagotchi-Variante lanciert, der rosa Elefant ist ein lebendes Produkt geldgieriger Gen-Manipulateure. Forscher ohne Gewissen, aber mit Allmachtsphantasien arbeiten an der Entstehung von „glowing animals“ (leuchtende Tiere) und missachten dabei alle Grundlagen des Tierschutzes.

Der Leser lernt den fabelhaften rosa Elefanten gemeinsam mit dem Obdachlosen Schoch kennen, der das Tier eines Tages in seiner Züricher Wohnhöhle entdeckt. Nachdem Schoch für sich geklärt hat, dass es sich bei dem rosa Elefanten nicht um ein Produkt seiner alkoholbedingt wirren Träume handelt, beschließt er, sich um das hilfsbedürftige Wesen zu kümmern. Er kontaktiert er eine Tierärztin, die für die Tiere der Obdachlosen aus Idealismus die Gassenklinik gegründet hat. Mit ihrer Hilfe schafft Schoch es, den Elefanten aufzupäppeln (und natürlich andersrum, sonst wäre es ja kein Märchen).

Was sie erst langsam herausfinden: Mit geeigneter Nahrung ist es nicht getan, um das Überleben des kleinen Elefanten zu sichern. Ihnen sind die Schöpfer des Genmaterials auf den Fersen. Sie wollen den Elefanten wieder in ihren Besitz bringen und schrecken dabei vor nichts zurück. Weiter gibt es noch einen Zirkusdirektor, der ebenfalls an Elefanten interessiert ist. In seinem Zirkus ist der kleine Elefant zur Welt gekommen, der Zirkusdirektor vermietet seine Elefantenkühe als Leihmütter und sichert so den Fortbestand des kleinen Familienbetriebs.

Auf der Seite der Guten stehen noch der Zirkus-Tierarzt und der Burmese Kaung, ein begnadeter Elefantenflüsterer. Zu guter Letzt schaffen sie es mit allerhand Raffinessen, das Märchen zu einem versöhnlichen, wenn auch nicht restlos glücklichen Ende zu bringen.

Martin Suter hat den Ruf, seine Romane penibel zu recherchieren. Ihn ließ die Erklärung eines Wissenschaftlers nicht mehr los, es wäre heutzutage gentechnisch kein Problem mehr, einen rosa Elefanten zu schaffen. Insofern hat der Roman einen belastbaren Hintergrund, ebenso sind auch die Verhaltensweisen von Elefanten und das schweizerische Trebermilieu penibel recherchiert.

Vor diesem Hintergrund schildert Suter ein schutzbedürftiges Wesen mit Hingabe und schafft es, ein vieldiskutiertes Thema wie die Genmanipulation in einer leuchtenden Fabel zu veranschaulichen.

Martin Suter: „Elefant“. Roman. Diogenes Verlag, Zürich. 348 Seiten, €24,00




„Die Abbieger“ – Thomas Schweres hat den Ruhrgebiets-Krimi zur Stauschau geschrieben

„Und nun die Stauschau. Wir melden alles ab 7 Kilometern“. Keine Seltenheit, diese Ansage. Als Autofahrer ist man da schon dankbar, wenn man auf der A 2 im Stau steht. Muss man sich nicht die ganzen (trotz der Beschränkung auf 7 km immer noch epischen) Verkehrsnachrichten anhören. Kein Geheimnis, dass dies schon fast der Normalzustand auf den Straßen des Ruhrgebiets ist. Bringt wohl so ziemlich jeden Autofahrer an den Rand des Nervenzusammenbruchs.

Klaus-Werner Lippermann, der Anti-Held in Thomas Schweres‘ neuem Krimi „Die Abbieger“, kann es nicht mehr ertragen. Alles war so schön in seinem Leben. Mama Elfriede wusch zuverlässig seine weißen Socken und sorgte auch sonst im gemeinsam bewohnten Zechenhaus für Ordnung. Den Feierabend verbrachte er im Schrebergarten mit den preisgekrönten Kaninchen Molly und Whitey und solange man ihn dort in Ruhe ließ, ließ er auch die anderen in Ruhe.

Ein Kaninchenmörder geht um

Ihm doch egal, wieso Familie Yüksel soviel Strom für ihr Gewächshaus braucht, dass sie dort Tag und Nacht in die Pedale der aufgestellten Trimmräder treten. Umweltfreundlich ist diese Stromerzeugung ja und der Rest ging ihn auch nichts an. Nur diese dauernden Staus auf der A 40, die er nach Verlagerung seines Arbeitsplatzes in Kauf nehmen muss – unzumutbar ist das. Wieviel Lebenszeit diese unfähige Behörde Strassen.NRW ihm raubt!

Doch dann ändert sich alles. Ein Kaninchenmörder geht um, auch Molly und Whitey fallen ihm zum Opfer. Klausi sieht keinen Sinn mehr in seinem Leben und heiraten will er auch nicht, da kann Elfriede noch so verzweifelt kuppeln. Stattdessen schmiedet er Rachepläne, während er zur Untätigkeit verdammt am Steuer seines getreuen VW Jetta sitzt.

Verlorene Lebenszeit auf der A 40

Ganz genau hat er es sich ausgerechnet: 352 Stunden waren es noch zu Lebzeiten von Molly und Whitey selig, die er unfreiwillig auf der im Volksmund Ruhrschleichweg genannten A 40 verbracht hat. 14 Tage und 16 Stunden, die er nicht mit seinen geliebten Karnickeln hat verbringen können. Und Schuld daran war – ganz genau – Straßen.NRW. Diese Fehlplanungen. Baustellen, die eingerichtet, aber nicht bearbeitet werden. Diese unsinnigen Zuflussregelungsampeln, die nur Rückstaus verursachen und dann noch die Radarfallen und Geschwindigkeitsbegrenzungen, die nur der Befüllung der Stadtsäckel dienen. Und da die A 40 jede Menge Städte durchschneidet, gibt es entsprechend viele davon.

Klausi ist es leid, er braucht einen Befreiungsschlag. Genug ist genug. Zunächst einmal weiht er seinen besten, weil einzigen Freund Alfred Kruppel ein, einen bierseligen Schrotti, der genau an der A 40 wohnt. Kruppel ist Feuer und Flamme und beginnt sofort mit der logistischen Planung…

Wo der Manager Möhrchen knabbert

Die beiden entführen Dr. Weissfeld, den Chef von Strassen.NRW. Soll der jetzt mal sehen, wie das so ist mit den Murmeltiertagen im Stau. Sie halten ihn mit einer säurebefüllten grünen Wasserpistole in Schach, so dass dem armen, nur mit rudimentären Fahrkünsten begabten Manager nichts anderes übrig bleibt, als tagsüber Klausi und Kruppel durch die Staus zu chauffieren und nachts im alten Kaninchenstall an Möhren zu knabbern.

Die Forderung der Erpresser geht beim schon alarmierten Kommissar Schüppe ein: läppische 55.000 Öcken will man haben. Das Geld ist für Kruppel, Klausi ist da eher idealistisch unterwegs, auf sein Konto gehen die restlichen Forderungen, die es durchaus in sich haben: Man verlangt die Aufklärung der Kaninchenmorde und die Auflösung der Staus durch diverse von Klausi höchstselbst ausgearbeitete Maßnahmen. Alles muss in der Presse verkündet und als Verdienst des ausgedachten TuS-V (Tierfreunde und Staugegner – vereinigt) deklariert werden. Schnell gewinnt der TUS-V eine beachtliche Fangemeinde, das halbe Ruhrgebiet will in den Verein eintreten.

Schüppe und seinen Mannen ist klar, sie müssen handeln und diesen Fall aufklären, bevor das Ganze vollends außer Kontrolle gerät. Auch der Spürnase Tom Balzack, dem kriminalistisch begabten Reporter ist schnell klar, dass hinter den erstaunlichen Zeitungsmeldungen – die er durchaus erfreut begrüßt – mehr stecken muss. Undenkbar, dass Strassen.NRW plötzlich Einsicht zeigt. Balzack kann sich ja vieles vorstellen, aber das nun wirklich nicht.

Es droht die Autobahnmaut als Standgebühr

Unschwer vorstellen kann man sich hingegen, dass Thomas Schweres mit dem Thema seines schon vierten Krimis um den knorrigen Kommissar Schüppe und den umtriebigen Balzack einen Nerv trifft. Nicht nur Klausi hat wohl das Gefühl, dass die Politik den „Straßenbau als Ersatzdisziplinierungsmöglichkeit“ entdeckt hat und dass die drohende „Autobahnmaut im Ruhrgebiet wohl eher so eine Standgebühr“ sein wird. Man glaubt sofort, dass ein Verein wie der TuS-V schnell begeisterte Anhänger finden würde. Thomas Schweres hat wahrscheinlich in seinem Hauptberuf als oft genug nicht rasen könnender Reporter im Ruhrpott viel Zeit im Dauerstau verbracht.

Schweres benutzt für seine „Stellvertreter-Rache“ das Genre des Krimis, aber „Die Abbieger“ unterscheiden sich erheblich von ihren Vorgängern. Nicht nur, dass man Täter und Motive von Anfang an kennt und eher ihre Verstrickungen sowie die Aufklärungsversuche verfolgt, als mitzurätseln, auch der Stil ist ein anderer. Waren die Vorgänger noch eher Thriller als Krimi, so lesen sich „Die Abbieger“ in weiten Teilen als Satire. Wäre das Buch ein Tatort, dann wäre es mehr Tatort Münster als Tatort Dortmund. Spannung kommt so natürlich selten auf, aber die Lektüre ist kurzweilig und wirklich witzig.

Machte Schweres sonst gerne ein großes Fass auf und brach das kriminelle Weltgeschehen auf das Ruhrgebiet runter, bleibt er diesmal ganz in seinem Revier. Mehr als sonst leben „Die Abbieger“ vom Ruhrgebiet-Kolorit, schon das vorgeschaltete Personenregister ist voller gewollter Klischees. Der heimliche Star des Buches ist Mutter Elfriede, die als echte Ruhrpott-Zechenmutter daherkommt, eine Kreuzung aus Tana Schanzara und Else Stratmann.

Thomas Schweres: „Die Abbieger“. Grafit Verlag, Dortmund. 282 Seiten, 11,00 €.




„Lass mich nicht allein mit ihr“ – das auf Dauer schwer erträgliche Ego-Theater des Tex Rubinowitz

Tex Rubinowitz ist ein großer Bewunderer „kapriziösen Ego-Theaters“. Davon leben zu können, das wäre es doch. Den Rest der Zeit könnte er dann sicher auf der Couch verbringen, wo „alles den Serienfiguren passiert und nicht ihm“.

Um nichts anderes geht es in „Lass mich nicht allein mit ihr“, dem neuen Buch des Ingeborg-Bachmann-Preisträgers: um Thesen von und über Tex Rubinowitz. Wer jetzt stutzt und sich fragt: Wer will das denn lesen? Ist das nicht arg langweilig? Dem sei gesagt: Ja, es ist langweilig, jedenfalls über die Länge eines Romans. Wobei das Buch auch wohl nur in Ermangelung einer treffenderen Klassifizierung Roman genannt wurde.

Der Inhalt ist schnell erzählt: Es geht um die Befindlichkeiten des nicht mehr ganz so jungen Rubinowitz. Der gute Mann ist nicht nur Schriftsteller, er blickt auch auf ein ergiebiges Wirken als Zeichner, Cartoonist, Reisejournalist zurück. Wenn er nicht gerade ein Schriftsteller-Stipendium in London absitzt, lebt er in Wien.

Was ist schon Wirklichkeit?

Tex Rubinowitz ist ein Pseudonym, in Wirklichkeit heißt er ganz anders, aber was ist schon Wirklichkeit? Musikkritiken für den Spiegel schreibt er auch noch und dann war da noch ein Plagiatsskandal um seinen letzten Roman. Oder war es etwa nur eine geschickte Inszenierung? Wer von all dem bisher keine Kenntnis hatte, der weiß nun Bescheid. Darüber und über vieles andere mehr. Zusammenfassbar unter „alles, was Sie nie wissen wollten und nun doch gelesen haben“.

Unser Autor nun befindet sich in einer veritablen Schreibkrise und spielt zunächst alle Stufen des beliebten Gesellschaftsspiels Prokastrination durch. Da strickt man einen Plot um einen Schädel im Wald, klappt nicht so recht, dann philosophiert man ein bißchen über Abba und Pedro Almodóvar; nicht, dass noch einer denkt, man wäre nicht vielseitig interessiert. Schön wäre aber auch eine Liebesgeschichte mit Vorabendserien-Diva Anja Kruse, was den Autor ruckzuck zu seinem verstorbenen Kollegen Abdul bringt, der einen eigenartigen Tod starb, autoerotische Anekdoten inclusive.

Verwirrspiel um Identitäten

Und überhaupt dieser Abdul. Der hat Rubinowitz gestalkt, mehr noch, er hat alles dafür getan, wie Rubinowitz zu sein. Alles wusste er über ihn und plötzlich ist man sich gar nicht mehr sicher: Ist der Autor tatsächlich selber der Ich-Erzähler oder lässt er nicht vielmehr Abdul so tun, als wäre der Stalker der Autor, der hier von einem Gedankenstrang zum anderen mäandert?

So weit, so leider zäh das inszenierte Verwirrspiel um Identitäten. Bei aller Bemühtheit gelingt es Rubinowitz nicht, dieses Sujet um eine neue Variante zu erweitern. Wohlwollend könnte man sagen, das Thema des Romans ist die Suche nach einem Thema. Weniger wohlwollend könnte man es auch unter „regressive Luxusprobleme“ verschlagworten.

Was tut man nicht alles, um eine Schreibblockade zu rechtfertigen und vor allem, um sich selber in einem interessanten Licht darzustellen? Seine eigene Exzentrik möchte er vor allem in den imaginierten Begegnungen mit der Schauspielerin hervorheben, doch beim Leser reicht es so gerade eben zu Mitleid mit der zur Projektionsfläche mutierten Frau Kruse. Humorvoll wäre er gerne, albern trifft es eher.

Auf Sascha Lobos Deckel trinken

Weltgewandtheit und Bildung stehen noch auf der Liste der Dinge, die Rubinowitz zur Vervollständigung des Bildes braucht, das der Leser sich bitte von ihm machen soll. Dafür arbeitet er sich schnell noch an Daniel Kehlmann ab, das machen sie ja alle gerne, die so gerne DIE Stimme deutscher Gegenwartsliteratur wären. Nicht zu vergessen: Auf den Deckel von Sascha Lobo darf er trinken. Na prima. Glückwunsch dazu. Auch eine Leistung.

Einen Protagonisten aber gibt es, der Leistung erbringt: den Lektor. Geplagt, aber geduldig erklärt er dem um minimalistischen Aufwand bemühten Autor „Du hast nichts zu erzählen“. Letzen Endes seien es nur „eklektizistische Splitter“, die er da zustande brächte. Der Autor versteht das alles, er sieht es durchaus ein, alleine – er macht nichts draus. Aus Unlust? Aus Unvermögen? Aus purer Faulheit? Aus dem Wunsch heraus, der Literaturbetrieb wird es schon richten, es wird sich schon jemand finden, der auch das Abstruseste noch hochjazzt?

„Logik ist für Langweiler“

Richtiggehende Bewunderung zeigt der Schriftsteller für die Technik des unzuverlässigen Erzählens, da greift schließlich auch die Entschuldigung „Logik ist für Langeweiler“. Eine beliebte Rechtfertigung, arg simpel zwar, aber man kann es ja mal versuchen. Hätte der Lektor ihm besser mal gesagt, dass der Leser nicht gelangweilt werden will, statt „der Leser will nicht bevormundet und nicht verarscht werden“. Unzuverlässiges Erzählen verzeiht ein Leser, aber was Rubinowitz in seinem Buch macht, ist allenfalls ein schwadronierendes Spiel mit „alternativen Fakten“. Passt immerhin zum Zeitgeist und zum Fake-News-Gegröle.

Die eigentliche Tragik des Buches liegt aber vor allem in der Länge. Rubinowitz kann durchaus unterhaltend schreiben. Zunächst ist das Ganze wirklich noch witzig, man liest es gar nicht so ungern, es gibt spitz formulierte und fein beobachtete Gegenwartsbetrachtungen, die durchaus Spaß machen.

Zunächst amüsiert man sich auch noch über die Selbst-Rechtfertigungen, wenn er auf den Plagiatsskandal eingeht, der von ihm selber gelenkt gewesen sei. Die fraglichen Wikipedia-Einträge habe er unter noch einem Pseudonym selbst verfasst, auch die Berichterstattung darüber hat er selbst geleakt, Letztendlich hat er sich also nur selbst kopiert. Wir verstehen. Oder auch nicht. Ist irgendwann aber auch völlig gleichgültig. Denn spätestens nach der dritten Rechtfertigung, nach der vierten Phantasie einer Verabredung mit Anja Kruse ist man es leid.

Tex Rubinowitz: „Lass mich nicht allein mit ihr“. Rowohlt, 288 Seiten, 19,95 €




„Datengrab“: Ruhrgebiets-Krimi rund um IT-Sicherheit

Das Fernsehteam Pegasus ist wieder da und Kameramann Klaus-Ulrich Mager bekleckert sich nicht nur nicht mit Ruhm, sondern er steht sogar auf der Liste der Verdächtigen eines Verbrechens, das man doch einfach nur dokumentarisch hat begleiten wollen.

Im ehemaligen Schrebergarten seiner Eltern wird eine skelettierte Leiche gefunden und Dortmunds eigenwillige Kommissarin Kasten will zunächst nicht ausschließen, dass die ehemaligen Besitzer die Leiche, welche als eine seit Jahren als vermisst gemeldete Studentin identifiziert wird, unter das Gartenhaus verbracht haben.

Eine Leiche im Schrebergarten

Erste Spuren führen an das renommierte Kopula-Institut der Uni Duisburg-Essen, das sich im Bereich der IT-Sicherheit einen Namen gemacht hat. Der Zufall will es, dass dort die Freundin von Magers Sohn Kalle als IT-Expertin ebenfalls an dieser Uni arbeitet und sich unfreiwillig im Nebenjob als Ermittlerin betätigt. Gesucht werden die Doktorandin Lea Bensdorf und der IT-Supporter Tim. Simone hackt sich in die Systeme des Kopula-Instituts und was sie dort in alten „Datengräbern“ zutage fördert, lässt schaudern – und schnell einen Zusammenhang mit der Leiche im Schrebergarten vermuten.

Mit „Datengrab“ bringt sich das Fernsehteam Pegasus bereits zum zehnten Mal in Stellung. Die Krimis stammen aus der Feder von Reinhard Junge, einige entstanden gemeinsam mit Leo P. Ard, einem anderen Urgestein des gepflegten Ruhrgebietskrimis. Für „Datengrab“ holte Junge sich nun aber Christiane Bogenstahl mit an Bord. Die Bochumerin IT-Expertin schrieb bereits Kurzkrimis und sorgt nun sozusagen für das „Reboot“ der Pegasus-Reihe.

Revier zwischen Unis und Zechen

Mit über 400 Seiten liefern die beiden schon einen ordentlichen Schmöker ab und schütten ein wahres Füllhorn an Themen aus. Es geht um Macht und Machtmißbrauch, Gier, Eitelkeit, Mobbing und IT-Sicherheit. Das alles im Umfeld des akademischen Ruhrgebiets, aber auch das Milieu des „alten“ Ruhrgebiets mit seinen Zechensiedlungen und Schrebergärten kommt nicht zu kurz. Und wer nicht aus dem Revier kommt, kennt spätestens nach Lektüre dieses Krimis eine der wichtigsten Alltagsregeln hier: „A 40 nur, wennste Zeit hass“.

Das Verbrechen wie auch Täter und Drahtzieher kennt man beinahe von Anfang an und weiß über ihre Motive Bescheid, nur die Zusammenhänge erschließen sich erst sukzessive. Die dennoch durchweg hoch gehaltene Spannung speist sich hauptsächlich aus den Wegen, die Kriminalpolizei und die auf eigene Faust ermittelnden Fernsehleute beschreiten müssen, um die fast schon mafiös anmutenden Strukturen des Kopula-Instituts zu durchschauen und die Bösewichte schlussendlich zur Strecke zu bringen.

Nur eine Marotte trübt den Genuss

Die bei aller Bedrängnis ihren Humor nicht verlierenden Charaktere sind in kurzen, knackigen Kapiteln gut herausgearbeitet, man fiebert gerne mit, mag vor allem Simone und Kalle und verabscheut den Institutsleiter. Die Autoren beschränken sich auf klare Sätze und fast wäre das Krimivergnügen ungetrübt gewesen, wenn nicht immer wieder Absätze irritieren würden, in denen z.B. für ein und diesselbe Person mehrere verschiedene Bezeichnungen gebraucht werden.

Als Leser(in) fragt man sich unwillkürlich, ob hier gerade der Einsteigerkurs „Kreatives Schreiben, Folge eins: Synonyme leicht gemacht“ läuft. Diese irgendwie albern anmutende Angewohnheit reißt aus dem gemütlichen Lesefluss raus, was umso ärgerlicher ist, da die Spannung eigentlich an keiner Stelle stockt und ein Wachmacher somit gar nicht vonnöten wäre.

Viel Spaß hingegen machen die gelegentlichen Cross-Over-Begegnungen mit den Protagonisten eines anderen Krimi-Kosmos, mit Kommissar Schüppe und den Mannen von Broadfacts-TV. Ob deren geistigen Vater Thomas Schweres uns wohl seinerseits in seinem neuen Krimi „Die Abbieger“ verrät, wie seine Charaktere die brummelige Kommissarin Kasten und das neue Pegasus 3.0. Team finden?

Bogenstahl & Junge: „Datengrab“. Kriminalroman. Grafit Verlag, Dortmund. 445 Seiten, € 12,00.




„Zierkissenpest“ und schlechte Leselampen – David Wagners „Ein Zimmer im Hotel“

Zimmer im Hotel„Ein Zimmer im Hotel“ ist für die einen ein Zuhause auf Zeit, für andere eine Durchgangsstation, aber immer ist es ein Ort, an dem der Reisende fern der Heimat ein kleines Stück Geborgenheit zu finden hofft. Über hundert Miniaturen hat Schriftsteller David Wagner zusammen getragen, in deren Mittelpunkt Hotelzimmer stehen.

All diesen Räumen, die Wagner in den letzten drei Jahren während seiner (Lese)Reisen durchlebt und zum Teil auch durchlitten hat, setzt er in seinem neuen Buch ein literarisches Denkmal. Es sind kurze Skizzen, die ihren Fokus nur auf einige wenige, aber wesentliche Dinge richten, die den Charakter des jeweiligen Zimmers pointiert beschreiben. Mal ist es die „Zierkissenpest“, mal das zu „einem Dreieck eingefaltete erste Blatt einer Toilettenpapierrolle“, von dem er sich fragt, welche Botschaft dies dem Gast vermittelt. Mit knappen Worten schafft es Wagner, durch diese räumlich so eng begrenzten Ansichten ungewohnte Einsichten in den in der Literatur so beliebten Kosmos Hotel zu vermitteln.

Für David Wagner (geboren im Rheinland, lebt in Berlin) ist es immer wieder eine spannende Frage, was ihn erwartet, sobald er den Hotelschlüssel in der Hand hat. Diese Spannung teilt der Leser nach wenigen Abschnitten mit ihm. Man liest den Hotelnamen, hat eine leise vorurteilende Vorstellung, welche manchmal bestätigt, manchmal widerlegt wird.

Vielleicht findet man sich im Prunk vergangener Tage wieder, vielleicht auch nur im Ambiente eines Möbelhauses auf der grünen Wiese. Mit Wagner fühlt man sich gestört von unablässig blinkenden Lichtern an Digitaluhren, stört sich mit ihm an blonden Haaren des Vorgängers auf grünen Samtbezügen, fragt sich irritiert, wieso manche Duschkabinen mitten im Zimmer stehen und ob es ein Qualitätsmerkmal ist, wenn Ohrenstöpsel ausliegen.

Wagner wertet nicht, er beschreibt lediglich das Erlebte. Nichts liegt ihm ferner, als sich in die Riege der Hoteltester von Reiseportals Gnaden einzureihen. Das Äußerste, was er sich erlaubt, ist Verwunderung. Gleichwohl sind seine Miniaturen sicher nicht nur interessant für den Reisenden, sondern könnten auch gut als Anregung für die dienen, die heutzutage den Reisenden eine Herberge geben.

Der Stil ist dabei bewusst nüchtern, fast im Duktus einer Gebrauchsanweisung. Der einzig wertende Schluß, den er zieht: Die Qualität eines Hotels erkennt man darin, ob Bleistifte oder Kugelschreiber ausliegen. (Die mit Bleistift sind besser. Bleistifte korrespondieren für gewöhnlich mit Holzböden, Kugelschreiber gibt es eher in den Zimmern mit den wild gemusterten Teppichböden, in denen Flecken schon eingearbeitet zu sein scheinen).

Die präzisen Beobachtungen lassen die Geschichten, die hinter den Zimmern stehen, nur erahnen, aber es ist genau diese Detailtreue, die letztendlich doch soviel mehr erzählt, als es die eigentliche Geschichte je könnte. Wagner beobachtet und beschreibt Unspektakuläres. Die komischen Momente, aber auch die melancholischen ergeben sich ganz von allein. Genau dadurch weckt er beim Leser den Wunsch, seine Umgebung näher zu betrachten und zu hinterfragen.

Da ist es dann letztlich auch in der Tat egal, ob hinter dem Buch eher der Wunsch nach poetischer Alltagsbeobachtung steht, für die Wagner schon in seinen vorhergehenden Werken ausgezeichnet wurde oder ob es einfach nur literarische Zusatzverwertung ist, der Wunsch, wenigstens etwas Kreatives aus seinen Lesereisen mitzunehmen.

Der Autor sagt offen, dass ihm bis zum Schluss nicht klar wird, welche Details in den Zimmern welche Gefühle in ihm hervorrufen. Klar ist, dass er sich manchmal auch sehr verloren fühlt. Der Kampf gegen Klimaanlagen, schlechte Leselampen, fehlendes Internet lässt ihm oft genug nur die Option eines voyeuristischen Blicks nach draußen. Genau damit bleibt auch die Frage offen, ob ihm die unbekannte Umgebung Angst macht oder ob ihm schlicht die Zeit für weitere Erkundungen fehlt.

Der einzige längere Absatz im Buch, der neben dem Zimmer auch die Außenwelt thematisiert, enttäuscht jedenfalls. Den Leser, aber wohl auch den Autor. Er verbringt eine längeren Zeitraum in Bad Aussee und wagt sich dort auch in die Natur, von der er gar nicht weiß, wo und warum genau er da Schönheit suchen soll, die er auch eher uninspiriert beschreibt. Unsicherheiten werden gewahr, Unsicherheiten, die in einem Hotelzimmer so schnell dann doch nicht aufkommen. Mal abgesehen von der Verunsicherung, die ihn bei so manch ausliegender Lektüre überkommt. Von einer antiquarischen Madame Bovary über Aufklärungsschriften aus dem letzten Jahrhundert bis zur Kulturgeschichte der Unterwäsche ist alles dabei. Wagners Miniaturen wären da sicherlich eine schöne Ergänzung für die Nachtkästen der Hotels dieser Welt.

David Wagner: „Ein Zimmer im Hotel. Miniaturen.“ Rowohlt Verlag, 121 Seiten, €18,95
(Die Hotels samt Besuchsdaten sind im Anhang vermerkt. Herdecke war übrigens die einzige Station in der Ruhrregion).




Galaxie Schrebergarten in Sicht: Raumschiff Geierabend auf „Planet Pott“ gelandet

Dortmund, wir haben kein Problem. Die Premiere ist geschafft. Das inzwischen 25 Jahre alte Raumschiff Geierabend begibt sich diesmal auf die „Mission Planet Pott“, so das diesjährige Motto des Geierabend-Teams unter der bewährten Regie von Günter Rückert. Direkt hinter der Galaxie Schrebergarten landet das Ensemble auf Zeche Zollern für einen furiosen Auftakt im Astronauten-Look.

"Der Steiger" Martin Kaysh im Raumfahrer-Outfit. (© StandOut)

„Der Steiger“ Martin Kaysh im Raumfahrer-Outfit. (© StandOut)

Der Geierabend ist aus dem alternativen Ruhrgebiets-Karneval nicht mehr wegzudenken, genau wie sein moderierender „Steiger“ Martin Kaysh, auch wenn dieser direkt zu Beginn mit seinem Abgang droht – kann man doch auf der Route der SPD-Kultur so viel mehr Öcken anstrengungslos mit ein paar Vorträgen einsacken.

Einstweilen aber führt Kaysh, mittlerweile sogar Ehrenhauer auf Auguste Victoria, gewohnt spitzzüngig souverän durch den Abend. Von seinen punktgenau sitzenden Seitenhieben bleiben weder das „Rum-Geluthere auffem Weg zum Kirchentach“ noch das NRW-Abitur oder die Fußballer, die so viel verdienen, dass sie sich jedes Jahr einen eigenen Phoenixsee kaufen könnten, verschont.

Aus Rashid wird ganz fix der Ralle

Im Programm sind es dann doch eher nicht so die unbekannten Weiten, die das Raumschiff Geierabend erkundet. Auch wenn es einen Abstecher „wacker na Rakka“ gibt, bleibt man doch eher auf der Südtribüne und anderen bewährten Locations aussem Pott und umliegenden Dörfern wie dem sauerländischen Schnöttentrop. Dessen Bauernschaft sorgt mit seiner pragmatischen Lösung der Integrationsfrage für den ersten Höhepunkt des Abends. Schon auf dem fliegenden Teppich wird aus Rashid Alfonso der Ralle und die Scheherazade muss sich wohl an den Kosenamen Resi gewöhnen. Geht doch. Läuft in Schnöttentrop.

Szenenbild aus dem "Promi-Himmel" (ç StandOut)

Szenenbild aus dem „Promi-Himmel“ (© StandOut)

Andere Nummern hingegen laufen eher langatmig. So zeigt sich bei der Präsentation der AfD-Wahlkampf-Geschenke schnell, dass diesem Trupp mit normalen Kalauern nicht beizukommen ist. Das Lustigste an diesem Sketch ist noch der blinkende Schriftzug, dem mit schöner Regelmäßigkeit das R und das T abhanden kommt und so aus der selbsternannten Alternative eine alte Naive macht.

Diagnose Bademantel

Gleichermaßen einfallslos in die olle Kamellenkiste greifend präsentieren sich das Wahlbüro inne Kneipe oder die wirklich trutschigen Tannen im Dialog mit den Piss-Bäumen der Nordstadt. Auch die im Vorjahr gefeierte You-Tuberin Fiffi kann aus dem inhaltsbefreiten Geschwurbel der gutverdienenden Jugendkanäle nichts Humoriges zaubern. Bei diesen Nummern könnte die eine oder andere Umlaufbahn durchaus abgekürzt werden oder wie der Steiger es sagen würde: „Manchmal ist Bademantel schon die ganze Diagnose“.

Immer am Ball: die Zwei vonne Südtribüne (Franziska Mense-Moritz, Hans Martin Eickmann). (© StandOut)

Immer am Ball: die Zwei vonne Südtribüne (Franziska Mense-Moritz, Hans Martin Eickmann). (© StandOut)

Zeit, das Publikum aufzuwecken mit dem Pannekopp des Tages. Zur Wahl für den schwersten und unbeliebtesten Karnevalsorden der Welt steht – tadaaa! – Frauke Petry. Erstaunlicherweise hat auch diese Dame sich um das Revier verdient gemacht: Mit der Erfindung der mobilen No-Go-Area, welche die Dame selbst in Bergkamen verortete, die aber in Wirklichkeit immer da ist, wo Frau Petry ist.

Erwartungsgemäß gewann sie eindeutig, wohl auch, weil ihr „Gegner“ NRW-Verkehrsminister Michael Groschek für den wundersam durch Aufkleber wiederauferstandenen RRX (Rhein-Ruhr-Express) nicht ganz so starke Geber-Qualitäten aufweist. Es darf befürchtet werden, dass die Frau(ke) es bis in die Endauswahl schafft und schmerzbefreit anreist, um den Preis anzunehmen. Doch man gibt sich zuversichtlich: „Mit der werden wir auch noch feddich“.

„Make Bottrop great again“

Während die Panneköppin des Abends eher hämische Reaktionen auslöste, rief die ihren Kummer ersäufende Freiheitsstatue Begeisterungsstürme hervor. Die Arme wurde von einem Ganzkörper-Doppelkinn und dessen Politik ausse Unterbuxe vom Sockel gerissen und auch sonst will sie niemand haben. Bis auf den Moviepark, in dem sie ihr Dasein als Bergarbeiter-Mantra (Auffe Zeche, aumPütt, auffe Schicht, im Streb, am Malochen usw.) aufsagende 450-Euro-Jobberin fristet. „Make Bottrop great again“. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass das jüngste Ensemble-Mitglied Sandra Schmitz dem Publikum hier mal ganz genau zeigt, wo der Mottek kreist.

Die Freiheitsstatue kann sich nur noch besaufen. (© StandOut)

Wennn dieser Donald (Martin F. Risse) auftaucht, will sich die Freiheitsstatue (Sandra Schmitz) nur noch besaufen. (© StandOut)

Als eine der wenigen Neuerungen gönnt man sich im Jahr des silbernen Dienstjubiläums eine Saalwette. Wetteinsatz: eine „24Stunden-Chaos-und-Konfetti-Blitztour“ durch alle 53 Orte des Ruhrgebiets – wenn in dieser Session wirklich Besucher aus jeder Stadt des Ruhrgebiets kommen. Zur Premiere wurde Gelsenkirchen kontrolliert. Schalker werden in Dortmund als Publikumsopfer ja immer gerne genommen. Die königsblauen Gäste nahmen es sportlich und trösteten sich mit dem zu ihren Ehren schnell laminierten Spontangedicht.

Ruhries in der Notaufnahme

Publikumslieblinge sind am Premierenabend Murat Kayi, der wirklichkeitsnah als ambitionierter Trainer des Tus Krackel gegen die Trägheit seiner Kevins und deren Pokemon-Jagdfieber kämpft und die bei jedem Auftritt bejubelte großartige Franziska Mense-Moritz, die im übrigen auch für die aufwändigen Kostüme verantwortlich zeichnet. Ihre wandelnde Raucherecke mit Helmut-Schmidt-Gedächtnis-Fotto hat diesmal Bandscheibe. Macht aber nix, so hat sie wenigstens die Gelegenheit, das Treiben schräger Ruhries in der Notaufnahme zu studieren.

Und wer es aus der Notaufnahme nicht mehr hinaus schafft, kann sich das Promi-Catchen im Himmel begucken. Mit dieser Nummer endet das gut dreistündige Programm, das gesamte Ensemble schwingt noch einmal seine untoten Knochen und singt (zur Melodie von „Knockin‘ on Heavens Door“) „Gott iss datt ganz egal, wer kommt“. Ja, nee, iss klar.

Enormer Aufwand

„Fleiß kannsse vortäuschen, aber faul musse schon sein“ – die Weisheit der zwei „Stehplatz-Paselacken vonne Südtribüne“ hat sich bis zum Geierabend-Team noch nicht herumgesprochen. Es ist ein enormer Aufwand, der für das dreizehnköpfige Ensemble betrieben wird, um nicht nur den Karneval auf’s Korn zu nehmen.

Nicht alles dabei ist witzig, manches kommt eher als magere Astronautenkost daher. Man merkt schon, dass derzeit die Realität oft genug die höchste Form der Groteske ist und Satire gar nicht mehr überzeichnen kann, weil es absurder kaum noch geht. Schade auch, dass das eigentlich dankbare Motto von der „Mission Planet Pott“ im Laufe des Abends immer seltener aufgegriffen wird. Alles in allem aber bleibt der Geierabend ein in diesen „Das-wird-man-ja-wohl-noch-sagen-dürfen“-Zeiten ein dringend benötigtes Korrektiv im Revier – und ein großer Spaß.

Auf der Dortmunder Zeche Zollern ist noch bis Ende Februar Geierabend. Tickets und weitere Informationen über Geierabend.de




Unprätentiös und zupackend – Neues Buch würdigt „Starke Frauen im Revier“

„Wenn man einmal Feminismus hatte, dann geht das nie wieder ganz wech. Aber ich komm prima damit zurecht.“ – Nie wird Gerburg Jahnke müde, das zu betonen. Ganz prima kommt Frau Jahnke daher sicher auch mit einer Kurz-Biographien-Sammlung zurecht, die „Starke Frauen im Revier“ porträtiert, darunter selbstredend auch Gerburg Jahnke.

starkefrauen Doch um ein feministisches Manifest in diesem Sinne geht es den Autorinnen des Bandes nicht. Mit Kategorisierungen und Schubladendenken haben sich die Frauen im Ruhrgebiet noch nie lange aufgehalten. Sie sind eben – wie schon der Untertitel des Buches besagt – alles, nur nicht zimperlich. Sie machen einfach. Genau wie Sabine Durdel-Hoffmann und Antia Brockmann, die Initiatorinnen und Autorinnen des Buches. Ihnen geht es darum, das Bild der vielen starken Frauen im Ruhrgebiet ins rechte Licht zu rücken.

Als Mythos hat sich im und über das Ruhrgebiet das Bild des hart malochenden Kumpels verankert. Die Würdigung der Rolle, die viele Frauen im Ruhrgebiet gespielt haben und noch spielen, kam dabei oftmals zu kurz. Es ist die erklärte Intention des Buches, den in der öffentlichen Wahrnehmung vernachlässigten Frauen eine Plattform zu geben.

Der Band würdigt Lebensleistungen ganz unterschiedlicher Frauen aus den verschiedensten Bereichen. Als Vorbilder taugen sie alle, denn eines eint sie: Sie sind unprätentiös, unsentimental, zupackend, aber dennoch gefühlig. Womit doch wenigstens ein Klischee bestätigt wäre. Sind ja auch nicht alle Klischees schlecht. Und gerade dieses sieht man als Ruhrgebietsfrau doch gerne bestätigt. Zumal die Autorinnen im Vorwort auch explizit betonen, dass die Auswahl für alle Frauen des Ruhrgebiets steht „auch für die, die nicht berücksichtigt wurden. Für Prominente ebenso wie für Heldinnen des Alltags“.

Vorgestellt werden die Frauen nach Themenbereichen. Angefangen mit den Großmüttern der Industrialisierung über die Sportverrückten und die Frauen des Glaubens bis zu den Theken-Regentinnen wird ein breites Spektrum abgedeckt. Manche Frauen sind einem schon ganz gut bekannt, die Frauen der Krupp-Dynastie etwa oder eben die Schauspielerinnen und Kabarettistinnen wie die eingangs erwähnte Frau Jahnke, der wir ja nicht nur Ladies Night oder die Missfits verdanken, sondern auch einen beherzten Einsatz für den Erhalt ruhrgebietstypischer Kleinkunsttheater.

Am spannendsten sind die Abschnitte über die Frauen, die sich um Kunst und Museen verdient gemacht haben und die Abschnitte über die Frauen des Glaubens im Kapitel „Die Kirche ist eine Frau“. Gerade hier habe zumindest ich einiges zum allerersten Mal gelesen und fand es hochinteressant und anregend. Da hätte man gerne noch mehr erfahren, aber das hätte vermutlich den Rahmen gesprengt. Aber immerhin – man hat erste Informationen. Richtig interessant sind auch viele der eingefügten Fotos, die auch abseits der Texte neue Einsichten vermitteln.

Die beiden Autorinnen kommen aus der Verlagswelt (Lektorin, Übersetzerin), beide sind gebürtig im Ruhrgebiet und leben auch heute noch hauptsächlich im Revier.

Anita Brockmann/Sabine Durdel Hoffmann: „Starke Frauen im Revier“. Elisabeth Sandmann Verlag, München, 151 Seiten, € 19,95.

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Anm. d. Red.: Der Band „Starke Frauen im Revier“ hat – außer thematischen Anklängen – nichts zu tun mit dem gleichnamigen Schwerpunkt in der Dauerausstellung des Ruhrmuseums auf der Essener Zeche Zollverein. Die Themenführung im Museum heißt nur zufällig genauso.




Heftige Jugendzeit im Ruhrgebiet – Goosen-Verfilmung „Radio Heimat“ im Kino

Vier hart pubertierende Freunde. Das Ruhrgebiet. Die 80er Jahre. Das ist – ganz grob zusammengefasst – der Inhalt von „Radio Heimat“. Mehr muss man eigentlich gar nicht darüber wissen, viel mehr passiert auch nicht. Aber – es reichte erstaunlicherweise, um einen feinen, kleinen Film mit viel Gefühl, viel Heimatliebe und ein bißchen Nostalgie zu produzieren.

Szene aus "Radio Heimat" (© Concorde)

Szene aus „Radio Heimat“ (© Concorde)

Der Film basiert in weiten Teilen auf dem gleichnamigen (2010 und jetzt wieder neu erschienenen) Kurzgeschichtenband von Ruhrgebietschronist Frank Goosen. Wer das Buch kennt, wird sich berechtigt fragen, wie man das verfilmen kann, wo doch die Kurzgeschichten allenfalls Schnittpunkte haben, aber keinen wirklichen durchgehenden Handlungsstrang. Um daraus einen Film zu machen, bediente man sich zweier Kunstgriffe: Man verlagerte die Handlung komplett in die zur Zeit so angesagten 80erJahre (zuzüglich einiger Rückblenden in die 60er) und strickte geschickt den Coming-of-age Handlungsstrang aus Goosens Roman „Mein Ich und sein Leben“ drum herum.

Ja, natürlich, es ist eine ziemliche Gemengelage dabei herausgekommen, gerade in der ersten Hälfte geht es mal hierhin, mal dorthin, dann wird ein Faden fallen gelassen und nicht wieder aufgenommen, nicht alles passt zueinander – aber das stört kein bißchen. Denn der Film bereitet einfach Spaß. Vor allem, weil er einfach richtig gut gemacht ist. Es wird oft – zu Recht – gemeckert, dass deutsche Produktionen es einfach nicht drauf haben, diese Detailtreue, das Vermitteln eines Zeitgefühls, die Wiederauferstehung vergangener Epochen vermitteln zu können wie z.B. die dafür so gelobten Mad Men oder Downton Abbey.

„Radio Heimat“ aber hat es geschafft. Genau so war es, wenn man in den 80ern im Ruhrgebiet jung war. Die Wohnzimmer waren so trutschig, die Partykeller so ranzig wie im Film, die Klamotten so geschmacklos und das Ruhrgebiet sah genau so aus. Der Location Zollverein und guter Bildbearbeitung sei Dank.

Nostalgisch verklärt sitzt man im Kinosessel und ist einfach nur dankbar dafür, dass es Regisseur Matthias Kutschmann und seiner Crew gelungen ist, dem Gefühl unserer Jugend ehrlich, berührend und dennoch unverklärt ein filmisches Denkmal zu setzen. Nebenbei ist man auch dankbar dafür, dass nicht alles die 80er überlebt hat. Die Neue Deutsche Welle zum Beispiel oder das unfassbar eklige Trendgetränk Wodka mit Wick Blau. Wie konnten wir nur? Wirklich wahr: Damals war auch scheiße.

Cover der Buchvorlage (© Randomhouse)

Cover der Buchvorlage (© Randomhouse)

Wer jetzt meint, na ja gut, ist eben ein Heimatfilm für sentimentale Früher-war-alles-besser-Kinogänger. Nein! Wir haben das Experiment gewagt und unseren Sohn mitgenommen, der heute exakt so alt ist wie ich im Jahr 1983, dem Jahr der Handlung. Und auch ihm hat es gefallen. Er fand es witzig und er fand es spannend zu sehen, wie es damals so war in dem Revier, in dem er heute seine Jugend verlebt.

Das ist überhaupt so ein Phänomen, gerade hier im Ruhrgebiet, das einen selten harten Strukturwandel durchlebt hat und immer noch durchlebt: Die Jugend interessiert sich sehr dafür, wo ihre Wurzeln sind, wie es früher hier so war. Mit dem Bergbau und den tausend Feuern in der Nacht. Und diese berechtigte Neugier bedient der Film „Radio Heimat“ perfekt.

Darüberhinaus gibt es auch noch besagte zusammengestückelte Handlung. Und auch wenn diese zwischenzeitlich mäandert, die Geschichte von Frank, Mücke, Spüli und Pommes, die erwachsen werden (wollen), ist einfach schön erzählt. Zärtlich und den Protagonisten bei allen zugehörigen Peinlichkeiten ihre Würde lassend.

Die jungen Darsteller um Maximilian Mundt und David Hugo Schmitz sind denn auch die wahren Stars des Films. Das will was heißen, wenn man Jungschauspieler gegen jede Menge Ruhrpott-Prominenz wie Uwe Lyko, besser bekannt als Herbert Knebel, Peter Lohmeyer und viele andere mehr in kleinen oder größeren Rollen anspielen.

Der Film Radio Heimat läuft seit dem 17. November bundesweit und weiterhin fast noch in allen Ruhrgebietsstädten:

Im östlichen Revier u. a. in Dortmund (Camera, Cinestar, Schauburg), Bochum (Bofimax, Casablanca, Union), Unna (Filmcenter), Lünen (Cineworld), Witten (Die Burg), Hagen (Cinestar) und Hamm (Cineplex).
Außerdem u. a. in Essen (CinemaxX, Eulenspiegel), Gelsenkirchen (Apollo, Schauburg), Herne (Filmwelt), Mülheim (CinemaxX, Filmpassage), Recklinghausen (Cineworld), Oberhausen (Cinestar, Lichtburg)




Orgien, Harakiri und Kunstblut – Christian Krachts filmischer Roman „Die Toten“

Für alle, die es noch nicht wissen: Christian Kracht hat einen neuen Roman geschrieben. Über das aufstrebende Filmmilieu der dreißiger Jahre zur Zeit der NS-Machtübernahme. Titel: „Die Toten“. Ja, den Titel hat es schon mal gegeben. Bei James Joyce. Anspruch will eben formuliert sein.

Trailer ab. Es treten auf :

In den Hauptrollen:
Emil Nägeli, ein Schweizer Avantgarde-Regisseur, mit einem ausgewachsenen Vaterkomplex behaftet.
Masahiko Amakasu: Japanisches ex-Wunderkind, als Erwachsener vor allem durch sein Faible für deutsches Brauchtum und Mythen auffallend.

die-toten

In den Nebenrollen: eine dralle, blonde deutsche Schönheit namens Ida, ferner UFA-Tycoon Hugenberg, Charlie Chaplin, Siegfried Kracauer, Lotte Eisner, Ernst „Putzi“ Hanfstaengl und Heinz Rühmann (geschickter Schachzug, auf nickende Kennermienen der Leser und Kritiker abgestellt).

Schauplätze: das Berlin der Weimarer Republik
Japan vor einer Zeitenwende
Hollywood als vermeintlicher Rettungsanker
diverse Berge und Bauernhöfe

Handlung: Mit deutschem Geld soll in Japan ein Vampirfilm gedreht werden – sozusagen als Zelluloid-Achse, um die faschistoide zu unterstützen. Mit Vampiren, viel Blut und nicht ganz soviel Kultur gegen den amerikanischen Kulturimperialismus, der allerdings schon da ist – in Gestalt des gerade in Japan nahezu gottgleich verehrten Charlie Chaplin.

Dazu gibt’s Fressorgien, Besäufnisse und reichlich historische Ereignisse (die zwar nichts zur Sache tun, aber wenn sie sich schon zum Zeitpunkt der Handlung ereignen. Man will ja nicht umsonst recherchiert haben).

Trailer Ende.

Doch bevor es im Buch um den Plot geht, (sieht man mal vom in allen Details beschriebenen Harikiri eines japanischen Offiziers direkt zu Beginn ab) ist die Hälfte des Buches schon um. Denn zunächst geht es in epischer Breite um die Leiden des jungen Nägeli und des jungen Amasuko. Kann man ja nicht unter den Tisch fallen lassen. Problematische Vater-Sohn-Beziehungen oder frühe Traumata wie der Tod des weißen Nicht-Kuscheln-Wollen-Hasen geben literarisch ja auch richtig was her. Und erst die autoritäre Kadettenanstalt, die das kleine Genie Masahiko den Flammen überlässt.

Das alles taugt zwar nicht als Rahmenhandlung oder gar als roter Faden, ist auch komplett bedeutungslos für die weitere Handlung, aber gepflegtes Leiden ist schließlich auch wichtig. Und das alles schön parallel montiert. Es geht ja um den Film als Kunstform. Im Film ist Parallelmontage sehr gefragt. So kann man gleich ganz klug und beseelt schließen, ah ja, hier ist die filmische Kunstform ins Literarische übersetzt. Und gelitten wird später auch noch. Wenn auch eher kunstblutig. Aber vielleicht ist das ja der rote Faden. Irgendwie will man als Leserin den Kreis ja dann doch geschlossen kriegen.

Kommt man dann zum Plot, treffen sich Nägeli und Amakasu endlich in Japan, wird dummerweise die (gemäß Verlagsbeschreibung „…das Geheimnis des Films als Kunstwerk der Moderne feiernde“) begonnene Handlung schon wieder unterbrochen. Schade. Aber was will man machen, wenn die blonde Ida dem japanischen Genie den Kopf verdreht und auf ganz andere vampirische Art als die geplante saugt.

Dem Nägeli bleibt immerhin noch die „Augenblicklichkeit des Universums“ und die blonde Spielverderberin kriegt ihre Kunstblut-Strafe. Und nicht zu vergessen: die Toten. Die haben wir ja auch noch. Die mischen sich dauernd zwischenrufend ein. Sind wahrscheinlich sowas wie das Kinopublikum für edel leidende junge und ältere Herren. Dass hingegen der Roman der dramatischen Struktur des japanischen No-Theaters folgt, das braucht man gar nicht groß herauszufinden. Kracht ist so stolz drauf, dass er einen mit der Nase draufstößt. Aber schön, oder? Da haben wir doch so einiges, was die Nicht-Rahmenhandlung und den kleinen Plot zusammenhält.

Der Roman schafft das Kunststück, viel zuviel Information bei gleichzeitiger Inhaltslosigkeit zu liefern. Aber immerhin in schön gedrechselten Sätzen, beinhaltend eine wahre Fundgrube für die beliebte Sammlung „Schöne, fast vergessene Wörter“. Die „Ästhetisierung des Schrecklichen“ passt dazu, aber es bleibt eine elegante Spielerei.

Statt Herzblut spritzt einem auch dort nur Kunstblut entgegen und es ist einem ganz unglaublich egal, ob man Gewalt so beschreiben darf, weil diese Passagen so bemüht wirken, dass sie einen nur kalt lassen können. Christian Kracht ist sicherlich ein feinsinniger Autor, aber was nach der Lektüre dieses Romans bleibt, ist der Eindruck, inhaltsleere Manierismen eines klugen Kopfs gelesen zu haben.

Alles, was ich sehe, ist eine Klamotte, eine langweilige noch dazu. Garniert mit dem Muff deutschen Mythen, von denen einem auch nicht im Ansatz erklärt wird, warum sie so toll sind und schon gar nicht, welche Lehren man daraus für die Zukunft ziehen könnte. Irritierend.

Vielleicht ist die Entstehung des Romans mit einem drängenden Bedürfnis des Autors zu erklären, sich mit aller Macht und Gewalt um jeden Preis aus den Schubladen lösen zu wollen, in die man ihn hineingepresst hat: Wunderkind, Popliterat und was da nicht immer alles an überfrachteten Erwartungen zu lesen ist. Dieser Intention und dem ganzen Roman hätte dafür allerdings eine Rückbesinnung auf Krachts Begabung als Satiriker gut getan.

Christian Kracht: „Die Toten“. Roman. Verlag Kiepenheuer und Witsch, 212 Seiten, € 20.




Verlorene Illusionen: Die gar nicht mehr so wunderbaren Reisen der Sibylle Berg

Sibylle Berg kennt man als Dramatikerin, Autorin und polarisierende Kolumnistin. Einem breiten Publikum weniger bekannt hingegen sind ihre Reisereportagen. Das könnte sich jetzt ändern. Unter dem nicht so ganz zutreffenden Titel „Wunderbare Jahre – als wir noch die Welt bereisten“ ist eine Sammlung von Erlebnisberichten der vielgereisten Frau Berg erschienen.

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Der Klappentext verspricht uns Erzählungen aus einer schönen, abenteuerlichen, romantischen Welt. Wer Sibylle Bergs Werke auch nur ein bisschen kennt, kann sich allerdings schon denken, was er direkt in der Einleitung erfährt: Wer sich auf der Couch fein eingekuschelt gerne in nostalgischen Gefühlen ergehen möchte, der schaue sich lieber wunderschöne Rucksack-Dokus auf Kultursendern an.

Krisen- und Erregungsgebiete

Die Reportagen aus Sibylle Bergs „wunderbaren Jahren“ zeigen hingegen: Der Terror war immer schon da, angstfrei reisen konnte man nie. Die Berichte erzählen aus Krisengebieten wie dem Kosovo in den Neunzigern, aus Erregungsgebieten wie Cannes zur Festival-Zeit, von ganz persönlichen Erfahrungen in Herzensstädten der Autorin oder auch ganz profan von der Langeweile als Passagierin auf einem Frachtschiff.

Doch eines war anders damals: Damals, das war die Welt, als man noch Fernweh hatte und verklärungsbereit war. Die wunderbaren Jahre waren deshalb wunderbar, weil man noch Hoffnung hatte.

Das Meer ist nur noch Wasser

Nun setzt die Desillusionierung ein. Wenn man Meer nicht mehr als Meer, sondern einfach nur als Wasser sieht, trauert man um die Zeit, in der alles aufregend war. Leben nutzt sich eben ab. So einfach, aber auch wesentlich zugleich sind manche Erkenntnisse, die Sibylle Berg in diesen Berichten vermittelt. Den Gegensatz zwischen der einstmals hoffnungsfroh zu einer Reise aufbrechenden Autorin, die noch glaubte, die Welt verbessern zu können und der heute fast komplett desillusionierten Kolumnisten wird vor allem durch die Nachsätze herausgearbeitet, die auf jeden ihrer Reiseberichte folgen und die in kurzen, knappen, sehr sachlichen Sätzen den heutigen Zustand des jeweiligen Reiseziels beschreiben.

Der erste und der zweite Blick

Sibylle Berg kann sehr elegant formulieren, ihre manchmal genial bösen Spitzen erkennt man oft erst auf den zweiten Blick. Vermutlich ist dies mit ein Grund dafür, dass sie oft polarisiert. Die einen nicken auf den ersten Blick und merken erst auf den zweiten, dass sie ertappt worden sind. Die anderen sind beim ersten Blick irritiert, nicken dann aber beim zweiten. Auch in ihren Reisereportagen ist die präzise Beobachterin Berg gewohnt gnadenlos ehrlich, sie geht aber auch mit sich selbst und ihrem einstigen Blick auf die Welt schonungslos ins Gericht.

Arroganz nur bei Bedarf

Auch der Tonfall ist nicht durchgehend so, wie man ihn von der gern überspitzenden Kolumnistin kennt. Ihre oft beanstandete Selbstgerechtigkeit hat sie in diesen Berichten jedenfalls außen vor gelassen und die ihr nachgesagte Arroganz lebt nur auf, wenn sie gebraucht wird – um dem Leser und dem Reisenden, also auch sich selbst den Spiegel vorzuhalten. Vor allem an der sich selbst tätschelnden Wohlstandsgesellschaft arbeitet sie sich böse ab, der Bericht über Cannes kriegt zur Strafe für soviel glitzernden Glamour nicht einmal eine der begleitenden Illustrationen der ausgezeichneten Comic-Zeichnerin Isabel Kreitz. Da sind die kleinen Lästereien, die sich ab und an gönnt (wie etwa im Bericht über London am Tag der Königskindeskinder-Hochzeit) nachgerade erholsam.

Sibylle Berg: „Wunderbare Jahre. Als wir noch die Welt bereisten“. Carl Hanser Verlag, München. 186 Seiten, €18,50.




Mit Flummi im Spiegelzelt – Torsten Sträter beim Dortmunder Festival RuhrHochDeutsch

Soziale Netzwerke, insbesondere Twitter, werden ja oft als virtueller Marktplatz sich unreflektiert aufschaukelnder Erregungstumulte rund um einen griffigen Hashtag wahrgenommen. Im medial nicht so aufgeblasenen Bereich der Twittergemeinde ermöglicht es aber gerade diese Hashtag-Kultur, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen über das, was man mag; was man gerne liest, guckt, hört oder auch, worüber man lachen kann.

Zunehmender Beliebtheit bei den manchmal mit einem recht eigenwilligen Humor gesegneten Twitter-Nutzern erfreut sich seit einiger Zeit der Waltroper Torsten Sträter. Was also lag näher als ein Ruhrpott-Twittertreffen mit einem Abend im Dortmunder Spiegelzelt bei Sträters Auftritt im Rahmen des Festivals RuhrHochDeutsch zu kombinieren?

Torsten Sträter im Dortmunder Spiegelzelt

Begegnung nach seinem Auftritt: Torsten Sträter im Dortmunder Spiegelzelt. (Foto: Michael Reimann)

Nicht alle Besucher kamen wie wir mit einem großen Begeisterungs-Vorschuss. Man hörte im Biergarten durchaus Stimmen à la „Hoffentlich gibt datt watt, hoffentlich liest der nich nur stur ab“. Aber etwaige Bedenken dürften schnell hinweg gefegt gewesen sein. 10 Minuten nach Beginn seines neuen Programms „Es ist nie zu spät, unpünktlich zu sein“ war der auf’s Zeltdach trommelnde Regen nicht mehr zu hören. Gut, Heimspiel könnte man sagen. Aber bitte, wer ist kritischer als die eigene Nachbarschaft? Eben.

Schnell bestätigt sich der bisher nur am Bildschirm gewonnene Eindruck: Sträter funktioniert am besten als Gesamtkunstwerk. Um das „Hoffentlich liest der nicht stur ab“ des Bedenkenträgers aufzugreifen: Ja, stimmt. Sträters Texte sind für sich genommen nur mäßig witzig, liest man sie in gedruckter Form selbst, reißt es einen nicht unbedingt vom Hocker. Trägt Sträter sie aber mit seiner unnachahmlichen Intonation vor, bettet er sie gar ein in einen frei vorgetragenen Kontext, dann hebt sich dieses Gesamtkunstwerk sehr wohltuend ab von dem, was einem sonst gerne als Kabarett verkauft werden soll. Nicht nur in diesem Punkt fühlt man sich im Laufe des Abends des öfteren angenehm an Fritz Eckenga erinnert. Möglicherweise gibt es ja so etwas wie eine Dortmunder Schule des Humors. Weiß man da Näheres?

König der Abschweifungen

Rund um die vorgelesenen Texte ist Torsten Sträter der ungekrönte König der Abschweifungen, was aber gerade den besonderen Reiz ausmacht. Man weiß nie, wo er hin will oder auch nur im Ansatz, was als Nächstes kommt. Ist er jetzt noch in Torgau beim Probelauf oder verlobt er sich gerade mit seinem Urologen? Vom Hölzken auf Stöcksken zu kommen und dann nach fast 3 Stunden den Kreis geschmeidig mit einem Flummi zu schließen – das muss man erstmal können. Sträter kann das und zwar so, dass das Publikum gleichermaßen verblüfft und begeistert verharrt. Zaubern mit Worten oder wie Sträter es nicht ohne Stolz formulierte: „Hab ich schick zusammengehäkelt, ne?“

Politisches Kabarett ist seine Sache nach eigener Aussage nicht, dennoch haben viele seiner Texte eine zumindest gesellschaftspolitische Aussage. So wie der Text, in dem er einem mit ihm befreundeten syrischen Flüchtling erklärt, wie Deutschland funktioniert und dabei die unguten „das wird man ja wohl noch sagen dürfen Vorurteile“ ganz geschickt umadressiert. Möglich, dass die Subtilität dieses Textes mehr bewirkt als fromme Lippenbekenntnisse aus der Politik. (Hoffen kann man ja)

Nicht nur mit diesem Text hält Sträter seinem Publikum den Spiegel vor. Wiedererkennungswert seiner Programme: höher geht nicht. In beide Richtungen. Zum einen erkennt der Zuhörer sich selbst wieder, zum anderen aber ertappt er sich dauernd bei den alltäglichsten Dingen, dabei an Sträter zu denken. Es soll Leute geben, die nicht ein einziges Hemd mehr ohne die Beschwörungsformel KSRKBÄM bügeln, Und falls es jemand interessiert: Ich habe mir heute mehr als einmal ein „Ey, datt iss ein Fahrradweg“ verkniffen. Bitte gerne.

Unaufgeregter Ruhrpott-Pragmatismus

Sträter beherrscht die ganze Palette vom eher grobschlächtigem Humor mit und ohne Storno bis hin zu den leiseren Tönen. Wenn man genau hinhört, dann kann man zwischen den Zeilen den Poeten hören. Sträters Anfänge in der Wortkunst wurzeln ja auch dort: Im Poetry Slam. Damit wurde er erstmals vor Publikum bekannt, da kommt er her. So die Geschichte über seine Afrika-Reise: So witzig sie zwischenzeitlich daherkam, so kleidsam der Hut, so gelungen die Pointe auch war: Man war auch berührt von dem, was er erzählte, man merkte gut, wie sehr ihn das dort Gesehene bewegte. Die Balance zwischen Witz und leisen Zwischentönen hält er durch, auch für Sträter scheint Satire eine Möglichkeit zu sein, den Absurditäten des Lebens zu begegnen. Entweder man verbittert oder man lacht darüber.

Und selbst wenn Torsten Sträter sich geschmeidig in New York bewegen kann, ganz klar ist er ein Ruhrpottjunge. Seine Sprache ist die der Menschen hier, sein Humor ebenfalls. Umso schöner, dass es auch außerhalb des Reviers funktioniert. Humorvoller, unaufgeregter Ruhrpott-Pragmatismus kann der Republik nicht schaden. Auch im entspannten After-Show-Gespräch ist es ganz einfach, in ihm den gelernten Herrenschneider von „umme Ecke“ zu sehen. In diesem Sinne „Glückauf“ für seine Sendung „Männerhaushalt„, die – wie er uns noch verriet – ab November im WDR in Serie geht.

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Mehr über ihn auf seiner Webseite. Alle Termine finden sich hier.




Wenn die Historie persönlich wird – „Die Liebesgeschichtenerzählerin“ von F. C. Delius

die Liebesgeschichtenerzählerin Die Strandpromenade von Scheveningen im Jahr 1969: Eine Frau, Marie, sitzt auf einer Bank, schaut dem Wellenspiel zu, atmet die herbe Seeluft. Sie ist von Haus aus die Ostsee gewohnt, die rauen Gezeiten der Nordsee sind ihr neu, die Kraft, welche dieses Meer entfaltet, ebenfalls.

Dennoch spürt sie etwas von dieser Kraft in sich. Sie ist dieser Tage frei von Pflichten, Mann und Kinder kommen auch einmal ohne sie zurecht. Finanziell scheint es in ihrer Familie aufwärts zu gehen, das gibt ihr ungewohnte Freiheiten. Sie hat Zeit und Muße, sich auf sich selbst und ihre Ambitionen zu konzentrieren.

So recherchiert sie in niederländischen Archiven den Liebesgeschichten ihrer Vorfahren hinterher. Den Liebesgeschichten, von denen sie schon lange spürt, dass sie erzählt werden sollten. Die Geschichte des ersten Königs der modernen Niederlande, der mit einer Berliner Tänzerin eine uneheliche Tochter zeugt, welche wiederum in ihre mecklenburgische Adelsfamilie verheiratet wird. Die Geschichte des Urenkels der Tänzerin (Vater der Erzählerin), der Geschehnisse aus seiner Zeit als kaiserlicher U-Boot Kapitän nie ganz verwunden hat. Und schließlich ihre eigene Geschichte. Sie hat einen Spätheimkehrer geheiratet, einen Gutsbesitzersohn. Und  sie entfernt sich immer weiter von ihm.

Friedrich Christian Delius, Träger des Georg-Büchner-Preises, verarbeitet auch in seinem neuen Roman „Die Liebesgeschichtenerzählerin“ Teile seiner eigenen Familiengeschichte. Delius‘ Romane beschäftigen sich meist mit der bundesrepublikanischen Geschichte, so ist er auch einer der Wenigen, die sich literarisch an den „Deutschen Herbst“ wagten. Diesmal erzählt er Sequenzen aus dem ganzen letzten Jahrhundert, dieser von Kriegen nie vorher dagewesen Ausmaßes geprägten Epoche, wobei die Liebesgeschichte des niederländischen Königs und der Berliner Tänzerin dem Leser schon aus „Der Königsmacher“ bekannt sein könnte.

Marie nun, die designierte Liebesgeschichtenzählerin, ist das literarische Denkmal für Delius‘ Tante, Irmgard von der Lühe, die ihr Studium für die Familie abbrach und sich erste Sporen als Biographin verdiente – wie Marie. Von der Lühe publizierte auch später noch, allerdings sind von ihr keine Romane veröffentlicht. In Delius‘ Roman bleibt folgerichtig das Ende offen: Wird Marie es wirklich schaffen, „die Liebesgeschichtenerzählerin“ zu werden? Sie verspürt den inneren Drang, „altes verborgenes Wissen von Not, Liebe und Schmerz als von den Vorfahren geerbtes Wissen weiterzugeben“.

Diese Marie ist keine Rebellin, sie will auch nicht ausbrechen aus ihrem Leben als umsichtige Hausfrau und Mutter, sie mag dieses Leben. Aber sie hofft darauf, dass dieses Leben auch für sie nun Zeit und Gelegenheit bereithält, ihrem kreativen Gestaltungswillen Raum zu geben. Wobei der Leser nie so recht weiß, ob die Recherche für Marie nicht doch eher so etwas wie eine Flucht aus der Realität bedeutet, um sich nicht allzu tief mit der eigenen Vergangenheit als ehemaliges BDM-Mädel auseinandersetzen zu müssen. Dennoch zeigt Delius anhand ihrer Geschichte, wie sehr politische Geschehnisse in das Leben Einzelner eingreifen. Sehr greifbares Anschauungsmaterial gerade auch in unseren turbulenten Zeiten, besonders auch für diejenigen, die meinen, aktuelle Geschehnisse hätten mit ihnen und ihren Leben nichts zu tun.

Delius erzählt mit leiser, sehr eleganter Sprache, seine Figuren beschreibt er behutsam, immer eine gewisse Distanz wahrend. Auch kritischen Themen wie dem der deutsch-niederländischen Aussöhnung nähert er sich mit sehr viel gebotenem Respekt und Feingefühl.

So wie das Ende des Romans offen bleibt, ist auch im Roman selbst bei weitem nicht alles auserzählt. Die Leser mögen die Gelegenheit nutzen, Bruchstücke aus dem eigenen Erinnerungsfundus hinzuzufügen. Auf das, was Marie berichtet, hat sie einen liebevollen Blick, sie ist keine Zynikerin. Auch wenn sie – typisch für ihre Generation – beim Anblick der „Hippies“ im Amsterdam nicht anders kann, als zu denken, ihre Geschichte möge dazu beitragen, dass diese Gestalten erkennen, wie gut sie es doch haben.

Im Roman nimmt die Vater-Tochter-Beziehung einen weiten Raum ein. Viel eher noch als das, was man von einer „Liebesgeschichtenerzählerin“ erwartet, ist er das eigentliche Thema der Marie: der Vater, der nach dem enttäuschten Kaiser-Gehorsam nahtlos zum Gottesgehorsam wechselte und Marie unbewusst im Geiste des calvinistisch geprägten Teils der Niederlande erzog. Aber sei es drum: Ist die Vater-Tochter-Beziehung nicht auch eine Liebesgeschichte? Die, aus der sich weitere entwickeln? Insofern folgt Marie dem Leitsatz ihres altes Deutschlehrers: Schreiben heißt ordnen. Auch einordnen.

Im Zug auf der Rückfahrt von den Niederlanden am Rhein entlang ordnet Marie das Recherchierte in ihr eigenes Leben ein: Sie ist eine Überlebende und sie ist stolz darauf. Marie ist fest entschlossen, noch vor ihrem Fünfzigsten sich im Familienleben einen neuen Platz als „Liebesgeschichtenerzählerin“ zu erobern und keine Rücksicht mehr darauf zu nehmen, was vor den Augen der Eltern und des Ehemanns Bestand haben könnte. Und vor allem will sie nicht mehr den vom Vater eingebimsten Familien-Imperativ „Schlucks runter, schlucks runter“ befolgen. Immerhin.

Friedrich Christian Delius: „Die Liebesgeschichtenerzählerin“. Roman. Rowohlt Berlin. 206 Seiten, € 18,95.




Insider sorgt für Krimi-Spannung: „Das Recht des Geldes“ von Olaf R. Dahlmann

Recht des Geldese Die angehende Juristin Katharina Tenzer beginnt ihr Referendariat in der renommierten Hamburger Kanzlei Hausner, spezialisiert auf Steuerrecht. Katharina stellt sich auf trockenes Aktenfressen ein, doch was sie bekommt, ist ein riskantes Spiel um Leben und Tod. Verschwundene CD’s mit brisanten Steuerdaten, ein ermordeter Anwalt in Liechtenstein und die Spuren weisen zu Friedemann Hausner und seinen Klienten, von denen der Erste ziemlich bald einen Ausweg nur in einer Kugel im Kopf sieht.

Da wird ihr Chef – zufällig? – in einen Autounfall verwickelt und liegt kampfunfähig im Krankenhaus. Aber seine Instinkte funktionieren und so muss er Katharina viel stärker einbinden als geplant. Eigentlich wäre es ihm am liebsten, wenn er die Fäden ziehen und Katharina wie eine Marionette lenken könnte. Doch da hat er die Rechnung ohne die zielstrebige Referendarin gemacht, die ihr eigenes Spiel beginnt. Als ihr klar wird, in welche Gefahr sie sich damit begibt, ist es längst zu spät. Ein Killer ist auf sie angesetzt. Kommt er von der Mafia oder vom Finanzamt? Die Auflösung wird verblüffen.

Mit „Das Recht des Geldes“ hat Olaf R. Dahlmann einen erstaunlichen Debütroman hingelegt. Dahlmann ist in Hamburg ansässig als Seniorpartner einer Rechtsanwaltskanzlei, welche – wer hätte das gedacht – auf Steuerrecht spezialisiert ist. Wie Dahlmann im Nachwort des Romans zu Protokoll gibt, sind zwar die Figuren und die Handlung des Romans frei erfunden, aber sein jahrzehntelanger „Umgang mit Richtern, Staatsanwälten, Steuerfahndern“ haben seine Fantasie nicht unbeeindruckt gelassen.

Hintergründe sind genau recherchiert und zeugen von einer akribisch erworbenen Detailkenntnis. So spannend Dahlmanns erdichteter Plot daherkommt – es ist vor allem diese Realitätsnähe, das Wissen, dass man hier ein Werk eines Insiders liest, welches den eigentlichen Gänsehauteffekt des Buches ausmacht.

Glücklicherweise ging die Liebe zur Realität sprachlich nicht soweit wie der sonstige Blick hinter die Kulissen. Die Loslösung vom trockenen „Juristensprech“ ist Dahlmann ausgesprochen gut gelungen. Er formuliert klar und griffig und sorgt so für einen steten Lesefluss.

Dafür ist er in seinem Erstlingswerk in Punkto Charakterzeichnung auf Nummer Sicher gegangen, da ist noch ziemlich viel Luft nach oben. Schon mit dem schmerbäuchigen Steueranwalt, der davon überzeugt ist, dass Macht alleine ausreicht, um sexy zu sein, hat der Autor tief in die Klischeekiste gegriffen. Gar nicht zu reden vom hölzernen Finanzbeamten, der sich nur mühsam vom Einfluss der verstorbenen Frau Mama befreit und dabei übers Ziel hinausschießt.

Auch die Figur Katharina bleibt in Teilen unbegreiflich. Was genau sie dazu treibt, ihre Zukunft aufs Spiel zu setzen, bleibt unerfindlich. Wird sie zu Anfang noch als kluge Studentin mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn und Idealismus eingeführt, spielt sie sehr schnell Vabanque und erkennt in all ihrer Klugheit nicht einmal, welcher Gefahr sie die aussetzt, denen sie vertraut.

Man darf gespannt auf weitere Werke sein, vielleicht steht mit Dahlmann ja der deutsche Grisham in den Startlöchern.

Olaf R. Dahlmann: „Das Recht des Geldes“. Grafit-Verlag, Dortmund. 374 Seiten, € 12,00.




Ein Hochstapler als Philosoph: Lars Gustafssons letzter Roman „Doktor Wassers Rezept“

Lars Gustafsson sagte über sich selbst, er fühle sich als Philosoph, dessen Werkzeug die Literatur sei. Wie etliche seiner Werke unterstreicht auch sein letzter Roman „Dr. Wassers Rezept“ dies eindrücklich.

Gustafsson war einer der bekanntesten und bedeutendsten Autoren Schwedens, er verstarb im April diesen Jahres im Alter von 80 Jahren. Erst im letzten Jahr erhielt er den Thomas Mann Preis. Seine Dankesrede zur Verleihung ist noch auf seinem Blog nachzulesen. In dieser Rede bekennt er, dass er Thomas Mann auch deshalb bewundere, weil Mann die Trivialität des absurden Lebens aufheben und ihn in eine ganz andere Sphäre versetzen konnte. Diese Worte muten nun nach Gustafssons Tod an, als hätte sich ein Kreis geschlossen. Umso mehr, als mit seinem letzten Buch ausgerechnet die Geschichte eines modernen Felix Krull zu seinem Vermächtnis wurde.

GustafssonDrWasser

Denn Gustafssons „Dr. Wasser“, der seine medizinische Laufbahn als Generaldirektor einer Klinik beendete und sich einen Namen in der Schlafforschung machte, ist gar kein Doktor med. Er ist „nur“ Bo Kent Andersson aus den schwedischen Wäldern, Fensterputzer und Hilfskraft in einer Reifenwerkstatt.

Zu klug für seine kleine Welt

Der junge Bo Kent merkt früh, dass er klug ist, genau genommen: zu klug. Zumindest für das kleine schwedische Karbenning. In der Welt, in die er hineingeboren wurde, hilft ihm Klugheit nicht. Eigentlich müsste für ihn eine andere Welt her. Da findet er eines Tages die Leiche eines schon vor Monaten tödlich verunglückten Motorradfahrers – und dessen Papiere, die den Verunglückten ausweisen als Dr. Kurth Wolfgang Wasser, DDR-Flüchtling und approbierter Mediziner. Dieser Fund gibt ihm einen zufälligen Moment der Freiheit und er verwandelt den „eigentümlich durchsichtigen, fast unsichtbaren schmalen Typ aus Karbenning, die gläserne Mücke“ in einen angesehenen Wissenschaftler.

Er entschied sich für den Identitätswechsel „nicht, weil ich mir besonders viel von diesem anderen versprach, sondern weil die Verführung, die von der Idee eines eigenen freien Willens ausging, unwiderstehlich war“. Nun verbringt er seinen Lebensabend als Gewinner, zumindest legen das die Ergebnisse seines Hobbys – Preisausschreiben in allen erdenklichen Formen – nahe. Aber hat er auch in seinem Leben gewonnen? Das ist die Frage, die ihn nun mit dem nahenden Lebensende vor Augen umtreibt. Kann es ihm wirklich reichen, dass er sich heiter fühlt und nicht unzufrieden?

„Doktor Wassers Rezept“ ist weit mehr als ein Schelmenroman über einen gewieften Hochstapler. Gustafsson erzählt mit der Geschichte seines Helden eine Geschichte über riskante Lügen, sinnliche Lieben und fragile Identitäten. Er folgt dabei allerdings keiner stringenten Chronik. Die Erzählung folgt – ganz Gustafssons Selbstverständnis entsprechend – einzig und alleine seinen philosophischen Gedankengängen. Die Versatzstücke des Lebens des Dr. Wasser werden dabei fragmentarisch nur zur Untermauerung der philosophischen Überlegungen gebraucht.

Dem Leben einen Sinn geben

Doch auch wenn die eigentliche Romanhandlung immer wieder unterbrochen wird, der doch man neugierig folgen möchte, ist „Dr. Wassers Rezept“ ein ungeheuer spannendes Buch. Spannend schon alleine wegen der Fragen, die das Buch aufwirft. Fragen, die sich wohl jeder zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens stellt. Die ganz existentiellen Fragen darüber, wer man ist, wie man zu dem wird, der man sein möchte, ob man überhaupt die Freiheit hat, selber zu bestimmen, wer man ist und welche Verantwortung man damit übernimmt. Noch spannender, weil Gustafsson sich nicht scheut, zumindest in Teilen Antworten zu geben: „Nein, einen Sinn hat das Leben nicht. Aber man kann ihm einen Sinn geben, vielleicht war es das, was ich tat“.

Ganz besonders spannend ist noch eine ganz andere Frage, die der Roman allerdings nur am Rande aufnimmt: Wie konnte Dr. Wasser damit eigentlich durchkommen? Wieso hinterfragte nie einer die doch so offensichtlichen Diskrepanzen in seiner Geschichte? Selbst die, die ihn aus seiner Kindheit noch als Bo Kent kannten, schluckten die phantastische Geschichte von der Adoption durch ein DDR-Ehepaar und fragten nie weiter nach.

Wen kennt man eigentlich wirklich?

„Niemand war wirklich daran interessiert, die Fäden zu entwirren“. Gustafsson findet auch darauf eine Antwort: „Die Menschen füllen Lücken gerne aus. Das ist eigentlich nicht so merkwürdig. Leben ist eine sinnstiftende Aktivität. Leben heisst zu deuten.“ Eine Antwort von bestechender Logik, die eine weitere Frage aufwirft: Wen von unseren Mitmenschen kennen wir eigentlich wirklich und wollen wir ihn überhaupt wirklich kennenlernen? Reicht uns nicht vielmehr das Bild, das wir uns von diesen machen?

Immerhin muss man Dr. Wasser zugute halten, dass er gut war auf seinem Gebiet der Schlafforschung. Er hatte diesen Beruf nicht gelernt, aber er war seine Berufung geworden. Sein Fachgebiet hatte er sich schnell ausgesucht, schien es ihm doch eines der wenigen medizinischen zu sein, auf dem er keinen Schaden anrichten konnte. Hat man auch nicht alle Tage – einen Hochstapler, der keinem je geschadet hat. So zeichnet Gustafsson ganz en passant noch das Bild eines Menschen, auf den ihn in Ansätzen durchaus die Bezeichung „Psychopath“ zutrifft, dem man aber seinen friedlichen, verkreuzworträtselten Lebensabend dennoch gönnt.

Lars Gustafsson: „Doktor Wassers Rezept“. Roman. Hanser Verlag. 144 Seiten, €17,90.




Appetithäppchen aus der Fremde – Dennis Gastmanns „Atlas der unentdeckten Länder“

Atlas der unentdeckten Länder Wenn es einer schwer hat in der durchkarthographierten, digitalisierten Welt des 21. Jahrhunderts, dann ist es der Entdecker und Abenteurer. Die Welt ist vermessen, ganz bequem kann man vom Schreibtischstuhl aus per Mausklick allüberall hinreisen. Was also tun, wenn man im Herzen ein Entdecker und Abenteurer ist?

Der Journalist Dennis Gastmann ist so einer, getrieben von der Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer, will er so schnell nicht klein beigeben. Natürlich weiß er, „dass alle Länder dieser Welt längst entdeckt worden waren“, er weiß „aber auch, wie unerreichbar manche von ihnen scheinen.“ Also macht er sich auf und sucht „das Unbekannte, verborgene Königreiche, verbotene Berge, ferne, vergessene, magische Orte“ wie die tausendjährige Mönchsrepublik Athos. Er überwindet Berge und Ozeane, aber auch ungezählte „bürokratische Schützengräben“. An all dem lässt er den Leser in seinem „Atlas der unentdeckten Länder“ teilhaben.

Unter Haien und in der Wüste

Eingerahmt von sorgfältigen Schwarz-Weiß Illustrationen, die Details aus den Geschichten zeigen, erzählt Gastmann in seinen Reportagen von versinkenden Inseln wie dem einstigen Zufluchtsort der Bounty-Meuterer Pitcairn und von deren eigenwiligem Autarkie-Verständnis. Er taucht mit Haien, kämpft gegen Sandstürme in der Wüste und wandelt auf den Spuren von Tom Hanks, als er tagelang in einem Flughafenterminal kampiert.

Wenn es nicht anders geht, arrangiert sich Gastmann für seine Reise auch mit Staatsformen, die durchaus als mafiös zu bezeichnen sind (und das ist noch wohlwollend). Immerhin kann er von sich sagen, die Gastfreundschaft der Karakalpakstaner genossen zu haben. Ihm ist kein Weg zu weit, um seine journalistische Neugier und seine Entdeckerfreude zu stillen.

Sehnsucht nach dem Abenteuer

Aber was genau er bei all dem herausfinden will, wird nicht ganz klar. Die einzig klare Intention ist es, Abenteuer zu erleben, alles andere bleibt im Ungefähren.

Dennis Gastmann ist ein deutscher Reise-Schriftsteller und Moderator, eine erste größere Öffentlichkeit erreichte er mit gleichermaßen witzigen wie entlarvenden Beiträgen für das Satiremagazin „Extra3“, in dem Gastmann in die Rolle der renitent penetranten Reporterfigur „Dennis“ schlüpfte. Gastmann bezeichnet sich selbst als Gonzo-Reporter. Diese Form von Journalismus charakterisiert sich durch die Berichterstattung aus subjektiver Sicht des Autors, der sich und seine Erlebnisse selbst in Beziehung zum Thema setzt.

Und genauso subjektiv muss man sich auch an die Lektüre dieses Buches begeben. Dennis Gastmann geht es allenfalls am Rande um die Vermittlung von Wissen, Vorwissen wird sogar vorausgesetzt. Besser man hat bei Lektüre immer ein Nachschlagewerk der Wahl zur Hand. Oder ein kleines, feines Kulturportal mit Bildungsanspruch – dann weiß man zumindest im Kapitel über Ladonien, worüber genau der Autor da gerade so wehmütig sinniert.

Schmaler Erkenntnisgewinn

Gastmann ist unbestritten ein sehr genauer Beobachter. Umso bedauerlicher, dass er von seinem mühevollen Reisen meist nur Mikro-Ausschnitte wiedergibt. Letzten Endes ist sein Buch nicht mehr als eine Sammlung von zwar amüsanten flott geschriebenen Anekdoten, deren Erkenntnisgewinn aber marginal ist und sich auf Urteile wie „Wilhelm Bligh, der cholerische Kapitän der Bounty, war ein überforderter CEO“ beschränkt.

Wer vorherige Werke von Gastmann wie beispielsweise seinen Ausflug in die „Geschlossene Gesellschaft“ der Superreichen kennt, vermisst auch die leichte Prise Boshaftigkeit, die seine Werke sonst oft begleiteten. Das geht einerseits in Ordnung, weil er mit viel Respekt auf die schaut, denen er begegnet. Andererseits fehlt aber der kritische Blick auf soziale und politische Mißstände. Den muss sich der Leser schon selbst aus erwähnten Versatzstücken zusammenklauben.

Meinung wird schmerzlich vermisst

Schon beim Titel empfindet man leichte Irritation – das Werk enthält weder genauere Ortsbeschreibungen noch wenigstens eine Karte, die den Titel Atlas rechtfertigen würde. Und dieses Gefühl der Irritation bleibt. Wenn man sich als Leser auf Reisereportagen einlässt, dann will man doch etwas lernen, etwas Neues erfahren. Anekdoten wie die gebotenen bekommt man auf jeder Familienfeier und da ist es irgendwo auch egal, ob sie vom öffentlichen Nahverkehr am Chiemsee oder in Palästina handeln.

Nun könnte man argumentieren, dass die Berichte über unterschiedlichen Lebensstile immerhin die Frage aufwerfen, was uns das über den Rest unserer durchorganisierten Welt sagt. Auch Gastmann stellt diese Frage, aber er geht ihr auch nicht im Ansatz nach. Da ist er – Gonzo hin oder her – klassicher Journalist. Er berichtet und fertig. Dabei wäre die Meinung desjenigen, der wirklich vor Ort war, schon interessanter gewesen als die Meinung, die man sich als Leser nach den servierten Häppchen selber bildet.

Dennis Gastmann: „Atlas der unentdeckten Länder“. Illustrationen von Harry Jürgens. Rowohlt Berlin. 267 Seiten, €19,95.




Alles steht kopf – Thomas Schweres macht mit dem Krimi „Die Abdreher“ das große Fass auf

Die Abdreher Vier frisch abgetrennte Männerköpfe auf dem Fensterbrett einer Wohnung in der Dortmunder Nordstadt. Und gesehen hat natürlich keiner was. Wirklich keiner? Der Jagdinstinkt des Polizeireporters Tom Balzack ist geweckt. Da müssen sich doch Augenzeugen auftreiben lassen, besser noch ein Video. Und am allerbesten, wenn es zu diesem Video noch ein bisschen journalistischen Beifang gibt, mit dem man Mafiabosse an die Angel kriegt.

Blöd allerdings, wenn die Mafia noch der angenehmste Gegner ist und man vor lauter Recherche gar nicht gewahr wird, wer die eigentlichen Hintermänner sind und mit wem man sich da noch alles anlegt. Mit dem IS zum Beispiel. Oder mit der Dortmunder Polizei in Gestalt des mürrischen, aber fähigen Kommissar Schüppe und seinem in der rechten Szene agierenden Undercover-Agenten.

Noch blöder, wenn man auf allen Abschusslisten steht und dadurch ganz prima als Köder für Schüppe und Co. fungieren kann, selbst aber der Letzte ist, der das mitkriegt.

Mit „Die Abdreher“ schickt Thomas Schweres zum dritten Mal den kauzigen Schüppe und den umtriebigen Balzack auf Verbrecherjagd – und nicht nur das Cover steht auf dem Kopf. Die ganze Welt scheint aus den Fugen geraten.

Nichts ist, wie es scheint und alles hängt mit allem zusammen. Passt gut auf den Schauplatz Ruhrgebiet, hier mischt sich ja von jeher alles mit allem und das gilt natürlich auch für das Verbrechen. Und wo der Autor schon einmal dabei ist, das ganz große Fass aufzumachen, findet sich auch noch Platz für die Genderdebatten: Als Tribut an den Feminismus gibt es eine eiskalte Auftragskillerin und mit dem Märchen von den angeblich nicht existenten gesetzesfreien Zonen räumt Schweres direkt mit auf. Zur Auflockerung gibt es ein paar boulevardeske Gestalten, deren real existierende Vorbilder unschwer zu erkennen sind.

Schweres gibt sich mit diesem überbordenden Füllhorn an Themen, die er da über den Leser ausschüttet, selbst genug Gelegenheit, sich zu verzetteln – aber er kriegt immer die Kurve. Hat man erst einmal alle handelnden Personen verinnerlicht, liest es sich trotz der überbordenden Ereignisse leicht. Der langjährigen Berufserfahrung der Reporters Schweres sei Dank. Verkürzen, zusammenfassen und schnell wieder zurück auf den Punkt kommen, das kann er.

„Die Abdreher“ sind noch etwas düsterer als ihre Vorgänger. Zu aktuellen Geschehnissen wie der „Flüchtlingskrise“ und der Bedrohung durch den IS eröffnet Schweres neue Blickwinkel. Glaubwürdig zeigt er, dass auch Allianzen funktionieren, die auf den ersten Blick absurd anmuten, möglicherweise motiviationsbedingt aber logisch sind. Denn ein Krieg, eine Krise entsteht nur vordergründig aus Ideologien und Glaubensfragen, letztendlich geht es immer nur um Macht und Geld. Wie nahe Schweres mit seiner Romanhandlung der tatsächlich vorhandenen Bedrohung kommt, zeigte sich just diese Woche mit mit dem erschreckenden Anschlag auf den Tempel der Sikh in Essen.

Wie schon in den vorangegangen Bänden spricht Schweres unerschrocken das aus, was viele wissen, alle ahnen, was aber nur allzu gerne unter den Tisch gekehrt wird. Er legt seine Finger in die Wunden des Reviers und spricht Klartext. Seine geschickt in die Romane eingebauten Erkenntnisse aus seinem real existierenden Reporterleben wiegen umso schwerer, als Schweres selbst aus dem Ruhrgebiet ist und es erkennbar liebt. Trotz allem. Wegen allem.

Dennoch sind Schweres‘ Krimis nicht nur etwas für die Freunde der spannenden Ruhrpott-Literatur. Die Handlung spielt hier, kann auch nur hier spielen, aber Lesefreude dürfte auch weit über das Revier hinaus aufkommen. Und das bisschen Ruhrpottsprech in den Dialogen schaffen auch Auswärtige.

Bei aller Düsternis bleibt aber auch dieses Mal der Humor nicht auf der Strecke. Dafür kennt der Medienprofi Schweres sein Publikum zu gut. Etwas Auflockerung muss sein. Und wenn sie in der Gestalt des Labradoodles Renault daherkommt. (Renault, weil er auch nicht anspringt. Haha. Aber geschenkt. Verbuchen wir es unter der alten Ruhrpottweisheit: Mit ’nem guten Plattwitz kriegste allet aufgelockert). Auch aktuelle Steilvorlagen wie die verunsichernden Teile einer Antwort lässt der Medienprofi nicht ungenutzt.

Eine reizvolle, willkommene Abwechslung bei Lektüre sind wieder die kleinen Blicke durchs Schlüsselloch des Boulevards. Wobei Schweres da immer respektvoll bleibt und Grenzen nicht verletzt. Man darf mit einiger Sicherheit annehmen, dass beispielsweise das reale Vorbild für Gloria Wolkenstein ihr im Buch auftauchendes Alter Ego durchaus goutiert. Zumal ausgerechnet sie entscheidend zur Aufklärung beitragen wird. Gut für die Kommissare, gut für sie. Kann sie so doch unbelastet in ein Dschungelabenteuer starten. Ausgang zum Zeitpunkt der Krimi-Entstehung noch ungewiss.

Thomas Schweres: „Die Abdreher“. Grafit Verlag, Dortmund. 280 Seiten, 11 Euro.




Zeitlose Kultband „Element of Crime“ machte im Münsteraner „Jovel“ ihren Job

„Wenn der Wolf schläft, müssen alle Schafe ruhen“ – ist das neue „Wenn der Kuchen spricht, schweigt der Krümel“, nur nachdrücklicher. Dieser Songtitel scheint das derzeit beliebteste Zitat bei den Bandmitgliedern von „Element of Crime“ zu sein. Schon im letzten Jahr wurden müde Tatort-Zuschauer damit aus ihrem verkaterten Neujahrs-Dämmerschlaf gerissen, die Webseite der Band macht damit auf und betritt man eine EoC-Konzert-Location, ist das Erste, was man sieht, Klamottage mit diesem Spruch.

Element of Crime gastierten am Donnerstag in Münsters nach wie vor famoser Music-Hall Jovel; nicht ohne vor dem eigentlichen Konzertbeginn einer hoffnungsvollen Nachwuchsband die Chance des Vorgruppen-Acts zu geben. Bei der aktuellen Tour ist es „Von Wegen Lisbeth“ aus Berlin, die zunächst einmal den Altersdurchschnitt in der Halle rapide senkte, vor allem aber mit funkigem Indie-Pop und rasantem Instrumentenwechsel gut ankam. Durchweg „nice“ wie die Jungs wohl selber sagen würden, folgt man ihrem amüsanten Tourblog.

Die Bühne für die Elements ist danach gut bereitet. Die Combo, nach dem gleichnamigen Kultfilm von Lars von Trier benannt, hat einen sehr eigenen und auch einzigartigen Stil in der deutschen Singer-Songwriter-Szene etabliert und das Kunststück fertig gebracht, gleichermaßen vom Publikum und vom Feuilleton gefeiert zu werden.

Melancholisch, aber nicht düster

Die Stücke leben musikalisch von einem unaufdringlichen, aber stets zielsicher führenden Rhythmus, den bei Indie-Gruppen üblichen schrammelnden Gitarren und den Bläser-Elementen, die einen an Wim-Wenders-Engel denken lassen – und natürlich von der rauen, man möchte fast sagen verlebten Stimme des Frontmanns Sven Regener, die auch zunächst „unsingbar“ wirkende Texte berührend zu intonieren weiß. „Element of Crime“ sind im besten Sinne eine zeitlose Kultband mit einer treuen Fangemeinde. Auf ihrer Homepage bezeichnen sie sich selbst als Melancho-Rocker, das trifft es ganz gut. Melancholisch, aber nicht düster, sondern hoffnungsfroh.

Das Spannendste an den Stücken sind die großartigen Texte. Bei Sven Regener stellt sich sowieso allenfalls die Frage: Mag man seine Bücher lieber oder doch seine Songtexte? Seine Texte handeln von den Mysterien des Alltags und was sie mit den Menschen machen. Aus alltäglichen, jedermann bekannten Situationen zieht Regener ganz erstaunliche Rückschlüsse, die einen in einer merkwürdigen Gefühlsgemengelage zwischen verzaubert und verstört zurücklassen. Selbstironisch wird Weltfremdheit absichtlich zelebriert, obwohl die Musiker ganz genau wissen, wie es läuft.

Das perfekte Liebeslied

Betroffenheits-Rock und politische Statements findet man so gut wie nie. Wobei die Darbietung des Titels „Draußen vor dem Fenster“ aus dem Jahr 1993 gerade vor dem Hintergrund aktueller Geschehnisse erschreckend aktuelle Assoziationen heraufbeschwor. Und immer wieder ist natürlich Liebe ein Thema, Liebe und ihre Ausweglosigkeit. Liebe kann man nicht erklären, aber beschreiben kann man sie. Vor allem Sven Regener kann das, im Herzen vermutlich ein ungebrochener Romantiker. „Am Ende denk ich immer an Dich“ ist das perfekte Liebeslied. Alleine dafür gebührt den Elements ewiger Dank.

Die vier Stamm-Musiker (Regener, Jakob Ilja, David Young und Richard Pappik) werden bei der aktuellen Tour wie schon im Vorjahr von Rainer Theobald (Klarinette, Saxophon) unterstützt. Alle sind sehr gute Musiker, die auf der Bühne einen ausgezeichneten Job machen. Aber es schleicht sich der Eindruck ein, dass es genau das ist, was sie da machen: ein Job. Ausgezeichnet zwar, aber trotzdem ein Job.

Keine Überraschungen

Übertriebene Nähe zum Publikum gehört definitiv nicht zum Grundanliegen der Musiker, um es vornehm auszudrücken. Was nicht weiter schlimm ist. Aber worauf sich der geübte Rockkonzert-Gänger doch vor einem Konzert freut, sind Überraschungen. Neu-Interpretationen, Zusätze, verlängerte Soli bei den Stücken. Bei Element of Crime bedauerlicherweise Fehlanzeige. Geboten wird seltsam unbeteiligte Perfektion, nur ganz selten unterbrochen von einer zu hohen Aussteuerung, die leider gerade der Stimme Regeners nicht gut bekommt.

Die Darbietung auf der Bühne ist an Statik nicht zu überbieten und macht es schwer bis unmöglich, alle Musiker wenigstens einmal in Augenschein zu nehmen. Hat man einen blöden Platz und richtet sich der Vordermann plötzlich zu ungeahnter Körpergröße auf, hat man eben einen blöden Platz und Ende. Wer darauf hofft, dass das ein oder andere Bandmitglied mal seine Position verändert, der hofft vergebens. Bei Sven Regener wird es wohl der Tatsache geschuldet sein, dass er auf der Bühne den mit Abstand stressigsten Job macht. Dauernd zwischen Trompete und Gesang nahezu übergangslos wechselnd, maximal einen Atemzug lang Zeit, Luft zu holen. Dass er da nicht den Tanzbären gibt und Ansagen macht, die „kein Mensch braucht“ (O-Ton Regener), sieht man sogar ein.

Entlassen wurde das Publikum mit der inoffiziellen Hymne der norddeutschen Tiefebene („Delmenhorst“) und der erleichternden Beobachtung, dass keine E-Gitarren-Aufhängung gerissen ist. Es gab wohl genug Craft-Bier samt altmodischer Gummidichtungen*. Das freut dann doch.

„Element of Crime“ tourt in diesem Jahr noch außerordentlich fleißig. Termine auf der Homepage der Band.

(* bezieht sich auf ein in dieser Woche in der FAZ erschienenes „Bier-Dramolett“ von Sven Regener)




Dauerempörung und blasse Endzeitvision: Karen Duves Roman „Macht“

DuveMachtFrauen regieren die Welt und haben alle Schaltstellen der Macht besetzt. Nur Olaf Scholz hat es wie durch ein Wunder geschafft, Bundeskanzlerin zu werden. Die Wunderpille Ephebo sorgt für ewig jugendliches Aussehen, Nebenwirkungen wie Krebs spielen keine Rolle mehr, da der Menschheit aller Voraussicht nach – dem Klimawandel sei Dank – eh kein ganzes Jahrtausend mehr zum Überleben bleibt.

Und weiter: Religiöse Fanatiker freuen sich über massenhaften Zulauf und wer von den Männern es gar nicht mehr ertragen kann, der kettet seine Gattin einfach im Keller an, gibt sie als vermisst aus und hat wenigstens für die letzten Jahre auf Erden eine Sklavin, die ihm seine Lieblingskekse backt und auch sonst zu Diensten ist…

So ungefähr sieht es mit den „Macht“-Verhältnissen im Jahre 2031 aus, wenn es nach dem neuen Roman der Streitschrift-freudigen Autorin Karen Duve geht.

Die Männer sind an allem schuld

Während der Arbeit an diesem Roman erschienen der Autorin die herrschenden Machtverhältnisse der Gegenwart wohl so schrecklich, dass sie die Arbeit an „Macht“ für das ihr dringend gebotenes, als Essay gedachtes Werk „Warum die Sache schiefgeht – Wie Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen uns um die Zukunft bringen“ unterbrach. Der Zusammenbruch der Zivilisation war ihr Thema, sekundär infolge der Klima-, Energie- und Flüchtlingskrisen, primär verursacht durch die „jahrtausendealten Schimpansenregeln schamloser aggressiver und gemeiner“ – na klar – Männer.

Bedauerlicherweise scheinen der Kraftakt dieses Essays und die folgende Talkshow-Tour einen Teil ihrer Kräfte verbraucht zu haben, denn die Beschreibung der dystopischen Welt, in der sie „Macht“ ansiedelt, erschöpft sich in Effekthascherei. Im Wesentlichen begnügt sie sich mit der Fortschreibung schon heute existenter Zustände: Hitzewellen, Gletscherschmelze, Wirbelstürme. Garniert mit alles überwucherndem gentechnisch manipuliertem Raps und Killerfliegen, das Ganze eingezwängt in ein Korsett aus Staatsfeminismus und Veganismus, verziert mit besagten Wunderpillen. Für ein als Endzeitroman beworbenes Werk eine ausgesprochen dürftige blasse Vision, in der die Ausgestaltung künftiger Namensgebung noch die meiste Aufmerksamkeit bekommen zu haben scheint.

Weltuntergang? – Halb so schlimm

Ein guter Endzeitroman vermag durch realistisch erscheinende, bedrohliche Visionen Betroffenheit und vielleicht sogar Bereitschaft zum Umdenken zu erzeugen. Karen Duve hingegen erzeugt nur Überdruss und Langeweile, davon allerdings eine Menge. Noch dazu ist die in der Vision angesiedelte Handlung derart unausgegoren, dass es genug Leser geben dürfte, die das Buch mit dem Gedanken beenden: naja, gut, die Welt geht unter, aber so schlimm wird es schon nicht. Die Gestalten in dem Buch arrrangieren sich ja auch alle irgendwie damit. Auch davon, was Gefangenschaft in einem engen Raum mit Menschen macht, hat man schon wesentlich aufwühlender gelesen – sei es in der Fiktion als auch in der Berichterstattung über real existierende Verhältnisse.

Die überschaubare Handlung wird erzählt aus der Sicht von Sebastian, genannt Bassi, der eine Sklavin hält. Doch auch dieser Ansatz, die Gedankenwelt eines Psychopathen zu erkunden, verliert sich im Ungefähren. Schon alleine deshalb, weil „Bassi“ unglaublich eindimensional daherkommt und man kaum glauben mag, dass ein so simpel gestrickter Mensch eine ruhmreichere Vergangenheit als Aufrüstungsgegner in seiner Biographie zu verzeichnen hat.

Der Weltuntergang an sich ist Bassi relativ egal, das größte Problem des armen Tropfes ist mangelnde Bewunderung. Ein klassischer Langeweiler, der sich in Allmachtsphantasien steigert und diese letzten Endes noch auslebt. Leider ziemlich phantasielos: Man erinnere sich, die Kekse! Immerhin bringt ihn das zu der nicht gerade neuen Erkenntnis, dass „Macht nie so gut ist wie in den Momenten, wo man sie mißbraucht“.

Wut allein schreibt keine Bücher

Man fragt sich nach der Lektüre ernsthaft, was Karen Duve mit diesem Buch erreichen wollte. Alleine an der so enttäuschend mager ausgestatteten Utopie lässt sich ablesen, dass es ihr wohl nur vordergründig um eine gesellschaftskritische Mahnung ging. Analyse geht anders, ja, es sind letzten Endes nicht einmal Thesen, die sie aufstellt. Es sei denn, man akzeptiert als Kernbotschaft die übrig bleibende Aussage, dass alle Männer böse sind und unfassbar blöde.

Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass die Autorin ihr Werk dazu genutzt hat, selbst einmal ein ungeniertes Machogehabe ausleben zu können. Alles zusammengenommen wirkt „Macht“ wie eine dauerempörte Hetzschrift gegen Männer, nur notdürftig getarnt als Gesellschaftskritik und feministische Streitschrift. Beiden Anliegen hat Karen Duve damit keinen Gefallen getan. Vor allem der Sache der Frauen stünde etwas mehr Differenzierung und weniger ermüdendes Lamento gut zu Gesicht. Mit aufgewärmtem Tante-Emma-Feminismus holt man heute keinen und keine mehr hinter dem Ofen hervor, schon gar nicht die „Aufschrei“-Feministinnen im zwitschernden Neuland.

Das alles ist umso bedauerlicher, als Karen Duve im Grunde eine wirklich begabte Erzählerin ist. Sie kann mit Sprache umgehen, sie erzählt flüssig und eigentlich kann sie auch Figuren gut zeichnen. Doch in „Macht“ siegt das Lamento. Selbst die obligatorische Danksagung am Ende entfällt zugunsten nickeliger Kritteleien, die einmal mehr erahnen lassen, wie schwer Frau Duve an der Ungerechtigkeit leidet. Auch als Parodie auf Menschen, die die Ungerechtigkeit der Welt beklagen und die Schuld grundsätzlich nur bei anderen suchen, taugt der Roman eher weniger, denn selten hat es ein humorbefreiteres Werk gegeben. Nur Wut allein schreibt keine Bücher.

Karen Duve: „Macht“. Verlag Galiani Berlin. 416 Seiten, € 21,99.




Etwas wehmütig, aber zuversichtlich: „Förster, mein Förster“ von Frank Goosen

Förster, mein Förster Förster, Schriftsteller mit Schreibhemmung, steht ganz kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag. Tja nun, so kann es gehen: Gerade noch jung und knackig, das Leben liegt vor einem, findet man sich plötzlich in einem Alter wieder, in dem man einsieht, dass Stracciatella und Pistazie ganz schlecht zusammenpassen.

Auch wenn er sich noch so oft einredet, dass es ein Geburtstag wie jeder andere ist und nicht wichtiger als der ein Jahr zuvor – er kommt doch ins Grübeln. Die Vollendung des halben Jahrhunderts ist einfach „der Tag, ab dem man sich nichts mehr vormachen kann“.

Wenn er mit sich selbst spricht, dann redet er sich gerne in der Tradition des berühmten Gedichts von Walt Whitman an: „Förster, mein Förster“. Zum Captain („O Captain! My Captain!“) hat er es bis jetzt noch nicht so ganz gebracht, das gesteht er sich selber ein – aber wenigstens gehört er noch nicht zum Club der toten Dichter. Auch wenn in naher Zukunft eine Gewebeentnahme dräut.

Seine Freundin Monika treibt sich auf den äußeren Hebriden herum, während die „Ex“ Martina es zwar zur bundesweit beliebten Tatort-Kommissarin gebracht hat, am liebsten aber mit Förster zurück in die muffigen Theaterkeller ihrer Jugend möchte. Seine Freunde Brocki und Fränge, mit denen er seit der Schulzeit eine herzliche Männerfreundschaft pflegt, sind auch keine große Hilfe. Fränge ist kurz davor, seine Ehe an die Wand zu fahren und Brocki tut immer noch alles, um cool zu wirken. Auch die Gespräche mit dem alten Nachbarn Dreffke und dem wohlstandsverwahrlosten Jugendlichen Finn bringen Förster nicht weiter.

Niemand weiß, wohin die Lebensreise gehen soll

Sie alle wissen nicht, wohin genau ihre Reise gehen soll. Das Einfachste wäre es abzuhauen, nach Iowa zum Beispiel oder am allerbesten ganz weit weg ins Outback. Aber zur Not tut es auch die Ostsee. An eben diese wird die leicht demente Nachbarin Frau Strobel von einer Jugendfreundin gerufen, die ganz dringend noch einmal die unvergessene Tanzkapelle Schmidt wiederbeleben muss. Frau Strobel kann zwar die Tücken des Alltags nicht mehr ganz so gut bewältigen, ein glasklares „Ganz Paris träumt von der Liebe“ aber entlockt sie ihrem Saxophon noch immer. Vorzugsweise mitten in der Nacht.

Da gerade alle nicht viel Besseres zu tun haben, steigt diese ungleiche, bunt zusammengewürfelte Gesellschaft kurzerhand in Fränges halb fertig restaurierten Bulli und begleitet Frau Strobel bei ihrer Reise in eine ruhmreichere Vergangenheit. Und wie das eben immer so ist, wenn eine Geschichte zum Road Trip wird, ist der Weg das eigentliche Ziel. Zumal die Zwischenstopps „praktisch direkt auf dem Weg liegen“.

Chronik der Babyboomer-Generation

Der Bochumer Schriftsteller und Kabarettist Goosen wird gerne als Chronist der Ruhrgebiets-Gegenwart bezeichnet. Er schreibt aber auch noch eine ganz andere Chronik: die Chronik seiner Generation, der sogenannten Babyboomer. Goosens erster Roman „Liegen lernen“ erzählte von der ersten großen Liebe in den frühen 80ern, „Pink Moon“ und „Mein Ich und sein Leben“ vom Erwachsenwerden im sich wandelnden Ruhrgebiet, „So viel Zeit“ vom Angekommensein und sich Abfinden mit dem Erwachsensein rund um den 40 Geburtstag. Mit „Förster, mein Förster“ (erscheint heute, am 18. Februar) erzählt er nun von Freunden, die auf ein halbes Jahrhundert zurückblicken – selbst erste Gedanken an die Rente werden zaghaft zugelassen, begleitet von einer Mischung aus Melancholie und Wehmut nach „früher“.

Und dann dieser Bulli. Das knuddelige Gefährt hat in den letzten Jahren ein Comeback hingelegt – als Symbol der Sehnsucht nach vergangenen unbeschwerten Tagen. Erstaunlich, aber auch logisch: Mehr Freiheit als in den 70ern und den frühen 80ern hatte diese Generation schließlich nie und wird sie auch nie wieder haben. So ziert der Bulli nicht nur in sattem Bochumer Blau-Weiß das Cover – er spielt auch eine tragende Rolle in Frank Goosens neuem Roman „Förster, mein Förster“. Fränge, der von allen Freunden am stärksten mit der Midlife-Crisis zu kämpfen hat, hat sich diesen Bulli zugelegt. Hier ein Schräubchen festziehen, da etwas festklopfen, dann noch ein Gestell rein und ab dafür – weg, einfach weg, einem neuen Leben, einem neuen Aufbruch entgegen.

Mediale Verwertungskette

Keine Frage: Etliches kommt einem bekannt vor. Aber – das ist nun mal so heutzutage. Nichts, was nicht schon besungen, verfilmt oder erzählt wurde. Da hält Goosen es ganz pragmatisch mit der alten Weisheit: Man kann das Rad nicht neu erfinden, man kann ihm allenfalls neuen Schwung geben. Er dreht sein Rad im Surrealismus des Alltags, er sieht die Komik im Absurden. Allerdings kann man sich während der Lektüre des Eindrucks nicht erwehren, dass Frank Goosen seine Romane mittlerweile durchaus mit Blick auf die weitere mediale Verwertungskette schreibt. Goosens Werke sind ja zusehends zu einer Art Gesamtkunstwerk avanciert. „Liegen lernen“ wurde mit großem Erfolg verfilmt, „Radio Heimat“ und „Sommerfest“ sind gerade in der Kino-Mache, „So viel Zeit“ wurde mit kommerziellem Erfolg am Theater Oberhausen dramaturgisch aufbereitet. Fester Bestandteil seiner eigenen Bühnenprogramme sind seine Bücher sowieso.

„Förster, mein Förster“ bereitet dies schon vor. In dem ohnehin sehr dialoglastigen Roman wurde die ein oder andere Passage direkt schon als Drehbuch geschrieben. Die Geschichte verliert so zwischenzeitlich an Schwung und liest sich streckenweise hölzerner, als man es von Frank Goosen gewohnt ist. Die besten Passagen sind jene, in denen Förster seinen Gedanken freien Lauf lässt oder sich die Freunde in bewährter Manier kabbeln, eben immer dann, wenn er frei von der Leber weg schreibt. (Wie auch auf der Bühne seine stärksten Momente immer die sind, wo er vom Skript abweicht.)

Dennoch: Goosens Werke und auch „Förster, mein Förster“ sind Lichtblicke, weil sie ungebrochen hoffnungsfroh Zuversicht vermitteln. Seine Protagonisten kommen zwar bisweilen etwas melancholisch rüber, düstere Melancholie war jedoch noch nie Frank Goosens Ding. Bei ihm ist es eher eine sehnsüchtige, zuversichtliche Melancholie. Es bleibt abermals die Erkenntnis, dass Musik Leben nicht nur begleiten, sondern auch retten kann, zum anderen die Beschwörung der Kraft der Freundschaft.

Frank Goosen: „Förster, mein Förster“. Roman. Kiepenheuer und Witsch. 333 Seiten, €19,99.




Experiment mit bösem Ende – Judith Kuckarts Roman fordert die Leser heraus

Kuckart BelgienEin gerade mal achtzehn Jahre alter Klavierschüler, der sich nicht so recht traut, sein Leben zu beginnen, bis es in Gestalt einer Frau in Polizeiuniform einfach zu ihm kommt. Abschiedsbriefe, in denen um die Rückgabe zurückgelassener Pfandflaschen gebeten wird. Zwei alte, nicht mehr ganz lebenstüchtige Damen, die einem Klavierlehrer Asyl in der Besucherritze ihres Hotelbettes gewähren. Ein Wunschkind, das nie geboren wird.

Und weiter: eine Schauspielerin, die mangels Engagement ihre Rollen im normalen Leben spielt. Und eben immer wieder der Klavierlehrer, der damit hadert, niemals Pianist gewesen zu sein. Der Klavierlehrer, mit dem auch alles begann – aber das erfährt man erst ganz zum Schluss.

Skurrile Gestalten in verschiedenen Stadien des Zweifelns bevölkern einen Reigen aus elf Episoden, aus denen sich Judith Kuckarts Roman „Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück“ zusammensetzt. Die in Schwelm geborene Absolventin der Folkwang Akademie für Tanz erzählt von flüchtigen Momenten, kurzen Begegnungen und von Wendungen durch unerwartete Momente, von Menschen, die „etwas Besseres verdient haben als die Wahrheit“. Manche dieser Menschen suchen ihren Platz im Leben, andere sind (vermeintlich) dort gerade angekommen, wieder andere sind auf dem Sprung, diesen Platz oder auch gleich das ganze Leben zu verlassen.

Zunächst wirken die Erzählungen wie unabhängig voneinander existierende Kurzgeschichten – erst allmählich erkennt man die (oft nur in Nebensätzen hingeworfenen) Zusammenhänge. Es ist ein spannendes Experiment, einen Roman wie einen aus short cuts zusammengesetzten Kinofilm zu schreiben.

Mit Interpretationen werden die Leser nie belästigt, dafür wissen sie mehr, als die handelnden Personen je erfahren werden. So kann man erkennen, dass nicht nur jeder mit jedem über wenige Ecken zusammengehört, sondern auch Liebe und Tod, Leid und Lust und immer wieder die Schuld zusammengehören. Auch wenn man dafür durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück.

Nur auf den ersten Blick besteht die Herausforderung darin, aufmerksam zu sein und die Fäden zusammenzufügen. Das jedoch ist weniger eine Herausforderung als eine Freude. Die viel größere Herausforderung für den Leser besteht darin, sich elfmal in eine neue Geschichte, in neue Personen einzufinden. Judith Kuckart ist bekannt für eine sehr zurückhaltende, vorsichtige Erzählweise und eine sehr langsame, nie die Distanz aufgebende Annäherung an ihre Charaktere. Dieser Schreibstil erschwert den Zugang. Hat man diesen aber erst einmal gefunden, entfalten ihre Romane einen betörenden Sog.

Es braucht fast immer mehr als die Hälfte einer Erzählung, bis man so halbwegs „drin“ ist – nur um kurz darauf erneut mit dieser Mühe zu beginnen. Der Erzählstil der Autorin ist eigentlich angenehm zurückhaltend, lyrisch und auf seine kühle Art durchaus auch berührend, für den vorliegenden Episodenroman aber denkbar ungeeignet. Der Roman ist zwar klug komponiert, aber man braucht nicht nur Geduld. Es braucht auch eine Menge guten Willen, der oft genug auch noch dadurch auf die Probe gestellt wird, dass die Vorgehensweise der Autorin, sich ihren Charakteren über die Oberfläche zu nähern, zu oft dazu führt, dass sie in Stereotypen verharrt.

Hat man aber durchgehalten und sich auch von der Erwartungshaltung gelöst, dass alle Fäden zusammengeführt werden, entschädigen die letzten beiden Abschnitte für die Mühe. Es schließt sich ein Kreis, wenn auch anders und bestürzender als gedacht und erhofft. Die letzte Episode gehört Katharina, der glücklosen Schauspielerin und Joseph, dem Klavierlehrer. Zwei Personen, die dem Schreibstil der Autorin entsprechen – rätselhaft, unnahbar, aber das Gegenüber in den besten Momenten in einen Sog hineinziehend, der für ein böses Ende sorgt. Dieses Ende beginnt mit einem gewagten Theaterexperiment, dem ein Experiment des Zusammenlebens folgt. Die auch vorher schon immer wieder aufgeworfene Frage nach der Bedeutung von Heimat gipfelt schließlich in dem Versuch, in einer Sehnsucht sesshaft zu werden.

Judith Kuckart: „Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück“. DuMont, Köln, 219 Seiten, €19,99.




Liebevoll-ironische Würdigung des Künstlers: Tilman Spengler über Jörg Immendorff

Jörg Immendorf war (und ist) einer der bedeutendsten deutschen Künstler der Gegenwart. Sein Schaffen umfasst Malerei, Bildhauerei, Grafik und Aktionskunst. Er starb 2007, in seinen letzten Jahren galt er als Begründer einer neuen deutschen Historienmalerei, immer aber hatte sein Werk politischen Bezug und gesellschaftskritischen Inhalt. Bevor er an amyotrpher Lateralsklerose („ALS“) erkrankte, führte er ein schonungsloses, in der Außenwirkung ab und an auch exzessives Leben. Ausgelassen hat er jedenfalls wenig.

Der gebürtige Oberhausener Tilman Spengler ist ein vielfach ausgezeichneter deutscher Publizist. Einem breiterem Publikum ist der studierte Politikwissenschaftler und Sinologe wohl durch die Fernsehreihe „Klassiker der Weltliteratur“ bekannt.

Spengler/ImmendorffMit seinem Buch „Waghalsiger Versuch, in der Luft zu kleben“ hat Tilman Spingler nun seinem verstorbenen Freund Jörg Immendorf eine ganz besondere Schrift gewidmet. Es ist eher eine fiktionale als klassische Biographie, aber von Wahrheit und Wahrheiten geprägt. Spengler zeichnet ein persönliches und sicher gerade dadurch wahrhaftiges Bild des Jörg Immendorff und der Zeit, in der der Künstler lebte, an der er litt und die er prägte.

Das Buch gliedert sich in 15 Tableaus, beginnend mit der Taufe Immendorffs, endend mit seiner Trauerfeier. Jede Station ist eine Hommage an den großen Künstler. Nicht moralinsauer, auch nicht moralisierend, sondern – schlicht und einfach vergnüglich. Spengler beherrscht die große Kunst des zärtlich-ironischen Erzählens, der waghalsige Versuch würdigt Immendorff ebenso, wie er ihn und den um ihn herum irrlichternden Politik- und Kulturbetrieb auf die Schippe nimmt. Man spürt die Verehrung, aber auch die Freundschaft, die Spengler Jörg Immendorff entgegenbringt, in jeder Zeile. Ebenso wie das Vermissen.

Spengler schreibt Immendorff folgende Interpretation des Begriffes Kunst zu: „Wenn man beim Betrachten oder Hören oder auch beim Lesen eines Werkes der Kunst nicht an Kunst denken muss, und zwar keine einzige, nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde lang, erst dann begreift man Kunst.“ Immendorffs Werke waren so, genau so. Man sah seine Werke und dachte nicht darüber nach, wie der Künstler das wohl und womit geschaffen hat, sondern man war davon berührt (oder auch nicht) und dachte darüber nach, wie man mit dem, was dieses Werk einem sagte, umgehen wolle. Immendorffs Kunst war alltagstauglich in einem guten Sinne.

Graffito von Jörg Immendorff (©Foto aufgenommen von B. Langhoff in Blavand - DK, Mai 2015)

Graffito von Jörg Immendorff (©Foto aufgenommen von B. Langhoff in Blavand – DK, Mai 2015)

Eine persönliche Anmerkung: Im dänischen Blavand steht an dem Strand, an dem sich Nordsee und Wattenmeer trennen, ein alter Bunker. Diesen Bunker ziert – siehe Foto – ein Graffito von Jörg Immendorff, dem Cover des Buches verwandt. Ich fand es in einem Urlaub dort großartig, jeden Tag daran vorbeizugehen und es sprach mich, die ich vieles, aber keine Kunstkennerin bin, auf eine sehr besondere Weise an. Wir betitelten das Graffiti als den „Friedensaffen“ und ganz gleich, was immer Immendorff auch zu diesem Zeichen bewog, das ist für mich Kunst, die mich berührte und die ich für mich begreifen konnte.

Genauso ergeht es einem nun mit dem Buch Tilman Spenglers. Man liest es gerne, man liest es neugierig, man denkt über den Künstler und seine Intentionen nach. Eines der schönsten, liebevollsten Bücher des Jahres.

Tilman Spengler: „Waghalsiger Versuch, in der Luft zu kleben“. Berlin Verlag, 160 Seiten, 18 €.




„Mörderische Mandelhörnchen“ – Krimi-Spürnase Maria Grappa stillt den Hunger

Schön gemütlich eingemuckelt auf der Couch liegen. Ein gutes Buch in den Händen halten. Klammheimlich denken: Och ja, jetzt watt zu schnuckern, datt wär et doch. Sie kennen das.

Besonders perfide ist dieses latent unterschwellig vorhandene Hüngerchen, wenn ein Krimi die Säfte so richtig fein in Wallung bringt. Was gäbe man da nicht um ein bißchen Nervennahrung. Noch perfider kann das Gabriella Wollenhaupt. Ihre Hauptfigur, die patente Polizeireporterin und Nebenbei-Kriminalistin Maria Grappa, ist den leiblichen Genüssen zugeneigt, gerne und oft geht es in den Grappa-Krimis ums Essen. Mal wird im Bierstädter Freundeskreis lecker gekocht, mal holen die Kollegen sich was Nettes vonne Bude, mal wird ein Liebhaber verwöhnt, mal hat ein Verdächtiger ein Sterne-Restaurant und muss natürlich vor Ort observiert werden.

Mörderische Mandelhörnchen Mal abgesehen von dem kleinen Hunger, der einen dann überfällt, machten die von Frau Grappa verschnabulierten Speisen immer schon auch neugierig. Rezept wäre schön, denkt man da so bei sich, die hungrigen Mäuler, die man so zu stopfen hat, wären einem dekadenten Mandelkuchen gewiss auch nicht abgeneigt. Doch weder hilft die Suchmaschine der Wahl noch der Chefkoch im Internet, wenn man wissen will, wie man sie fabriziert: die Artischocken mit Alibi oder den Mettfuß im Stöckelschuh.

Doch nun ist Abhilfe geschaffen worden. Drei raffinierte Damen, der kriminellen Energie unverdächtig, haben sich aus Anlass des 25. Grappa-Krimis zusammen getan und ein Kochbuch der etwas anderen Art kreiert. „Mörderische Mandelhörnchen“ präsentiert 25 Rezepte aus der Grappa-Küche, zu jedem bisher gelösten Fall eines.

Die Abschnitte beginnen mit einem kurzen Text aus den jeweiligen Krimis, welcher als Appetizer dient. Nicole Schreiber, Food-Coach und Grappa Fan, hat sich die gewiss leckere Mühe gemacht, die zugehörigen Rezepte aufzuschreiben, auszuprobieren und vorzustellen. Garniert wird das Ganze durch liebevoll und witzig gestaltete Illustrationen von Rita Rose. Die Dritte im Bunde der Damen ist natürlich Gabriella Wollenhaupt selbst.

Wer will, kann nun Ziegenbraten so servieren, wie er auch der Mafia mundet. Wer es bodenständiger mag, versucht sich an den polizeilichen Möhren-Reibeplätzchen und wer noch genauer hnter die Kulissen schauen möchte, der wird auch bedient: Immer gut zu wissen, wie Hamburger klassifiziert werden. Nicht, dass man einem Betrüger auf den Leim geht: 150 Gramm Hamburger sind gut, 180 Gramm sättigend, aber erst 200 Gramm sind lecker. Wäre das auch geklärt.

Falls man beim Burger-Essen was zu reklamieren hat, kann man sich sicher auf diese amtliche Feststellung berufen. Zum Runterkühlen gibt es dann das Eis Madonna Grappa und wer dann wieder Lust auf Abenteuer hat, der nimmt sich einen Gorilla als Beilage zur Currywurst.

Nun gut. Kochbücher gibt es wie Sand am Meer, Sidestep-Merchandising auch, aber dieses Buch ist wirklich liebevoll gemacht, die Rezepte sind verständlich und auch durchschnittlich Kochbegabte sind fähig, diese nachzukochen (von einer durchschnittlich begabten Hausfrau für Sie getestet).

Und wer gerne mit Frau Grappa auf Abenteuerjagd geht, stellt sich sicher auch gerne mit ihr an den Herd. Warum nicht? Ich jedenfalls habe schon für die Praxis wesentlich weniger geeignete Kochbücher gesehen und werde die „Mörderischen Mandelhörnchen“ dahin legen, wo sie hingehören: in den Küchenschrank zu den wenigen anderen Kochbüchern, die Gnade vor meinen Augen gefunden haben. Also dann: Maaahlzeit.

„Mörderische Mandelhörnchen – Kulinarisches aus der Grappa-Küche“. 156 Seiten, Grafit Verlag, Dortmund, 10 €.




Ein Weihnachtsmann und Musik, die Leben rettet – Frank Goosen kann’s auch besinnlich

Der Weihnachtsmann ist in der Regel ein unglücklicher nicht mehr ganz junger Mann, der wegen eines abgebrochenen Studiums das Geld braucht. Weiß man doch, das hat sich mittlerweile rumgesprochen. Genauso ist es auch im Supermarkt umme Ecke. Dort hockt Holger, der Ex-Student ohne Abschluss, ohne Perspektive, ohne Freundin, ohne Familie – dafür aber mit kratzigem Kunstbart und Perücke. Und dann muss er sich auch noch von rotznäsigen Blagen erpressen lassen. Kann ein Heiligabend schlimmer beginnen? Wohl kaum.

Aber es kann nur besser werden. Wenn man zum Beispiel auf dem Heimweg vom Weihnachtsmann-Job den echten Weihnachtsmann trifft. Der heißt Udo, sein Bart ist mehr schmuddelig grau als weiß und auch sonst ist er nicht die gepflegteste Erscheinung. Dafür hat er eine Gitarre um den Hals mit sechs silbernen Saiten, auf denen er „Lieder der Aufrechten für die Seelen der Beladenen“ spielt, welche nicht nur Holger zu für ihn eher ungewöhnlichen Aktionen bewegen.

Sechs silberne Saiten Familienfeste und andere Schwierigkeiten – und das Weihnachtsfest ist gemeinhin das schwierigste von allen. So ergeht es eben auch Holger, dem perspektivlosen Studenten. Aber auch der Frau Hutwelker und erst recht dem rotznäsigen Blag Dennis und seiner wunderhübschen Mutter. Wer, wenn nicht der Weihnachtsmann, kann da mit nicht mehr als „sechs silbernen Saiten“ eine Familienzusammenführung der etwas anderen Art bewirken.

Musik, die Leben retten kann – man kann mittlerweile wohl sagen, dass dies ein wiederkehrendes Thema bei Frank Goosen ist. Nicht die Lebensrettung im medizinischen Sinne, aber die Rettung von unglücklichen, vom Leben und widrigen Umständen gebeutelten Seelen. Nicht nur, aber gerade auch an Weihnachten. Es muss ja nicht immer „O Tannenbaum“ sein, selbstredend ist Johnny Cashs „still miss someone“ ein angemessen würdiges Weihnachtslied.

Ruhrgebiets-Chronist Frank Goosen kann’s auch besinnlich und zeigt in seiner Weihnachtsgeschichte „Sechs silberne Saiten“ liebevoll untermalt, dass das Grau eines Ruhrpott-Heiligabends auf jeden Fall von einem woanders leuchtenden Licht übertönt wird – wenn man nur das Herz am rechten Fleck hat.

Goosen wäre aber nicht Goosen, wenn die Geschichte nicht mit einem Augenzwinkern geschrieben wäre. Pathos sucht man vergebens, aber dankenswerterweise auch die Schenkelklopfer. Auf kleine Seitenhiebe auf übliche Verdächtige wird allerdings nicht verzichtet. (Vielen Dank, Herr Goosen, es dank Ihnen verbrieft zu haben, nicht die Einzige zu sein, die sich dauernd über Bono aufregt). Was wie eine ganz normale Pottsche Alltagsgeschichte Goosenscher Couleur beginnt, endet als zu Herzen gehende, froh machende „echte“ Geschichte über Menschen wie du und ich, die an Weihnachten über sich hinaus wachsen.

Frank Goosens Weihnachtsgeschichte erschien erstmalig 2006, nun ist sie neu aufgelegt mit dazu aus dem Nikolaus-Sack gezauberten passenden Illustrationen von Peter Schössow. Schössow ist einer der bekanntesten Illustratoren Deutschlands, bekannt unter anderem für liebevolle Jugendbücher und Untermalungen der „Sendung mit der Maus“. Seine Werke entstehen überwiegend am Rechner, so dass seine Illustrationen immer an an computeranimierte Filme erinnern. Für die „sechs silbernen Saiten“ hat er Bilder entworfen, auf denen stark konturierte, leicht überzeichnete Figuren sich wie auf einer Bühne vor weihnachtlichen Hintergründen bewegen. Figuren, bei denen man sofort spürt, welcher Typ Mensch sie sind und die perfekt zur Geschichte passen. Alles in allem ein feines, kleines Weihnachtsbuch für die, die unter dem Weihnachtsbaum gerne vorlesen und dafür mal etwas ganz anderes suchen.

Frank Goosen: „Sechs silberne Saiten“, illustriert von Peter Schössow. Verlag Kiepenheuer und Witsch, 90 Seiten, 6 €.




In einer hoffnungslosen Welt: „Der Dieb“ von Fuminori Nakamura

derDieb Nishimura ist ein erfahrener Taschendieb. Ein Maßanzug verleiht ihm Anonymität, elegant und unauffällig bewegt er sich durch Tokios Menschenmassen und stiehlt Fremden ihre Geldbörsen. Sein Gewerbe hat er zur Kunst erhoben, fließend und kaum merkbar sind seine Bewegungen. Der Diebstahl geschieht reibungslos und unbemerkt, manchmal so unbemerkt, dass nicht einmal er selbst sich an alle Diebstähle erinnern kann.

Dabei lässt er Prinzipien walten, er stiehlt nur von Menschen, die ihm reich und wohlhabend erscheinen. Geld an sich bedeutet ihm nichts, so wenig wie die Menschen, die er bestiehlt, beides ist für ihn nur eine weitere Unschärfe seines Lebens, in dem er keine Gegenwart und keine Zukunft sieht. Er lebt in einem armseligen Appartement, er hat keine Familie, keine Freunde, keine Verbindungen. Nur einen kleinen Jungen, der ihn sich als Vaterfigur ausgesucht hat und der von ihm die hohe Kunst des Diebstahls lernen will, den wird er nicht los. In dem Moment, wo er sein Herz ein klein wenig öffnet, eine Verantwortung fühlt, holt ihn das Einzige, was er noch hat, seine Vergangenheit ein.

Sein erster und bis dato auch einziger Partner, Ishikawa erscheint wieder in seinem Leben. Einst war er mit ihm ihn einen Raubüberfall verwickelt, danach trennten sich ihre Wege und Nishimura tauchte in der Anonymität der Großstadt unter. Ishikawa hingegen wurde zur Marionette des mächtigen Gangsterbosses Kizaki, der sich selbst mit Genuß als Herrn über Leben und Tod inszeniert, Kizaki zwingt Ishikawa und mit ihm Nishimura, Handlanger für seine Verbrechen zu sein. Das Schicksal des Diebes scheint besiegelt.

In seinem Roman „Der Dieb“ nimmt Fuminori Nakamura den Leser mit in die Unterwelt einer Kultur, die vielen Europäern unbegreiflich und undurchdringlich scheint. Über den Autor selbst ist wenig in Erfahrung zu bringen, außer dass er ein 1977 geborener japanischer Schriftsteller sei. Dieses Buch hat er unter Pseudonym geschrieben.

Nakamura zeigt ein hoffnungsloses Land und seine Metropole. Sein Tokio ist keine Stadt heller Lichter und modernster Technologie, es ist farblos und düster, die Gesichter der Menschen sind blickleer, die Messer blutig und statt der modebewussten Mädchen mit ihren bonbonfarbenen Haaren kreuzen früh gealterte alleinerziehende Frauen den Weg des Diebs.

Dieser Thriller kommt ohne Action aus, dafür aber beschwört er Angst durch die Art, wie der Gangsterboss Kizaki seine Ansichten von Schicksal und Kontrolle lebt und gleichzeitig den Dieb mit einem lakonischen „Es ist alles nur ein Spiel. Nimm das Leben nicht so wichtig“ abfertigt und in sein Verderben schickt.

Der Fokus liegt nicht auf den Verbrechen selbst, sondern auf der Psychologie und der Körperlichkeit des Verbrechens: „Die Zeit floss in ihrem eigenen, immer gleichen Tempo dahin, bestimmte den Lauf der Dinge und schob mich langsam vor sich her. Wenn ich jedoch meine Hände nach dem Eigentum fremder Leute ausstreckte, fühlte ich in der Anspannung des Moments so etwas wie Freiheit.“

Nakamura erzählt rasant, dabei aber sehr elegant und schnörkellos, jederzeit um die Symbole von Unausweichlichkeit wissend. Darin gleicht er in der Ausübung seines Handwerks seinem Helden. So akribisch, wie der Dieb seine Aktionen ausübt, so sorgfältig ist auch das Buch geschrieben.

„Der Dieb“ ist ein kühler Thriller, der tief an existentielle Fragen rührt. Ein sehr intensives Leseerlebnis.

Fuminori Nakamura: „Der Dieb“. Roman. Aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg. Diogenes Verlag, Zürich. 211 Seiten, € 22.-




Diese hilflosen Menschen – Jan Costin Wagners Kurzgeschichtenband „Sonnenspiegelung“

SonnenspiegelungEin Flugzeug, das plötzlich vom Radar verschwindet und die Daheimgebliebenen ratlos zurücklässt. Der plötzliche Herztod eines glücklichen Familienvaters, der Frau und Kinder paralysiert zurücklässt. Verwaiste Kinder, verwaiste Eltern, eine Tochter auf Rachefeldzug, ein Ehemann kurz vor dem Amoklauf. In seiner ersten Anthologie „Sonnenspiegelung“ zeigt Jan Costin Wagner Menschen in Extremsituationen.

Acht ganz unterschiedliche Geschichten, so unterschiedlich wie das Leben selbst und der Tonfall, in dem sie geschrieben sind, nehmen den Leser mit in Abgründe, die er – vielleicht – kennt, sich aber ungern eingesteht.

Es sind sorgfältig komponierte Geschichten, in denen Wagner mit wenigen Worten dichte Szenarien zu erschaffen vermag. Dialoge sind selten und wenn, dann sehr knapp gehalten, was die Hilflosigkeit, die Ohnmacht der Protagonisten nur umso eindringlicher vermittelt.

Der Autor beschreibt den Alltag, die Situationen und auch die Gefühle der Menschen distanziert, aber seine Position ist die eines mitfühlenden Beobachters, der weiß, dass er nicht eingreifen kann, nicht eingreifen darf. Aktuelle Geschehnisse wie die des verschwundenen Flugzeugs oder die Finanzkrise bilden allenfalls einen Hintergrund, eine Wertung dieser Umstände jedoch wird nicht gegeben. Erzählt wird ohne Pathos und Larmoyanz von den kleinen, oft so unbeachtet bleibenden Schicksalen hinter den Katastrophen; von Menschen, die um sich und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen kämpfen (müssen).

Mal besteht die Erzählung aus vielen kurzen Absätzen, die jeweils eine kurze Sequenz aus der Sicht eines Beteiligten erzählen, mal sind es nur wenige Seiten, die aus der Sicht nur eines Beteiligten berichten, aber dennoch alle Seiten beleuchten. Immer aber erschließt sich der Zusammenhang erst ganz zum Schluß einer Erzählung, manchmal ergibt auch erst der letzte Satz das gesamte Puzzle.

Besonders beeindruckende Kaleidoskope gelingen dabei in der Titelgeschichte „Sonnenspiegelung“, in der sich weniger die Sonne denn das schlechte Gewissen eines Familienvaters spiegelt, der durch einen unerklärlichen Stalker so aus der Fassung gebracht wird, dass er für die aufkommende diffuse Beunruhigung einen hohen Preis bezahlt.

Ein anderes Mal – in der kurzen Geschichte „An einem anderen Ort“ gerät die Pointe jedoch zu effektheischend und hinterlässt ein äußerst schales Gefühl. Warum es diese Geschichte, die eher eine kurze Studie ist, unbedingt gebraucht hat, erschließt sich im Gesamtzusammenhang der ansonsten sehr berührenden, teils verstörenden Erzählungen nicht.

Allen Erzählungen gemein ist, dass sie Momentaufnahmen sind, keine in sich geschlossenen Geschichten. Die entscheidende Handlung hat vorher begonnen, man kann sie sich nur aus dem Zusammenhang erschließen. Ein geschicktes Stilmittel, mit dem der Autor sich jederzeit die ungeteilte Aufmerksamkeit des neugierigen Lesers sichert. Auch ein richtiges Ende gibt es nie. Insofern könnte man auch jede der acht Erzählungen als Studie bezeichnen.

Es sind wohl auch weniger die Geschichten an sich, die Wagner interessieren. Womit er sich beschäftigt, sind die Reaktionen, die Gefühle der Menschen in Ausnahmesituationen, die für unverrückbar gehaltene Grenzen verschieben. Wie gehen sie mit ihrer Angst um, mit der Angst vor Verlust, oft auch der Angst vor Kontrollverlust? Der Erzähler beobachtet die Menschen bei ihrem verzweifelten, manchmal vergeblichen Versuch, Kontrolle zurückzugewinnen und zeigt so die Fragilität und Gefährdung unserer Existenz.

„Sonnenspiegelung“ ist ein Buch, welches einen länger begleitet. Es ist unmöglich, die Geschichten hintereinander weg zu lesen. Jede der acht Erzählungen steht für sich und berührt auf eine andere Weise. Jede Geschichte wirkt lange nach und man muss sie eine Weile mit sich nehmen, bevor man bereit für eine neue ist.

Jan Costin Wagner wurde bekannt mit in Finnland spielenden Kriminalromanen um den melancholischen Kommissar Kimmo Joentaa, die bereits in 14 Sprachen übersetzt wurden. „Sonnenspiegelung“ ist sein erster Kurzgeschichten-Band.

Jan Costin Wagner: „Sonnenspiegelung“. Verlag Galiani Berlin, 192 Seiten, € 18,99.




Der Bewahrer und seine Hoffnung: Katharina Hackers berührender Roman „Skip“

skipSkip Landau mag Dinge, die er anfassen kann und zieht sie vielem anderen vor. So ist er Architekt geworden, in Israel hat er sich im ausgehenden letzten Jahrhundert einen Namen damit gemacht, gemeinsam mit palästinensischen Handwerkern alte Häuser mit viel Liebe zum Detail zu renovieren.

Aufgewachsen ist er in Paris, als Erwachsener ging er nach Israel und gründete in Tel Aviv eine Familie. Mittlerweile lebt er in Berlin und kümmert sich dort für seinen Chef um den Erwerb und die Renovierung alter Bausubstanz. Sein Name ist ihm so etwas wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

„To skip“ bedeutet im Englischen springen, etwas überspringen und so fühlt er sich auch. Eine richtige Zugehörigkeit zu definieren fällt ihm schwer, allenfalls bezeichnet er sich selbst als modernen Migranten. Er fühlt sich nicht als „richtiger“ Jude, weil seine Mutter keine Jüdin war, er fühlt sich nicht als „richtiger“ Vater, weil seine Söhne aufgrund seiner Zeugungsunfähigkeit von einem anderen Mann gezeugt wurden. Seine Frau Shira ist einen quälenden Krebstod gestorben, der ihn merkwürdig kalt ließ. In Berlin nun erinnert er sich an sein bisheriges Leben und ringt um das Geschenk eines Neuanfangs.

Nicht nur erinnert er sich an reale Geschehnisse seines Lebens, das immer auch von der wechselvollen Geschichte Israels geprägt war. Er erinnert sich auch an Erfahrungen, die er in der Mitte seines Lebens machte und die er bisher niemanden erzählen konnte.

Plötzlich sah er sich mit Dingen konfrontiert, die nur er wahrnahm. Er hörte eine innere, eine unwiderstehliche Stimme, die ihn an Orte rief, an denen wenig später eine Katastrophe passierte. An jedem dieser Orte ist eines der Opfer für ihn plötzlich nicht mehr namenlos und er fühlt sich diesem besonders verbunden. Gegen diese Verbundenheit kann er sich nicht wehren, er muss an diesem Ort ausharren, dieser Seele Gesellschaft leisten, bis sie von selber bereit ist, ihn los zu lassen. Diese Aufgabe belastet ihn, dass er nicht darüber sprechen kann, noch mehr. In Folge leiden seine Ehe und sein Familienleben.

Mit „Skip“ legt die Autorin Katharina Hacker, 2006 Trägerin des Deutschen Buchpreises, ihren lang erwarteten neuen Roman vor. Anders als erwartet ist es keine Fortsetzung ihrer „Dorfgeschichten“ um Anton und Alix, welche als dreiteiliges Romanprojekt angelegt waren. Mit „Skip“ betritt sie einen deutlich globaleren Rahmen, gleich mehrere Länder und Weltanschauungen spielen eine wichtige Rolle. Mit der Geschichte des innerlich zerrissenen Architekten bleibt sie aber dennoch bei ihren zentralen Fragen. „Was macht das Leben mit und aus uns?“ und „Wie wollen wir leben trotz all des Leids?“

Wir sehen Skip beim Mühen, beim Scheitern, seltener beim Gelingen zu. Er ist ein guter Mensch, er macht auch gar keine schwerwiegenden Fehler, trotzdem empfindet er sein Leben lange Zeit als unrund. Das Leben an sich, sein Leben im Besonderen ist für Skip ein großes Rätsel. Ein größeres Rätsel als der Tod. Wohl auch, weil alle Menschen, die ihn von Beginn an begleitet haben, gestorben sind. Seine These ist, dass man nur in der Erinnerung derjenigen lebt, die einen von Anfang an gekannt haben.

Durch den mystischen Überbau löst die Autorin dieses Rätsel für Skip und die Leser auf. Sie erzählt die Begebenheiten rund um Skips innere Stimmen und sein Wirken als „Todesengel“ mit einer nonchalanten Selbstverständlichkeit. Es wirkt weder abwegig noch lächerlich, sondern ganz selbstverständlich. Skip versteht dadurch, dass er „ein Bote ist oder Mittler, einer von denen, denen nichts zustösst“. Er ist kein Macher im eigentlichen Sinn, er ist ein Bewahrer wie er auch in seinem Beruf eher bewahrt denn neu aufbaut. Dies macht ihn zum idealen Begleiter und zwar nicht nur der Toten, sondern vor allem auch der Lebenden. Als er das verstanden hat, traut er sich endlich, seinen Weg weiterzugehen. Und so ist „Skip“ schlißelich ein Buch, das von viel Tragik erzählt, aber ein hoffnungsvolles und zugleich nachvollziehbares Ende hat.

„Skip“ ist noch aus einem anderen Grunde ein wichtiges Buch. Hackers Thema mag universell sein, die Zeit und der Ort, den sie sich dafür ausgesucht hat, sind es aber nicht. In seinen Erinnerungen erzählt Skip hauptsächlich von der Zeit in Tel Aviv vom Ende der 80er Jahre bis zum 11. September 2001. Katharina Hacker studierte unter anderem Judaistik und lebte sechs Jahre in Jerusalem. Israel und seine Menschen sind ihr wichtig. Ihre große Verbundenheit damit spürt man in jedem Satz, Diese Liebe zum Land und seinen Menschen, aber auch die Sorgen darum vermittelt der Roman auf besondere Weise.

Dazu kommt: In einer Zeit, in der durch erneute Gewalteskalationen in Israel und Palästina bereits von einer dritten Intifada gesprochen wird und gleichzeitig andere Krisen die Berichterstattung darüber zurückdrängen, sind die Gedankenanstöße, die „Skip“ gibt, sicher wichtiger denn je.

Katharina Hacker: „Skip“. Roman. S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 384 Seiten, € 21,99.




Privatdetektive auf „Prinzenjagd“ – der neue Krimi von Lucie Flebbe

Flebbe/ Prinzenjagd „Bedenke, einen schönen Mann hast Du nie für Dich alleine“. Diesen auch nur bedingt hilfreichen Ratschlag zur Partnerwahl haben wohl so einige von ihrer Oma mit auf den Weg bekommen.

Aber ist hier vielleicht auch schon das Motiv verborgen für die rätselhaften Morde, die sich innerhalb kurzer Zeit im Bochumer Allee-Hotel ereignen? Denn anscheinend gilt: „Je schöner der Mann, desto brutaler der Mord.

Zuerst erwischt es den Promi-Fernsehkoch Carlo Pfiffhoven, kurz danach den Sänger Marian Mohr, frisch gekürter Castingshow-Gewinner. Nicht nur die Polizei befürchtet den Beginn einer Mordserie, die sich gegen vermeintliche Traumprinzen richtet, auch Hoteldirektor Hans Flegenfeld ist besorgt. vor allem um die bisher untadelige Reputation seines Hauses. Ihm gehen die Ermittlungen nicht schnell genug voran, was auch nicht Wunder nimmt, da vor allem Kommissar Staschek mit jeder Menge anderer Sorgen belastet ist. Der Hoteldirektor engagiert kurzerhand den Privatdetektiv Ben Decker.

Gemeinsam mit der jungen Lila Ziegler, privat und beruflich seine Partnerin, bezieht Decker eine der Nobelsuiten im Hotel. Für Luxusgenuss bleibt leider nur wenig Zeit, denn die Beiden ermitteln sofort mit Hochdruck und fördern auch schnell einige Ungereimtheiten im Betrieb des Hotels zutage.

Nach außen hin gibt das Alleehotel sich gerne einen sozialen Anstrich, indem es auch Behinderten eine Chance auf dem „normalen“ Arbeitsmarkt gibt. Aber ist dieses Engagement wirklich so uneigennützig und klappt das alles wirklich so prima, wie es nach außen hin scheint?

Der Detektiv-Azubine Lila kommt der Auftrag noch aus einem anderen Grunde ganz recht: Ihre Freundin Lena hat sie gebeten, herauszufinden, ob ihr Vater schon wieder fremdgeht und dieser ist niemand anders als der zur Zeit so glücklos agierende Kommissar Staschek. Von diesem „Nebenauftrag“ sollte allerdings Partner Ben besser nichts wissen…. und auch Lila findet so einiges heraus, dass sie lieber hätte eigentlich nicht wissen wollen.

Prinzenjagd“ ist bereits der siebte Fall für Ben und Lila. Für den ersten Band der Reihe wurde die Autorin Lucie Flebbe bereits mit dem Friedrich-Glauser Preis für das beste Krimi-Debut ausgezeichnet. Neben den jeweiligen Fällen ist es in dieser Reihe vor allem auch die Entwicklung der beiden Protagonisten und ihrer Beziehung, welche den Erfolg der Reihe ausmacht. Mit der jungen Nachwuchs-Detektivin Lila Ziegler spricht Lucie Flebbe (nicht nur) aber auch gezielt ein jüngeres Publikum an, die es gerne auch mal ein bißchen actionreicher mögen.

Im siebten Band nun hat Lila komplett mit der vordergründig heilen Welt ihrer Familie gebrochen und lebt mit dem wesentlich älteren Ben über einer Bochumer Traditionskneipe, deren Wirt Molle vor allem für Lila so etwas wie ein Ersatzpapa ist. Die auch seelische Unterstützung der beiden starken Männer an ihrer Seite kann sie gerade in diesem Fall gut gebrauchen.

Darüberhinaus greift „Prinzenjagd“ eine ganze Reihe aktueller Themen auf. Vordergründig nimmt Flebbe erst den Hype um Fernsehköche und Castingshows auf’s Korn, dann geht es schnell auch um Belästigung und Mobbing am Arbeitsplatz, um dann über Umwege zur sozialen Botschaft des Romans zu kommen: der Integration Behinderter in den ersten Arbeitsmarkt,

Bei diesem Füllhorn an Themen kommt Langeweile bei der Lektüre nicht auf, Spannung allerdings auch eher nur so mittel. Der Krimiplot an sich ist mit relativ dünnen Nadeln gestrickt. Der Leser hat sehr schnell einen Verdacht, der sich dann auch als begründet erweist und die Hinführung zur Auflösung ist so manches Mal eher hilflos. Allzu oft fällt den beiden Detektiven allzu Offensichtliches wie zum Beispiel eine Namensgleichheit erst etliche Kapitel später auf als dem Leser. Dafür macht die geschickte Zeichnung der Figuren Spaß. Das augenzwinkernde Ende nach erfolgreicher Lösung des Falls versöhnt auf jeden Fall mit der ein oder anderen Schwäche der „Prinzenjagd“.

Lucie Flebbe: „Prinzenjagd“. Grafit Verlag, Dortmund, 250 Seiten, 10,99 Euro.




Vom Hörspiel zum Buch: „Task Force Hamm“ als Sammelbecken polizeilicher Problemfälle

E_Schmidt_Task Force Hamm_02.indd Tatort Hamm? In der ARD? Noch nie gesehen? Aber gehört vielleicht schon. Die „Task Force Hamm“ gehört zu den Ermittlerteams des ARD Radio-Tatorts und wird im Rahmen dieser Hörspielserie vom WDR ins Rennen geschickt. Jeden Monat gibt es in den Rundfunkanstalten der ARD ein neues Tatort-Hörspiel, in denen ein Ermittlerteam mit starken regionalen Bezügen Verbrechen aufklärt. Zu den beliebtesten Teams dieser Radio-Reihe gehört die Task Force Hamm.

Der Erfinder des Hammer Teams, Dirk Schmidt, verfasste bisher zahlreiche Kriminal-Hörspiele und Drehbücher. Seine „Task-Force Hamm“ fand großen Anklang und hat eine Reihe treuer Fans. Mit „Ertränkt, Erhängt, Erschossen“ liegt nun der erste Fall in gedruckter Form vor. Adaption mal andersrum. Meistens liegt ja erst ein Buch vor, welches dann verfilmt oder vertont wird. Aber das Wagnis hat sich durchaus gelohnt. Von kleinen Einschränkungen abgesehen.

Ausgerechnet Hamm, mag sich nun so mancher denken. Hamm – die unbekannte, unspektakuläre, gerne ignorierte Stadt. Nicht mehr ganz Ruhrgebiet, noch nicht so ganz Münsterland und auch sonst fallen einem dazu allenfalls die Stichworte Kraftwerk und Elefant ein. Aber genau aus diesem Grund ist Hamm für den WDR der Ort des Geschehens.

Hochgestellte Herren der Landespolizeibehörde haben beschlossen, es ist Zeit für eine Konzentration. Es gehe nicht länger an, dass in Ungnade gefallene Polizisten, die man aus den verschiedensten Gründen nicht einfach rausschmeißen kann, dauernd quer durchs Land und somit diverse Abteilungen in Unruhe versetzt werden. Vielleicht macht es das Ganze handelbarer, wenn man sich einfach eine Behörde ausguckt, in die man all diese gescheiterten Existenzen versetzt. Dann hat man zwar noch immer ein Problem, aber man versucht es mal mit der Losung: Besser ein großes Problem als viele kleine.

Und so erwischt es die kreisfreie Polizeibehörde Hamm. Sie wird zum Sammelbecken für die ungelösten Problemfälle der Polizei. In der zur „Strafkolonie“ gewordenen Mordkommission finden sich zusammen: der spielsüchtige Hauptkommissar Scholz, der Haus, Hof und seine Ehe dem Gott des Rouletts geopfert hat. Der gutmütige, aber ziemlich schlicht gestrickte Hobby-DJ Latotzke, der einzige gebürtige und somit ortskundige Hammer – bei der Polizei nur dank „Vitamin B“. Der zu Aggressionen neigende Kollege Ditters, der nicht so recht weiß, ob er Männlein oder Weiblein oder vielleicht einfach nur schwul ist.

Zusammengehalten wird diese Chaoten-Truppe mehr schlecht als recht vom Dienststellenleiter Vorderbäumen. Der Chef wartet auf dem Abstellgleis, während seine Klage gegen vorzeitige Pensionierung läuft und beschäftigt sich derweil vorzugsweise mit einem Nebenerwerb als Möbelhändler.

Kommissar Scholz jedenfalls nimmt trotzig die Herausforderung Hamm an und setzt all seinen verbliebenen Ehrgeiz darein, den ersten Mord, der auf seinem Tisch landet, restlos aufzuklären. Die „Task Force Hamm“ wird zur Leiche des Metzgers Terjung gerufen. Zunächst weiß man nicht einmal, ob der arme Mann erhängt, erschossen oder ertränkt wurde. Klar ist zunächst nur: der Verdächtigen gibt es viele und starke Emotionen sind im Spiel. Vom enttäuschten Vater über die aus dem Katalog georderte mit dem Metzger ganz frisch verheiratete Thailänderin bis hin zum verschwundenen Zockerkumpel, der sich gemeinsam mit Terjung wohl mit Geldgebern angelegt hat, denen man besser nicht im Dunkeln begegnet. Scholz besinnt sich auf seine durchaus respektablen Fähigkeiten als Ermittler und bringt erstmal seine Truppe auf Trab…

Dass es sich hier um ein ausformuliertes Drehbuch handelt, merkt man durchaus. Dies stört aber vornehmlich nur an Stellen, an denen man das Gefühl hat, die Handlung wurde unnötig in die Länge gezogen. Die ARD-Radio-Tatort-Hörspiele dauern lediglich 55 Minuten und um das Ganze auf normale Buchlänge zu bringen, wurden hie und da Erklärungen eingefügt, die man jetzt auch als Leser nicht unbedingt zum Verständnis gebraucht hätte.

Aber davon abgesehen, ist der Krimi gut zu lesen. Subtiler Wortwitz wechselt sich ab mit brachialem Humor, die Grenzen zur Stammtisch-Peinlichkeit werden aber recht geschickt eingehalten. Bierernst ist der Krimi nicht zu nehmen, was der Vielzahl der behandelten Themen und teilweise auch sehr aktuellen Problemen nicht immer gut bekommt. Was es gar nicht gebraucht hätte: Den Ton des Märchenonkels auf den letzten Metern, als es um die Katharsis des zweifelnden Ditters geht. An dieser Balance dürfte zu arbeiten sein, aber grundsätzlich betritt mit der Task Force ein etwas anderes, durchaus liebenswertes Team die Krimi-Bücherszene.

Dirk Schmidt: „Ertränkt, erhängt, erschossen – Task Force Hamm“. Grafit-Verlag Dortmund, 205 Seiten, € 9,99




„Ein junger Mann mit Schmerzen zu sein“ – Arno Geigers „Selbstporträt mit Flusspferd“


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Julian ist Student der Veterinärmedizin, Eigentlich würde er gerne erwachsen werden, aber sonderlich Kluges ist ihm dazu noch nicht eingefallen. Karate vielleicht, das verleiht Kontrolle. Aber sonst?

Einstweilen suhlt sich Julian in Selbstmitleid, denn er durchlebt gerade seine erste Trennung. Außerdem ist er jung und braucht Geld. Unter anderem, um Schulden beim Vater der Verflossenen auszulösen für den Mietzins, den dieser im Nachgang für die bei seiner Tochter verbrachten Nächte erhebt.

Also nimmt der gute Julian einen Ferienjob an und kümmert sich bei einem verschrobenen Professor um ein Zwergflusspferd. Das wenig possierliche, aber Julian schnell an sein gequältes Herz wachsende Tier frisst, gähnt, taucht, schläft, stinkt vor sich hin und bestimmt so den Rhythmus von Julians Sommer. Da bleibt genug Zeit, um sich nebenbei mehr oder weniger aussichtslos in Aiko, die Tochter des Professors, zu verlieben und beunruhigt die Katastrophenmeldungen in den Nachrichten zu verfolgen. Theoretisch bliebe auch genug Zeit, um seinen Platz in der Welt zu finden, aber ach. Ach.

Soweit das doch recht dürftige Handlungsgerüst von Arno Geigers neuem Roman „Selbstporträt mit Flusspferd“. Willkommen im beliebtesten Genre für larmoyantes Selbstmitleid: dem Coming-of-age-Roman. Fast will es scheinen, als hätte dieses Genre dem Oeuvre des gefeierten Schriftstellers Geiger noch gefehlt, so spürbar ist das Werk von dem Willen getragen, sich um jeden Preis auch damit in die Literaturgeschichte einzureihen. Bedauerlich kommt beim Lesen recht schnell der Punkt, an dem man sich fragt, ob er mit diesem Willen nicht deutlich übers Ziel hinausgeschossen ist.

Der österreichische Schriftsteller Arno Geiger ist für seine vorherigen Werke vielfach ausgezeichnet worden, 2005 erhielt er gar die hohen Weihen des Deutschen Buchpreises für „Es geht uns gut“. Alltagshelden und ihr mal mehr, mal weniger spannendes Leben sind sein bevorzugtes Sujet. War es diesmal sein Ziel, das Porträt eines Langeweilers zu schreiben?

Bis knapp zur Hälfte liest es sich noch ganz gut, man weiß zwar nicht so ganz, warum man das jetzt unbedingt lesen sollte, aber man bleibt dran in der Hoffnung, man werde schon verstehen, worauf es hinausläuft. Nur leider wartet man vergebens. Irgendwann weiß auch der begriffstutzigste Leser, dass Julian sich leid tut und warum. Hingegen wird er nicht wissen und auch nicht erfahren, warum es so schwer ist, sich aus dem Lamento zu befreien. Dabei graust es Julian „vor einer Zukunft, in der er zurückblickt auf Tatenlosigkeit“, doch er findet den Weg an sich selbst vorbei nicht. Da hilft auch die gewünschte Beziehung zu Aiko nicht. Stereotypen wiederholen sich und sonst nichts.

Julians Ganztagsbeschäftigung ist am Anfang und am Ende dieselbe: „Ein junger Mann mit Schmerzen zu sein.“ Sein Ego kann er nur im Vergleich mit anderen bemessen, und das fällt nur in den seltensten Fällen zu seinen Gunsten aus. Es bedarf schon eines zerschlissenen Bademantels, in dem seine Mitbewohnerin durch die Küche schlurft, damit er sich erhabener fühlen kann. Weltfremdheit muss man sich leisten können und Julian kann es ganz offensichtlich nicht. Im Gegensatz zum Flusspferd haltenden Professor, dessen Figur ein gewisses Potential hat, aber um dessen Selbstporträt geht es hier nicht.

Die Idee, das Flusspferd zum Spiegelbild der eigenen Befindlichkeiten zu machen, trifft es da ganz gut. Denn das Flusspferd ist in erster Linie nur eines: lethargisch (und wenn der gute Julian noch so sehr die „Schönheit dieses rundlichen, schwarzgrünen Geisterwesens“ verklärt. ) Natürlich verleiht das Tier eine gewisse exotische Komponente, doch letzten Endes ist auch mit Flusspferd Julians Alltag nicht einmal surreal, sondern einfach nur banal. Diese Banalität durchdringt letzthin alles, auch Geigers schönen flüssigen Erzählstil. Lichtblicke sind die sich gegen die allgegenwärtige Lethargie wehrenden Nebenfiguren, angefangen beim bereits erwähnten Professor über seine einen trotzigen Bezug zur Gegenwart lebende Tochter bis zum pragmatischen Freund Tibor, der findet, Verzicht eh nichts bringt, weil „der Kuchen so oder so aufgefressen wird“.

Richtig unangenehm wird das Buch an den Stellen, an denen Julian das Elend aus den Nachrichten für seine persönliche Betroffenheits-Profilierung missbraucht. Natürlich schreckt ihn das Weltgeschehen, aber es reicht ihm, einfach alles nur schrecklich zu finden und zu verurteilen, um zu einem besseren Gefühl seiner selbst zu finden. Das Fehlen von politischem Bewusstsein ist zum einen erschreckend, zum anderen wohl typisch für unsere Zeit, in der jeder auf eine schreckliche Nachricht erstmal damit reagiert, sich selbst in eine gewünschte Position zu bringen und diese zu verbreiten. Auch an diesen Stellen bleiben in Summe nur epische Selbst-Bespiegelungen und handelsüblicher Narzissmus.

Arno Geiger: „Selbstporträt mit Flusspferd“. Roman. Hanser Verlag, 288 Seiten, €19,90.




Von Wattestäbchen und anderen Tücken – Frank Goosen beim Festival Ruhrhochdeutsch

„Richtig erwachsen bisse erss, wenn de en ganzet Paket Wattestäbchen brauchss, um die Kotze Deiner Blagen aussem Kindersitz zu pulen“. Ein Freund klarer Ansagen und plastisch-drastischer Geschichten, die so krass wie wahr sind, sollte man schon sein, wenn man zum Festival Ruhrhochdeutsch geht. Seit Ende Juni steht wieder das schöne historische Spiegelzelt vor den Dortmunder Westfalenhallen.

IMG_20150808_184904Schon zum sechsten Mal bietet das Dortmunder Theater Fletch Bizzel dort einen umfassenden Querschnitt, vor allem durch die ruhrische Kabarettszene. Wiederkehrende Ensembleauftritte wechseln sich ab mit Gastauftritten lokaler Helden. Am vergangenen Wochenende philosophierte Frank Goosen über Durst und Heimweh, wobei der Durst wohl bei Temperaturen gefühlt wie kurz vorm dritten Aufguss überwogen hat. Für Goosen war es trotz fußballerischer Differenzen ein Heimspiel.

„Durst und Heimweh“ heißt sein neues Kabarett-Programm. Durst soll ja schlimmer sein als Heimweh, aber am schlimmsten ist für Goosen beides zusammen. Und zusammen kommt beides gerade für Ruhrgebietsmenschen meist, wenn man(n) sich auf Reisen begibt. Nun ist man ja gerade im Ruhrgebiet ständig unterwegs, Stillstand gibbet bekanntermaßen nur auffe 40. Müsste Herrn Goosen eigentlich sehr entgegen kommen, denn wie er gleich zu Beginn erklärte, fühlt er sich eh am wohlsten auf den Autobahnen des Reviers. „Flüsse und Berge trennen doch nur, Autobahnen verbinden“. Natur an sich ist ja eh völlig überbewertet, die ist ja nicht mal von Hand gemacht wie so eine ordentliche ruhrische Autobahn.

Zum Glück für den Zuschauer spielen Goosens Geschichten aber nicht nur auf der Autobahn. Aber vom Reisen erzählen sie. Seine Geschichten spielen überall und jederzeit, durch alle Lebensabschnitte. Los geht es mit den ersten Ferien, die bei Goosens vor allem mit „de Omma anne See“ führten. Nach Helgoland zum Beispiel, wo er die Grundregeln des Goosenschens Universums lernte: „Watt der Junge will, datt kriechta auch“. Logischerweise nicht ganz einfach für nachfolgende Reisebegleitungen. Bei den Klassenfahrten mit den üblichen weithin bekannten, über alle Generationen hinweg ähnlichen Nebenwirkungen ging es noch so halbwegs, aber der erste Urlaub mit Freunden und unterschiedlichen Vorstellungen war da schon schwieriger. Dies im übrigen ein Interrail-Urlaub, die nicht immer subtilen Erinnerungen teilt er wohl mit vielen seiner Generation.

Und dann der erste Beziehungsurlaub…. – nirgendwo zeigt sich mehr Konfliktpotential. Über all diese Stationen geht es im Programm zurück zu dem einzigen Urlaub, den man zweimal im Leben macht: dem Familienurlaub. In fortgeschrittenem Alter dann am anderen Ende der Befehlskette und vor der schwierigen Aufgabe stehend, einen Kompromiss zu finden zwischen Kinder-Bespaßung und Massentourismus-Allergie. Nicht nur Familie Goosen findet diesen Kompromiß zuverlässig im Staate Dänemark und deswegen war mir die Exkursion ins Dänenland, mitsamt den Tücken seiner ausgefeilten Mini- und Fußballgolfplätze auch eine ganz besondere Freude. Wirklich außerordentlich bedauerlich, dass wir nicht mehr in den Schulferien in den Urlaub müssen. Die Goosensche Performance im fliederfarbenen Strandstuhl des Grauens würde ich nur zu gerne einmal sehen.

Für uns traf es sich bei diesem Programm, dass wir an diesem Abend Urlaubsziel waren. Wir hatten Besuch von Freunden aus Bayern, die Herrn Goosen bisher „nur“ anhand seiner Bücher kannten und mehr als einverstanden damit waren, mit einem Live-Auftritt des Revier-Chronisten gleich mal die volle Dosis Ruhrpott verabreicht zu bekommen. Es passte gut, dass Frank Goosen zwischendurch immer wieder den „Jungen vonne Bochumer Alleestrasse“ durchschimmern ließ: „Da kommt mein wahres Niveau wieder durch“. Unsere Gäste waren begeistert, selbst an der Stelle, als es gegen bayrisches Klosterbräu-Bier ging, denn „Menschen, die keinen Geschlechtsverkehr haben, kann man ja prinzipiell nicht trauen.“ (Zugegeben, Herr Goosen hat es ein klein wenig weniger vornehm formuliert).

Dafür kann man den Programmen des Frank Goosen sicherlich immer trauen. Dem Buchautor sowieso, aber auch den Kabarettisten mit direktem Draht zum Publikum, den hat der gelernte Tresenleser einfach drauf. Für ihn braucht es nur ein wohlgesinntes Gegenüber, eine Bühne ohne störendes Gedöns und der Bochumer nimmt den ganzen Saal gestenreich, oft genug freihändig ausse Lameng realitätsnah erzählend mit, diesmal eben auf die Reisen seines Lebens.

Frank Goosens Termine und anderes auf seiner Homepage
Das Festival Ruhrhochdeutsch geht noch bis in den Oktober, weitere Infos auf Ruhrhochdeutsch.de

P.S. @ Herrn Goosen: Falls Sie den Gag mit dem Komasaufen doch nicht aufgeschrieben haben – ich glaub, ich krieg das noch hintereinander…




Absturz aus dem bürgerlichen Leben: Doris Knechts Roman „Wald“

Doris Knecht, Wald Ein Haus in den Voralpen. Tief im Wald, in der Nähe ein Fluss, Idylle pur. Marian lebt allein in diesem Haus. Im Garten baut sie Gemüse an. Davon und von dem, was sie sonst noch so findet, ernährt sie sich.

Ab und an angelt sie ein Festmahl, dazu gibt es selbstgebackenes Brot, zum Dessert einen selbstgebackenen Apfelkuchen. Wärme spendet ein Holzofen, befeuert aus dem sorgsam gestapelten Holz hinter dem Haus. Ihr Tagesablauf wird nur durch die Grundbedürfnisse vorgegeben: Essen, schlafen, es warm haben. Keine Termine drängen sie, Telefonate führt sie nur äußerst selten, einen Email-Account besitzt sie nicht mehr. Ihre Kleidung näht sie aus alten Stoffresten, das kann sie besonders gut, das hat sie gelernt.

Denn – das ist die Kehrseite der Medaille: Kleider entwerfen, das war ihr Beruf, ihre Berufung. Marian ist nicht freiwillig dort in diesem Haus im Wald. Ihre primitive Autarkie ist unfreiwillig, sie hat alles verloren. Noch vor wenigen Monaten lebte sie als gefeierte Designerin in der Großstadt und schneiderte den Damen der Gesellschaft edle Roben auf den Leib. Sie residierte in einer hochherrschaftlichen Wohnung, ernährte sich biologisch wertvoll und hätte niemals diesen schnöden Filterkaffee getrunken, der sie heute so beglückt.

Persönliche Folgen der Finanzkrise

Doch dann kam die Finanzkrise und fatalerweise ignorierte sie die ersten warnenden Anzeichen. Die Vorstellung, irgendwelche Lehman-Brüder, von denen sie nie gehört hatte, könnten sie und ihr Geschäft bedrohen, empfand sie einfach nur als absurd. In einer fatalen Mischung aus Größenwahn und hormonvernebeltem Tun ob des neuen attraktiven Lovers eröffnete sie einen Flagship-Store, dessen Miete sie bald nicht mehr bezahlen konnte und segelte unaufhaltsam in einen spektakulären Bankrott.

Ihre Schulden sind so hoch, dass ein Leben alleine niemals reichen würde, um sie abzuzahlen, auch wenn sie sich zunächst als Näherin am Stadtrand die Finger blutig näht. Dann lieber der totale Rückzug in den Wald, in ein Haus, das ihr niemand nehmen kann, weil es ihr gar nicht mehr gehört. Es ist das Erbe einer Tante und in einem Moment der Klarsicht hat sie es auf ihre Tochter überschrieben. Die Tochter, die sie kaum kennt, weil sie das Kind der Karriere wegen beim Vater gelassen hat.

Sehnsucht nach dem einfachen Leben

Geschickt spielt die österreichische Autorin Doris Knecht in ihrem neuen Roman „Wald“ mit zwei großen Themen, die derzeit die Mittelschicht umtreiben: die Sehnsucht nach dem sogenannten einfachen, selbstbestimmten Leben auf dem Lande und die Angst vor dem Absturz aus der bürgerlichen Welt, der angesichts immer neuer Unsicherheiten stets nur einen Schritt entfernt zu sein scheint.

Man nähert sich dieser Erzählung mit schon fast voyeuristischer Neugier. Nicht, dass man sich am Unglück von Marian (die eigentlich Marianne heisst, die vermeintlich schicke Abkürzung bewahrt sie als letzte Reminiszenz an ihr altes Leben) weidet. Nein, es ist jedem klar, dass es passieren kann, jederzeit und überall. Auch Marian hat keine gravierenden Fehler gemacht, „manchmal übernehmen eben die Umstände das Leben“. Als Leser will man wissen, wie es sein wird, wie es sein kann, wenn die Existenz zerbricht und man auf sich selbst zurückgeworfen wird. Gibt es dann wirklich eine Chance für das Aussteigerleben, von dem so mancher heimlich träumt?

Kühle Figurenzeichnung

Doris Knecht, deren erster hochgelobter Roman „Gruber geht“ bereits verfilmt wurde, ist für ihre messerscharfen Analysen von Lebenssituationen bekannt. Eindeutige Antworten gibt sie hingegen nie, auch in „Wald“ nicht, Schlußfolgerungen überläßt sie dem Leser. Bei ihr gibt es kein „richtig“ oder “ falsch“, weder verherrlicht sie das Aussteigerleben, noch verdammt sie das snobistische Dasein in der Stadt. Auch ihre Figuren haben Brüche und Widersprüche. Ihre Marian zeichnet sie distanziert, geradezu kühl. Dass man sich ihr als Leser trotzdem nahe fühlt, liegt an der Projektion, die man unwillkürlich vornimmt. Ein Stückchen Marian steckt in jedem von uns und wenn nicht, kennt doch jeder eine Marian in seinem Umfeld.

Doris Knechts Marian bleibt allen Widrigkeiten und gelegentlichen Anfällen von Resignation zum Trotz eine Kämpferin. Sie entdeckt unbekannte Fertigkeiten und Talente an sich. Dinge, die sie früher unbekümmert „outsourcte“, gehen ihr nun leicht von der Hand. Ein Opfer ist sie nicht, war sie nicht und will sie auch jetzt nicht sein, wo sie zu allem Überfluss auch noch von der alteingessenen eingeschworenen Dorfgemeinschaft angefeindet wird.

Die Ökonomie einer Beziehung

Allerdings gibt es da noch Franz, den heimlichen Herrscher über das Land, auf dem sie lebt. Franz, der Großgrundbesitzer, der sich um sie und ihre Holzvorräte kümmert, ihr kleine dringend benötigte Geschenke macht und sich seine vorgeblich nächstenliebende christliche Fürsorge in der einzigen Währung bezahlen lässt, die Marian noch geblieben ist. Diese Beziehung läßt sich nicht so einfach in ihr neugezimmertes Weltbild einordnen. Wird sie dadurch wirklich zur „Hur“, wie ihr ein Unbekannter auf die Haustür geschmiert hat? Oder hat nicht jede Beziehung letzten Endes ihre eigene Ökonomie?

Doris Knecht erzählt klar, uneitel und ohne jede Sentimentalität. Obwohl man der Autorin eine gewisse Affinität zu Schachtelsätzen nicht absprechen kann, erzählt sie den Roman in hohem, forderndem Tempo, die Härte vieler Sätze lediglich durch österreichische Klangfärbung abgemildert. Und ihr Roman endet mit einem Lichtblick.

Doris Knecht: „Wald“. Roman. Rowohlt Verlag. 271 SEiten, €19,95.




Da weiß man, was man hat: Gabriella Wollenhaupt legt den 25. „Grappa“-Krimi vor

Bereits zum 25. Mal schickt Gabriella Wollenhaupt ihre Maria Grappa los, damit diese gestandene Polizeireporterin über ein Verbrechen nicht nur berichtet, sondern auch zur Aufklärung wesentlich beiträgt.

 Im Jubiläumsband „Grappa und die stille Glut“ begegnen Maria Grappa dunkle Geheimnisse aus der Vergangenheit, die leider nicht nur in erotischen Tänzen münden, sondern grausame Morde nach sich ziehen. Das Sommerloch beherrscht auch das Bierstädter Tageblatt und Maria Grappa behilft sich gerade mit einer Serie über Stalking-Opfer. Bei ihr meldet sich ein Pfarrer, dessen Story Auflage verheißt. Er wird von einer 72-jährigen Frau verfolgt, die ihm unter anderen mit erotischen Tänzen in seinem Vorgarten auflauert. Doch was zunächst noch halbwegs witzig anmutet, wird schnell bitterer Ernst. Noch bevor Maria Grappa zu recherchieren beginnen kann, wird der Pfarrer grausam ermordet aufgefunden.

Marias Instinkt lässt sie eine 22 Jahre alte Spur verfolgen. Damals betreute der Pfarrer ein Ferienlager, in dessen Verlauf eine junge Aushilfskraft verschwand und erst Jahre später ermordet aufgefunden wurde. Auch die tanzende Stalkerin ist auf den zweiten Blick nicht nur lächerlich, sie hat eine tragische Geschichte. Ihre kleine Tochter kam vor fast 50 Jahren von der Schule nicht nach Hause, bis heute fehlt von ihr jede Spur. Doch warum stalkt sie den Pfarrer, haben all diese Fälle etwas miteinander zu tun?

Maria Grappa ist diesmal noch mehr auf sich alleine gestellt als sonst. Ihr langjähriger Polizei-Kontakt und Gelegenheitspartner Friedemann Kleist fehlt ihr schmerzlich, er ist auf eine spezielle und geheime Mission abkommandiert. Dem Leser fehlt er erstaunlich wenig. Für ihn bekommt der Fotograf Wayne Pöppelbaum mehr Raum, den er ganz vorzüglich und gefällig ausfüllt.

Auch die anderen liebgewordenen Protagonisten aus der Redaktion trifft man wieder, wobei die eine oder andere Figur auch mal eine neue Facette zeigen darf. So wie Kollegin Mäggi, die nach Jahren „freiwilliger“ sexueller Abstinenz ein Krösken der etwas anderen Art erlebt.

Natürlich gibt es da noch die Bäckerin Frau Schmitz, die im Grappa-Universum stellvertretend für die patenten, pragmatischen Ruhrpott-Frauen steht. Wie überhaupt Gabriella Wollenhaupt es immer wieder schafft, mit wenigen Worten ehrliches Ruhrpott-Lokalkolorit zu schaffen. Da wird der Gruß getauscht: „Wie iss? Muss. Und selbss? Muss.“ Und schon weiß man, wie et sich anfühlt inne Bäckerei vonne Frau Schmitz.

Dazu kommt eine neue Praktikantin, die „irgendwas mit Medien“ machen will und dies am liebsten schick geföhnt vor der Kamera. Wie sie eben so sind, die jungen Leute. Den Kopf voller Flausen, aber wenn sie eine fordernde Aufgabe bekommen, dann zeigen sie plötzlich doch, was in ihnen steckt.

Ganz en passant trägt Gabriella Wollenhaupt anhand dieser und anderer Figuren sowie den kurzweiligen Beschreibungen der Redaktionskonferenzen den veränderten Lese- und Publikationsgewohnheiten Rechnung. Auch das Bierstädter Tageblatt hat sich weiterentwickelt, aber die goldenen Zeiten sind vorbei. Oft genug geht es auch im Grappa-Team nur um die schnellen Klicks, die Online-Ausgabe wird immer wichtiger. Wenn man auch zur Sicherheit die E-Mails lieber noch ausdruckt. Man weiß ja nie….

Maria Grappa selbst ist unverändert am Puls der Zeit, ganz gelegentlich zeigt sie Anzeichen von Altersmilde, aber messerscharf beobachten und analysieren sowie das Ganze dabei mit Sarkasmus kommentieren, das kann sie immer noch ganz wunderbar. Gabriella Wollenhaupts Reporterin ist längst ein fester Bestandteil der deutschen Krimilandschaft. Sie ist ein wohltuend „geerdetes“ Gegenstück zu anderen, mittlerweile doch recht betulichen Krimi-Größen. Ihre Fälle werden zwar nicht in jedem Feuilleton besprochen, dafür aber umso eifriger in sozialen Netzwerken und ganz klassisch auch zum Beispiel in meiner ruhrischen Vorort-Nachbarschaft.

Gabriella Wollenhaupt arbeitete langjährig als Fernsehredakteurin, heute konzentriert sie sich hauptsächlich auf ihre schriftstellerische Tätigkeit. Neben den Grappas hat sie auch Lyrik veröffentlicht und gemeinsam mit ihrem Ehemann Friedemann Grenz weitere Ausflüge in die Krimiszene unternommen. Sie erzählt mit Sympathie für ihre Protagonistin, dabei eben auch nicht blind gegenüber den Entwicklungen des Journalismus.

„Grappa und die stille Glut“ ist solides Krimi-Handwerk, aus einem Guß geschrieben, nichts holpert, nichts stolpert, nichts ist unlogisch. Auch mit dem Juliläums-Krimi bekommt der Leser exakt das, was er erwartet.

Gabriella Wollenhaupt: „Grappa und die stille Glut“. Grafit-Verlag, Dortmund. 188 Seiten, € 9,99.




Ziellose Odyssee – „Otis“, der Debüt-Roman des Blumfeld-Sängers Jochen Distelmeyer

Otis,  Jochen Distelmeyer Es gibt Bücher, die einen ratlos zurücklassen, bei deren Lektüre man sich ernsthaft fragt, was in aller Welt der Autor hat mitteilen wollen.

Schlimmer noch: Wollte er dem Leser überhaupt etwas mitteilen oder wollte er einfach nur mal all seine Gedanken aufschreiben und loswerden? Am allerschlimmsten: Wenn man am Ende des Romans angelangt ist, es nicht ungern gelesen und sich nicht gelangweilt hat, aber trotzdem nicht weiß, ob einem das Buch gefallen hat, ob man aus der Lektüre jetzt etwas für sich mitnimmt. So ein Buch ist für mich „Otis“, der erste Roman von Jochen Distelmeyer, dem hochgelobten Sänger und Texter der ehemaligen? wiedervereinigten? (man weiß es derzeit nicht so genau) Hamburger Band Blumfeld.

Distelmeyer erzählt vom Leben, Wirken, und Denken seines Helden Tristan Funke, von seinen wolkigen Träumen und seinen gelegentlichen Stippvisiten auf dem Boden der Realität. Tristan ist erst vor kurzem von Hamburg nach Berlin gezogen, um über die Trennung von seiner langjährigen Liebe hinwegzukommen. Einen gutbezahlten Job hat er deswegen geschmissen, nun ist er unter die Schriftsteller gegangen. Sein Thema ist die Odyssee, darunter macht er es nicht. Natürlich übertragen in die Neuzeit. Sozusagen Metaebene auf der Metaebene in der Metaebene.

Der Held in Tristans Buch ist Otis, ein moderner Anti-Held auf der Flucht, angelehnt an die Figur des berühmt berüchtigten Kim Dotcom. Während Tristan – meist erfolglos – an seinem Buch rumdoktert, erlebt er in der Hauptstadt so etwas wie seine persönliche Odyssee.

In Tristans Lebens gibt es genug, wovor er nur zu gerne flüchten mag. Vor gleich zwei Frauen, mit denen er zeitgleich Liebschaften unterhält, während er sich eigentlich eher für eine Dritte interessiert. Vor dem Intellektuellen-Gehabe der neugewonnenen flüchtigen Hauptstadt-Bekanntschaften, mit denen er doch eigentlich so gerne konkurrieren möchte. Vor dem ganzen Elend bundesrepublikanischer Wirklichkeit in den Zehner-Jahren des noch jungen Jahrtausends. Tristan – so scheint es – ist geradewegs von der Pubertät in die Midlife-Crisis gerutscht.

Jochen Distelmeyer ist ein belesener, ein gebildeter, sehr kluger Mensch, der kluge Gedanken noch klüger zu formulieren weiß. Er kann wunderbar mit Worten umgehen, sie zu melodischen, lange nachklingenden Sätzen zusammensetzen. Es ist eine Freude, diese Sätze zu lesen, einfach um der Sätze willen. Formulieren also kann er, eine Handlung stringent erzählen hingegen eher nicht.

Wikipedia merkt zur Band Blumfeld an, dass deren Texte „eigene Gefühlswelten mit Gesellschaftskritik“ verbinden. Sehr gelungene Formulierung, die sich eins zu eins auf „Otis“ übertragen lässt. Denn genau das ist es, was in diesem Buch passiert. Nicht weniger, aber leider auch nicht mehr. Das, was in Sontexten so ganz wunderbar funktioniert, lässt sich eben nicht so einfach in Romanform übertragen. Zumal die Gesellschaftskritik an jeder Stelle so wirkt, als habe Distelmeyer sie einfach unbedingt unterbringen wollen, um jeden Preis. Auch um den Preis, dass die behandelten Themen selten etwas mit der ohnehin schon recht dürftigen Romanhandlung zu tun haben. Schlussendlich hat man das Gefühl, einfach nur aneinander montierte Szenen gelesen zu haben, die sich bei allem spürbaren Bemühen einfach nicht verdichten wollen.

Distelmeyer scheint wie sein Protagonist Tristan der Meinung zu sein, dass die Bevolkerung quasi in der „Sicherheit ausländischer Krisensituationen gewiegt wird“, während „allen im Innersten längst klar ist, dass das Spiel an sich längst gelaufen ist.“ So. Das muss mitgeteilt werden, das muss endlich mal allen klar werden. Und wenn man es in einen Roman presst, damit es nicht nur eingefleischte Blumfeld Anhänger zu hören/lesen kriegen.

Das liest sich streckenweise spannend, zum Beispiel wenn Distelmeyer sein schwelendes Unbehagen am Umgang mit jüngerer deutscher Geschichte am Beispiel des Berliner Holocaust-Mahnmals erzählt. Da ist es eigenartig berührend, wenn man selbst miterlebte Geschichte in Romanform erzählt bekommt und gleichzeitig bestürzend offenlegend, wie absurd doch so vieles ist.

Aber kein Thema ist abseitig genug, um nicht irgendwie noch in den Roman hineingequetscht zu werden. Wozu geht Tristan auf schicke Partys, wenn nicht, um die dort entstehenden Dialoge für Gesellschaftskritik zu nutzen? Da kann man gerne schon mal über Cern in Genf als das „Ground Zero für Urknall-Traumatisierte“ philosophieren. Schön formuliert, griffig, wohlklingend, aber was genau soll das dem Leser jetzt sagen?

Überdruss macht sich da schnell breit, vor allem auch, wenn kaum einmal etwas auch von einem zweiten Standpunkt aus betrachtet und so ungewollt das Vorurteil vom weltfremden Kulturschaffenden genährt wird. Sehr schön zu sehen am Exkurs über den Verlag Behrmann, wohl angelehnt an die jüngere Geschichte des Suhrkamp-Verlags. Alles richtig, alles wahr, aber alles auch nur aus der Sicht des Literaten betrachtet. Dass es auch noch andere Dinge gibt, die das Zusammenleben regeln, Gesetze beispielsweise – das schenkt Tristan/Distelmeyer sich durch elegantes Weglassen. Dadurch reduziert er seine ihm doch so am Herzen liegende Gesellschaftskritik auf eine trotzige Pippi-Langstrumpf-Ich-mach-mir-die-Welt-wie-sie-mir-gefällt-Attitude.

Dazu kommt, dass vieles im Buch sehr Berlin-spezifisch ist und für den, der nicht so mit der Welt der Promis und Hipster in der Hauptstadt vertraut ist, schwer zu enträtseln. Kann man sich immerhin gut in Tristan hereindenken, dessen nordisch-grüblerisches Wesen in der Hauptstadt auch weit weniger gefragt ist als das im Buch nicht ungeschickt gezeichnete intellektuell verbrämte, überhebliche Weltenerklärer-Gehabe. Tristan befindet sich da in einem Zwiespalt und Distelmeyer mit ihm. Nie weiß man genau, was ihn eigentlich treibt und schon gar nicht warum. Wut? Überhöhtes Selbstverständnis? Resignierte Melancholie der intellektuellen Boheme?

Viel authentischer, viel empathischer und glaubwürdiger wirkt Distelmeyers Roman dafür an den Stellen, an denen er die Gesellschaftskritik einfach beiseite lässt und von den Leuten erzählt, mit denen Tristan sein Leben verbringt. Cousine Juli und Freund Ole beispielsweise sind so fein entworfen, so lebensnah, darüber hätte man gerne mehr gelesen. Genauso wie über das Romangeschehen auf der Meta-Ebene. Die Geschichte von Otis als modernem Odysseus ist eine großartige Idee, liest sich auch in Ansätzen so schön, dass man sich bei dem Gedanken ertappt, lieber als Tristans Irrwege durch Berlin hätte man diese Geschichte gelesen. Doch auch Distelmeyers Auslassungen zu Odyssee und Orestie sind weit hergeholt und verschwurbelt. Es ist eine Odyssee der Ziellosigkeit.

Jochen Distelmeyer: „Otis“. Roman. Rowohlt Verlag, 282 Seiten, €19,95.




Auf Frankfurts „Golanhöhen“ – Marc-Oliver Bischoff beendet seine Krimi-Trilogie

450_Bischoff_Golan_mit_button_rgb Man muss nur tief genug in der Vergangenheit des Kriminalkommissars wühlen, dann findet man schon den Mörder. So scheint seit einiger Zeit ein unumstößliches Krimi-Gesetz zu lauten. Egal, ob man „Tatort“ einschaltet oder einen Kriminalroman aufschlägt – ohne persönliche Verwicklungen der ermittelnden Personen geht es anscheinend nicht mehr. Der unbeteiligt ermittelnde Kommissar wurde wohl in Rente geschickt.

Da macht auch der neue Roman „Golanhöhen“ von Marc-Oliver Bischoff aus der bewährten Dortmunder-Krimi-Schmiede (Grafit Verlag) keine Ausnahme. Aber soviel vorab: Dies ist auch schon der einzige zu bemängelnde Punkt und zugegebenermaßen auch persönlichem Überdruss geschuldet. Davon abgesehen, ist das Buch nämlich ein außerordentlich gut gemachter Krimi, angemessen düster, intelligent aufgebaut und erzählt.

„Golanhöhen“ ist der dritte Teil von Bischoffs Frankfurt-Trilogie. Während in den ersten beiden Teilen noch Kriminalpsychologin Nora Winter ermittelte, steht aufgrund ihres Erziehungsurlaubs diesmal ihr Mann Gideon an der Spitze der Ermittlungen – zumindest so lange, bis er degradiert und suspendiert wird.

Der Plot ist zum größten Teil angesiedelt in den heruntergekommenen Sozialbauten am Frankfurter Ben-Gurion-Ring, welche den unglücklichen „Spitznamen“ Golanhöhen tragen. Dieses Viertel gleicht in Frankfurt „einem schwarzen Loch. Armut zieht Armut an. Probleme bringen weitere Probleme mit sich“. Der noch positivste Lerneffekt, den ein Bewohner dort mitnehmen kann, ist Selbstmitleid. Selbstmorde sind alltäglich.

So geht auch Gideon Richters Team zunächst von einer Selbsttötung aus, als sie zu einem Todesfall in den Sozialbauten gerufen werden. Doch Gideon hat Zweifel. Die Tote ist erst vor kurzem aus der Haft entlassen worden, warum sollte sie sich ausgerechnet jetzt vom Dach stürzen? Und was ist mit dem toten Baby, dass in der Mülldeponie gefunden wurde? Hängen die beiden Fälle zusammen?

Gideon allerdings tut sich ausnehmend schwer, sich auf die Ermittlungen zu konzentrieren. Den frischgebackenen Vater lassen Ermittlungen um ein totes Baby und eine Frau, die als Kindsmörderin inhaftiert war, ganz und gar nicht kalt. Dazu kommt eklatanter Schlafmangel, denn das Baby lässt Nora und ihm nicht viel Ruhe. Deshalb leidet er unter unerklärlichen Blackouts, von denen er befürchtet, dass sie nicht nur aus den schlaflosen Nächten resultieren. Und dann muss er sich auch noch besagten ungeklärten Dingen aus seiner Vergangenheit stellen, die plötzlich den Fall unerwartet tangieren. Gideon verliert Distanz und Objektivität und trifft einmal zu oft eine unhaltbare Entscheidung.

Bischoff beginnt den Roman zwar mit einem rasanten Prolog, läßt sich dann aber Zeit, den eigentlichen Fall ganz ruhig und detailliert, dabei aber an jeder Stelle spannend zu beginnen. Im weiteren Verlauf steigert er sein Tempo, die Brechstange bleibt dabei dankenswerterweise weggeschlossen. An jeder Stelle lässt er sich Zeit, alle Aspekte des Falls und der Ermittlungen in einem wohltuend unaufgeregten Schreibstil auszuleuchten.

Ausführlichen Platz bekommt dabei auch die Betrachtung heutiger Arbeitsbedingungen. Unterbesetzte Teams, Stress, die Schwierigkeiten, Beruf und Familie zu vereinbaren, die stillschweigend vorausgesetzte Bereitschaft, auch über vertragliche Arbeitszeit hinaus bereitwillig parat zu stehen, auch und gerade bei Teilzeitkräften – Themen, die sicher nicht nur, aber eben auch Polizei-Teams beschäftigen. Bischoff zeigt am Beispiel von Gideons Team explizit und kritisch, wie sehr das so oft gehörte ungute „Sei froh, dass Du noch einen Job hast“ bereits gesellschaftlich akzeptiert ist.

Dass dem Leser auch bei solchen Exkursen nicht langweilig wird, liegt nicht nur am Wiedererkennungswert, sondern sicher auch an der Fähigkeit des Autors, nicht nur geschliffen zu formulieren, sondern sich auch ohne Anbiederung in seinen Dialogen den jeweiligen Schichten gut und glaubwürdig anzupassen. Spannend zum Schluss der Mut des Autors, ausgerechnet eine Trilogie mit einem offenen Ende zu beschließen.

Marc-Oliver Bischoff kam über das Bloggen zum Schreiben, sein erster Krimi „Tödliche Fortsetzung“ wurde gleich mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Er lebt in Ludwigsburg und arbeitet dort als Technologieberater.

Marc-Oliver Bischoff: „Golanhöhen“. Grafit-Verlag, Dortmund. 411 Seiten, € 11,99.




Vollendet unvollendet: Wolfgang Herrndorfs „Bilder deiner großen Liebe“

Bilder Deinen großen Liebe „Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert.“ Es kommt in Schüben, gegen die man sich nicht wehren kann – „wie Hunger oder Durst, oder wenn man ficken will“. Mit solcher Art Betrachtungen beginnen die „Bilder deiner großen Liebe“.

Ein junges Mädchen stellt diese Betrachtungen an. Sie steht im Hof einer Anstalt, betrachtet die blühenden Blumen, die Sonne am Himmel – das Klischee ist ihr bewusst. Mit dem Daumennagel berührt sie die Sonne, schiebt sie Millimeter um Millimeter zurück. Langsam verschiebt sich auch das Eisentor, welches die Anstalt vom Rest der Welt trennt. Das Mächden, welches eben noch die Sonne berührt hat, huscht hinaus. Sie hat keine Schuhe an, egal.

Sie zieht die Socken auch noch aus und beginnt barfuß ihre Wanderung. An der Autobahn entlang, durch Dörfer, Wiesen und immer wieder durch den Wald, der ihr, seit sie denken kann, ein Freund, ein Trost war. Mehr Freund als die meisten Menschen, denen sie begegnet ist in ihrem Leben oder die sie auf ihrer Wanderung noch treffen wird: Den Binnenschiffer, der mal ein Bankräuber war oder auch nicht, einen verdrucksten Schriftsteller, einen lüsternen Fernfahrer, auf dem Friedhof einen wohlwollenden Mann in grüner Trainingsjacke, ihr und uns bekannt.* Und auf einer Müllkippe trifft sie zwei Jungen, mit denen sie eine Zeitlang zusammenbleibt. Eine kurze, aber eine wahrhaftige, eine fast schon glückliche Zeitlang. Das wandernde Mädchen – wir kennen sie. Es ist Isa, die hinreißende, grandiose Isa aus Wolfgang Herrndorfs nicht weniger hinreißendem Jugendroman „Tschick“.

Der unvollendete Roman „Bilder deiner großen Liebe“ ist der letzte veröffentlichte Text des viel zu früh verstorbenen Wolfgang Herrndorf. Wolfgang Herrndorf war Schriftsteller, Maler, Illustrator und Blogger, der seinen hoch verdienten, berechtigten Erfolg erst erfuhr, als er schon unheilbar an einem Gehirntumor erkrankt war. In Konsequenz dieser unheilbaren, ihn zerstörenden Krankheit nahm er sich im August 2013 das Leben. Sein Leben mit der Krankheit und seine Vorbereitungen auf den Freitod teilte er in seinem tief berührenden, auch verstörenden Blog Arbeit und Struktur mit der Öffentlichkeit, posthum als Buch herausgegeben.

Der Veröffentlichung des fragmentarischen Isa-Textes stimmte er erst wenige Tage vor seinem Freitod zu. Zum Glück für uns, die Leser, die ihn und seine Texte schon länger begleitet haben. Ja, es ist unfassbar traurig, zum letzten Mal etwas Neues von Wolfgang Herrndorf lesen zu dürfen, aber es ist schön, es ist eine große Freude, dass es ein Text über Isa ist.

Wolfgang Herrndorfs Jugendroman „Tschick“, der Überraschungserfolg des Jahres 2010, ist ein großartiges Buch. Die Figur Tschick war grandios, die Figur Maik Klingenberg war grandios, aber seien wir ehrlich, die Grandioseste von allen war Isa. Die Figur, die auch Jahre nach der Lektüre am präsentesten in der Erinnerung ist. Isa, die Unbezähmbare, die Lebenskluge, so wild entschlossen, dem Leben wenigstens ein bißchen etwas abzutrotzden. Nicht nur die Protagonisten in Tschick liebten sie, nicht nur der Leser, sondern wohl auch Wolfgang Herrndorf.

Möglicherweise war Isa sogar diejenige von Herrndorfs Romanfiguren, die ihm am meisten bedeutete. Isa ist wohl die Romanfigur der letzten Jahre mit dem größten Potential. Es ist (bei aller Tragik des Schicksals von Herrndorf) eine weitere Tragik in sich, dass diese Figur mit ihm unvollendet gehen musste. Mit den letzten Zeilen der „Bilder“ kommt der Gedanke auf, dass Isa seine imaginäre Gefährtin war, die ihn in den Tod begleiten und doch zurückbleiben sollte, um für ihn noch etwas zu Ende zu bringen.

Den Titel „Bilder deiner großen Liebe “ hat Herrndorf selbst noch bestimmt, irgendwie ist er untypisch für ihn. Die Romanfigur Isa hat ein reales Vorbild aus dem Leben Wolfgang Herrndorfs. Ines, eine Frau, die mitten im Wald in einer Hütte wohnte, die barfuß durch den Wald streifte und über Katarakte kletterte, die ihm zum Einschlafen Musils „Fliegenpapier“ vorlas. Sie gab schon der Hauptfigur in den „Plüschgewittern“ ihren Namen, der Autor bezeichnete sie als „naturkindhaft“ und die Tage mit Ines, mit der ihn eine platonische Beziehung verband, nennt er die glücklichsten seines Lebens. (Nachzulesen im oben verlinkten Blog, Kapitel 6, 22.07.2010, 5:33h ) So betrachtet, passt der Titel dann doch wieder ganz gut. Ein weiteres schönes, berührendes Detail am Rande: Das Landschaftsgemälde auf dem Schutzumschlag ist ein Gemälde von Wolfgang Herrndorf selbst. Wie einem Hinweis im Buch zu entnehmen, hing es lange Zeit schief und ungerahmt und mit der Zeile „macht einem manchmal Angst: Die Natur“ an der Wand über seinem Schreibtisch.

„Bilder deiner großen Liebe“ ist keine Fortsetzung von „Tschick“. Es sind gerade mal sechs Seiten, die sich in den „Bildern“ mit der „Tschick“-Handlung überschneiden. Das mag manchen enttäuschen, zumal sich nach der Lektüre der Gedanke aufdrängt, dass die beiden Jungs für Isa bei weitem nicht das waren, was sie umgekehrt für die Jungs war. Für die „Bilder“ ist das aber völlig in Ordnung, „Tschick“ braucht keine Fortsetzung. „Tschick“ ist genauso wie es ist richtig.

Aber – so weiß der Leser schon vor der Lektüre ungefähr, was ihn erwartet. Ein Text aus der Sicht einer unzuverlässigen Erzählerin. Unter allen unzuverlässigen Erzählern, die es je gegeben hat, ist Isa wohl die unzuverlässigste. Sie mäandert durch Zeit und Raum und das liegt nicht nur daran, dass der Text den Herausgebern als Fragment vorlag. Aber gerade deswegen funktionieren die Bilder als Road Novel außerordentlich gut, gerade deswegen wirkt der Roman weit weniger unvollendet und fragmentarisch, als vor Lektüre erwartet. Es ist wirklich weniger der Roman, der unvollendet bleibt, als vielmehr Isa selbst, deren viel zu kurzes Gastspiel in der literarischen Welt man nur außerordentlich bedauern kann.

Die Herausgeber Kathrin Passig und Marcus Gärtner waren enge Freunde des Autors und zeichneten auch schon verantwortlich für die Veröffentlichung des Blogs als Buch. Man kann es nicht anders sagen, als dass sie es auch mit den „Bildern“ gut, sogar sehr gemacht haben. Man merkt (auch im erkärenden Nachwort der Beiden), dass sie sich den Entscheidungen, die sie zu treffen hatten und die eigentlich nur einem Autor zustehen, mit tiefem Respekt genähert haben. Sie haben sehr sorgfältig gearbeitet, leichtgefallen ist es ihnen auch nach eigener Aussage nicht. Sie verbergen vorhandene Lücken nicht, dennoch ist der Text zusammenhängend. Vor allem aber bewahren sie Wolfgang Herrndorfs ganz eigene Sprache und würdigen so die Einzigartigkeit des Autors.

Worte waren seine Bilder, je plastischer, desto lieber. Die gelegentlich etwas schief sitzende Grammatik – sie ist gewollt und die Herausgeber haben sie unverändert gelassen. So hat Wolfgang Herrndorf es sich gewünscht, so haben Passig und Gärtner es gemacht. Bloß keinen „Germanistenscheiß“ an den Text ranlassen, das war Herrndorf wichtig. Er wäre stolz auf das Ergebnis gewesen.

Auch wenn der Roman noch so oft unvollendet genannt werden wird, für mich als Leserin, die alle Werke Herrndorfs chronologisch zum jeweiligen Zeitpunkt ihres Erscheinens – angefangen mit den Erzählungen „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ bis hin zum Blog – gelesen hat, für mich sind die „Bilder Deiner großen Liebe“ ein versöhnliches, wenn auch für immer traurig bleibendes Ende.

Wolfgang Herrndorf: „Bilder Deiner großen Liebe“. Rowohlt Berlin, 140 Seiten, € 16,95.

(*der Mann in grüner Trainingsjacke auf dem Friedhof entspricht einem bekannten Foto des Autors.)




Wo bleiben bloß die Emotionen? – Goosens „So viel Zeit“ als Theaterstück in Oberhausen

Theater OBKarriere gemacht, Ehepartner gefunden (und verloren), Kinder gezeugt und „v“erzogen, Eigenheim gebaut, Baum gepflanzt – alles erreicht, was vor langer Zeit als Lebensziel angepeilt war. Jetzt kommt die Ernüchterung, die Wehmut und die Erinnerung an einst so unbekümmerte Zeiten treiben mit Macht. Geht es nicht allen Fortysomethings so?

In Frank Goosens 2007 erschienenem Buch „So viel Zeit“ sind es die Freunde einer Doppelkopfrunde, die nichts dringender ersehnen als „Kontakt aufzunehmen zu ihrem früheren Ich“. Es ist einfach „So viel Zeit – die schon verstrichen ist“ und erst recht „So viel Zeit – die noch gefüllt werden muss“.

Ein demonstrativer Akt wird gesucht, um dem Gefühl entgegenzuwirken, alt und verbraucht zu sein. So lässt man kurz entschlossen die Band aus glorreichen Jugendtagen wiederauferstehen. Geld genug für beste Instrumente hat man ja, nur leider kommt man über gestümpertes Handwerk nicht hinaus.

Es fehlt das charismatische Element. Dieses meint man in Person des Schulfreundes Ole wiederfinden zu können, der einst unter nicht ganz geklärten Umständen nach Berlin entschwand und den man nun in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zurückholt. Die darauf folgenden Ereignisse werden das Leben aller Beteiligten vom Kopf auf die Füße stellen. Aber am Ende steht die Aussöhnung sowohl mit der Vergangenheit als auch mit der wieder verheißungsvoller scheinenden Gegenwart. Soweit der Inhalt von Goosens Buch.

An die szenische Umsetzung dieses emotionalen Stoffs hat sich das Ensemble des Theaters Oberhausen unter Regisseur und Intendant Peter Carp gewagt. Präsentiert wird das Ganze als musikalische Produktion mit untermalenden Hardrock-Klassikern von Deep Purple, AC/DC und Led Zeppelin, dargeboten durch die Theater-eigene Band „Mountain of Thunder“.

Was fehlt, ist „so viel Zeit“, um alles aufzuschreiben, was an dieser Inszenierung nicht gefällt. Es fängt schon mit dem anscheinend vom Gerüstbauer des Vertrauens gebauten Bühnenbild an. (Naheliegende Interpretation „Baustelle Leben“? Aber vielleicht gefiel den Machern auch zunächst nur die Umsetzung des nie fertig gewordenen Haus-Anbaus eines der Protagonisten und wo man schon mal dabei war, rüstete man den Rest auch gleich noch ein.) Dies ist aber ein vergleichsweise kleines, wenn auch teils die Sicht nehmendes Ärgernis.

Wo das Buch neben feinem Sprachwitz und trockenem Humor auch Trauer und Gebrochenheit ohne Kitsch zum Ausdruck zu bringen vermag, kann sich die Inszenierung einfach nicht entscheiden, was sie sein will. Übergangs- und orientierungslos mäandert man zwischen klamaukigem Volkstheater, Rockkonzert und Dramolett vor sich hin.

Die Schauspieler spielen seltsam unbeteiligt ihren Stiefel runter, so dass man sich unwillkürlich fragt, ob ihnen das Stück peinlich war. War ihnen etwa das Thema zu nah? Denn um die Sehnsüchte der in ihrer Midlife-Crisis gefangenen Männer überzeugend rüberbringen zu können, hätten sie Einblicke in ihre Seelen zulassen müssen und dazu waren sie ganz offensichtlich nicht bereit. Die gut eingetragenen Cowboystiefel einiger der Darsteller waren zum Teil schon das Aufregendste an ihnen und erzählten mehr von gelebtem Leben als der zum größten Teil erschreckend emotionslos vorgetragene Text.

Im Buch spielt Musik eine große Rolle. Musik ist dort das, was ein Leben und Freundschaften zusammenhalten kann. Bis auf die Darsteller Jürgen Sarkiss, Peter Waros und Martin Müller-Reisinger scheint das aber keiner der Schauspieler je wirklich gefühlt zu haben. Es scheint, als wüssten sie wirklich nicht, welche Botschaft sie da transportieren müssen, man fragt sich sogar, ob der Rest des Ensembles überhaupt je auf einem Rockkonzert gewesen ist.

Lichtblicke in der Darsteller-Riege sind die Allzweckwaffen Konstantin Buchholz und Eike Weinreich, die ihre Slapstick-Rollen ohne Peinlichkeit auflockernd in das Stück einbringen und sich so für mehr empfehlen. Ebenso das Gros der weiblichen Nebenrollen, die ihren kleinen, aber entscheidenden Anteil am Geschehen mit wesentlich mehr Verständnis und Empathie einbringen als ihre männlichen Kollegen. Wenn auch mit Abstrichen: Die Figur der Corinna war im Buch zwar mehrschichtig, aber an keiner Stelle diese Karikatur einer Traumfrau. Und warum eine Karikatur nun das Stück hätte weiterbringen können, erschließt sich an keiner Stelle.

Die Intendanz hat die elementare Bedeutung der Musik für das Stück begriffen, zumindest insoweit, als sie eine richtige Rockband auf die Bühne in der Bühne gestellt hat. Wenn aber so entscheidende Sätze wie: „Wenn Musik schon keine Leben retten kann, so kann sie wenigstens Trost spenden“ unbeteiligt runtergeleiert werden, dann tut das dem Zuschauer beinahe körperlich weh und da rettet auch keine noch so gute Band etwas. Zumal es auch da hakte.

Klassiker sind Klassiker, auch im Hardrock-Bereich. Man sollte sich wirklich dreimal überlegen, an welchen dieser Klassiker man sich vergreift. Auch da gilt: Wenn es am Handwerk hapert, ist dies das eine, wenn aber Inbrunst und Gefühl fehlen, ist das wesentlich schlimmer. Man fragt sich ernsthaft, wie man auf der einen Seite das Pathos von Rockmusik beschwören kann, wenn man sich andererseits nicht einmal zu einer klitzekleinen pathetischen Geste durchringen kann.

Da hilft es auch nichts, wenn mit Peter Engelhardt, dem ehemaligen Gitarristen von „Birth Control“, ein versierter Instrumentalist die musikalische Leitung innehat. Ich muss das jetzt einfach mal so hart sagen: Die Darbietung von Deep Purples „Child in Time“ war die grottigste Version dieses Klassikers, die ich je gehört habe. Ich habe mich immer noch nicht davon erholt! Und das lag ganz gewiss nicht nur an den paar klar schiefen Tönen. Da besteht immerhin noch eine Rest-Wahrscheinlichkeit, dass diese gewollt waren, da man in dieser Szene das erste Konzert der wiederauferstandenen Schulband verkörperte.

Nach der Pause wagte man sich dann sogar an „We will rock you“, besann sich aber noch kurz vor dem Refrain – so dass eine realistische Chance besteht, dass das Gros des Publikums das gar nicht mitbekommen hat. (Queen zu covern ist nämlich noch nie gut gegangen, noch nicht einmal von den heutigen Queen selbst.) Statt also diesen Stadion-Kracher zu Ende zu covern, leitete man gewagt in AC/DCs „Highway to hell“über. Auch ein Klassiker, aber eigentlich keiner der so ganz schweren. Doch auch da der Gedanke „Kann man so machen, muss man aber nicht“.

Interessanterweise befürchtete ich vorher, dass die Theater-Umsetzung von „So viel Zeit“ am Script scheitern könnte. Da aber hat Stefanie Carp eine an und für sich gute Bühnenfassung geschrieben. Es hätte also funktionieren können. Vielleicht hätte es dem Stück gutgetan, wenn alle Oles Ermahnung zu etwas mehr Demut vor dem Ganzen befolgt hätten.

Das Buch „So viel Zeit “ ist eine Hymne auf die Freundschaft und ein Plädoyer für die Verwirklichung von Träumen, die Bühnenfassung ist allenfalls eine Mahnung daran, dass man dies nicht mit distanzierter Kühle in Angriff nehmen sollte. Es nahm nicht wunder, dass die im Buch so emotional beschriebene Aussöhnung mit der Vergangenheit auf der Bühne kaum bis gar nicht stattfand. Es hat sich einfach keiner dafür interessiert.

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