Reizender Scherz im Stimmenglanz: Richard Strauss‘ „Rosenkavalier“ kehrt ins Aalto-Theater zurück

Erstaunlich frisch für eine 15 Jahre alte Inszenierung präsentiert sich Anselm Webers „Rosenkavalier“ in der Wiederaufnahme am Aalto-Theater.

Traum im Museum: Der „Rosenkavalier“ in der Inszenierung von Anselm Weber aus dem Jahr 2004 ist wieder am Aalto-Theater zu sehen. (Foto: Saad Hamza)

Wiederaufnahme-Spielleiterin Marijke Malitius hat mit dem Ensemble ganze Arbeit geleistet. Kulinarik wird nicht negiert, aber Webers Traumlogik bricht Sentimentales und Nostalgisches konsequent auf. So wird etwa der Mummenschanz des dritten Aktes über die „Kreuzer-Komödi“ hinausgeführt und nicht nur für den genarrten großsprecherischen Baron Ochs auf Lerchenau, sondern auch für die Zuschauer zum unheimlich-skurrilen Theater.

„Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein“: Die Distanz zum Geschehen hebt auch die Illusion einer ungebrochenen Rokoko-Rückerinnerung des ersten Aktes auf, steigen die Figuren doch aus den Vitrinen eines Museums: Rückwärtsgewandte Imagination eines spießigen Aufsehers, der fotografierende japanische Touristinnen scheucht und sich – eine echte österreichische Thomas-Bernhard-Figur – in eine bessere Vergangenheit zurückschwärmt, die ihn am Ende ungnädig gefangen nimmt. Der Ochs auf Lerchenau, den er im Traum verkörpert, war eben doch nicht die richtige Rolle für die anbrechende Moderne.

Der Essener GMD Tomas Netopil. Foto: Hamza Saad

Der Essener GMD Tomáš Netopil. (Foto: Hamza Saad)

Bei der Premiere 2004 ein Soltesz-Paradestück, liegt das „Getöse um einen reizenden Scherz“ jetzt in den gestaltenden Händen von GMD Tomáš Netopil. Er bevorzugt einen schlank-gefassten Ton, führt das Orchester präzise und hält es durchhörbar, hätte aber ruhig ausgeklügelter zupacken dürfen: Nicht in den ausladenden Lautstärkegraden, die manchem Sänger volle Kraft voraus abverlangen. Eher in der Flexibilität der Tempi und Metren, deren Wiener Charme immer wieder hinter die bewundernswerte Präzision zurücktreten. Und auch im Feinschliff der Klänge: Die Holzbläser im ersten Akt wirken unspezifisch, fast beiläufig, und die berühmte Überreichung der „silbernen Rose“ wird zu einem prosaischen Ereignis fern ihres impressionistischen Zaubers.

Das Ensemble kann sich hören lassen: Michaela Kaune als Feldmarschallin ist zu den schlank-transparenten Klängen des Orchesters zunächst eine mädchenhafte junge Frau, gewinnt im dritten Akt Reife und stimmlich opulenten Glanz. Karin Strobos als Octavian, anfangs mit Kratzern in der Mezzo-Lasur, kann sich ebenso profilieren wie Elena Gorshunova: Die Schulmädchen-Anmutung mit Matrosenkleid und Stofftier lässt sie schnell hinter sich zugunsten einer stimmlich standfesten, selbstbewussten Sophie. Karl-Heinz Lehner als träumender Museumswärter gibt den Ochs mit genießerisch ausgespieltem Wienerisch und probater Klang-Substanz.

Szene aus dem zweiten Akt mit Heiko Trinsinger als Faninal (Mitte). (Foto: Saad Hamza)

Heiko Trinsinger als pomadig frisierter neureicher Faninal tritt stets gequält von seinen Ambitionen auf; seine Tochter ist im Bühnenbild von Thomas Dreißigacker ein Ausstellungsstück im Vitrinenschrank, der im noch unfertigen Palais mit rauchenden Industrieanlagen an den Ursprung des Reichtums erinnert. Carlos Cardoso als Sänger mit Schmelz, aber auch Michal Doron als Annina und – wie schon 2004 – Albrecht Kludszuweit als Wirt und Rainer Maria Röhr als quirliger Intrigant Valzacchi tragen wie die vielen anderen Rollen nebst einem soliden Chor zum glücklichen Eindruck des Abends bei.

Weitere Vorstellungen am 22. März und 26. April, jeweils 16.30 Uhr. Karten: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de

 




Orte der Ödnis: Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ überzeugt an der Oper Frankfurt nur musikalisch

Als Katerina Ismailowa aus unruhigen Träumen erwacht, liegt sie auf einer Rollbahre, wie man sie in der Anatomie für tote Körper verwendet. Um sie herum ist nichts, außer einer speckig glänzenden, riesenhaften Mauer, deren grün-blau-grau-braun schillernder Rund alles hermetisch abschließt. Ein Ort der Ödnis, ohne Hauch von Schönheit, Freundlichkeit, Hoffnung.

Anja Kampe als Katerina Ismailowa in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Anja Kampe als Katerina Ismailowa in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Kaspar Glarner hat für Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ in Frankfurt eine Dystopie geschaffen, die keinen Ausweg zulässt. Es ist ein Ort der seelischen Gefangenschaft, der Unterdrückung aller Lebenstriebe: Katerinas künstlich weiße Haare sind zwar im Chic der zwanziger Jahre geschnitten, zeugen aber von ihrer erloschenen Seele. Eine VR-Brille muss helfen: Doch der Ausweg ist nur virtuell; Bibi Abel lässt in ihren Videos kitschige Blumen aufploppen. Eine Perspektive hat diese Frau nicht.

Giftige Pilze, serviert ohne innere Regung

Anja Kampes neutral gefärbte, anfangs technisch zweifelhaft in seifig-enge Höhe gezogene Stimme passt zu dieser abgestumpften Frau: Ungerührt geht sie in die Knie, als ihr sadistischer Schwiegervater Boris Ismailow einen grotesken „Liebesbeweis“ fordert. Ohne eine Spur von Mitgefühl befreit sie die Hausangestellte Axinja (einigermaßen zahm: Julia Dawson) aus den Händen ihrer Peiniger. Dem brutalen Boris – Dmitry Belosselskiy singt ihn großartig mit satt strömender Stimme – reicht sie ohne Regung die vergifteten Pilze. Ihren Mann Sinowi – Evgeny Akimov als eitler, profilloser Protz mit genau ausgearbeiteter Blässe – hilft sie umzubringen, als sei Mord ein Alltagsgeschäft. Ihre abstoßende Umgebung hat sie vereist. „Kalt wie ein Fisch“, sagt Boris, als er ihr, um ihre sexuellen Trieb anzufachen, violette Unterwäsche entgegenwirft.

Dmitry Golovnin (Sergei) und Anja Kampe (Katerina Ismailowa). Foto: Barbara Aumüller

Dmitry Golovnin (Sergei) und Anja Kampe (Katerina Ismailowa). Foto: Barbara Aumüller

Dass unter all den Demütigungen die innere Energie, die Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit, die seelische Empfindung nicht abgestorben ist, offenbart sich in der Begegnung mit dem neu eingestellten Arbeiter Sergei: Dmitry Golovnin porträtiert ihn mit funkelnd präsentem, schneidend und schmeichelnd agierenden Tenor als Schlange in einem athletischen Körper, viril, aggressiv und potent. Die Schwachstellen in Katerinas öder Existenz erfasst er sofort und nutzt sie zielstrebig für sich. Und Anja Kampe zeigt genau wie beabsichtigt die Gier der ausgehungerten Frau auf die körperliche Berührung, den Kuss, die Vereinigung.

In solchen Momenten kommt die Regie Anselm Webers zu eindrücklicher Intensität, die man in anderen Szenen vermisst. Seine Stärke zeigt der frühere Essener und Bochumer Schauspielchef, der seit 2017 das Sprechtheater in Frankfurt leitet, wenn es um die Begegnung von Personen geht, wenn viel Unausgesprochenes im Raum steht, wenn er detailliert aussagekräftige Gesten und Gänge einsetzt.

Die Konzeption von Ensembles dagegen bleibt blass und unscharf: Die Quälerei und versuchte Vergewaltigung der Axinja in einem Ölfass ist unentschlossen, weil die gespielte Brutalität nicht bedrohend wirkt. Die erste Begegnung Katerinas mit ihrem späteren „Serjoscha“ lässt keine Spannung zwischen den beiden entstehen. Die böse Ironie der Polizei-Szene im dritten Akt ist nicht überzeugend ersetzt durch die Langeweile einer Schlägerbande in einem abgewetzten Wohnzimmer. Die detailliert durchgestaltete Travestie des Popen (Alfred Reiter) lenkt lediglich von der zupackenden Dramatik der Ereignisse ab, als bei der Hochzeit der Keller mit der Leiche des ermordeten Sinowi geöffnet wird.

Das Glück des Abends kommt aus dem Graben

Tödliche Pilze: Anja Kampe (Katerina Ismailowa) und Dmitry Belosselskiy (Boris Ismailow). Foto: Barbara Aumüller

Tödliche Pilze: Anja Kampe (Katerina Ismailowa) und Dmitry Belosselskiy (Boris Ismailow). Foto: Barbara Aumüller

Und der vierte Akt mit einer vordergründig schmierigen Sonjetka – der ansprechend singenden Zanda Švēde – bleibt in seinem spannungslosen Bildaufbau und seiner fadenscheinigen Gegenständlichkeit ohne die schicksalhafte Hoffnungslosigkeit, die sich in der Weite der Landschaft und der Öde des ewigen Marschierens symbolisch manifestiert.

Auch Anja Kampe drückt die ultimative Demütigung Katerinas und das Entsetzen angesichts ihrer aufkeimenden Selbsterkenntnis eines verpfuschten Lebens mit ihrem lapidaren Timbre nicht aus. Empathie fühlt man mit dieser neutral sich selbst besingenden Katerina nicht. So rettet auch das szenische Ausrufezeichen nichts, den – während des ganzen Abends glänzend intonierenden und präsent agierenden – Chor aus dem Zuschauerraum singen zu lassen. Der „finster-satirische“ Charakter, den Schostakowitsch selbst seiner Oper zugesprochen hat, ist mit dieser Kolportage nicht erfasst.

Das Glück des Abends liegt im Graben: Sebastian Weigle und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester intensivieren Schostakowitschs illustrative und unmittelbar kommentierende Musik so grandios, dass sich das Drama in den Noten ereignet. In der Musik ist die innere Sehnsucht zu vernehmen, die auf der Szene kaum durch die verschlossenen Körperhüllen scheint. In der von Weigle zärtlich ausgeformten Wehmut ist die Hoffnung Katerinas zu spüren, in der Begegnung mit Serjoscha die lang vermisste innere Geborgenheit und Befriedigung zu finden. Aber auch die bissigen, grellen, brutalen Momente mit ihren gellenden Bläsern, den schäumenden Streichern und den böse meckernden oder atemlos hechelnden Holzbläsern kommen nicht zu kurz. Dabei lässt Weigle aber nie grob oder unkontrolliert spielen; er achtet auf Form und Rundung des Tons. Das gibt der Musik Schostakowitschs eine gewisse distanzierte Noblesse, die sich von krudem Naturalismus fernhält.

Musikalisch ist diese Premiere ein Triumph, szenisch rettet man sich so eben über die Runden.

Vorstellungen am 29. November, 8. und 12. Dezember.
Info: www.oper-frankfurt.de




RuhrTriennale-Chef Johan Simons soll ab 2017 das Bochumer Schauspielhaus leiten

Dieser überraschenden Personalie dürfte nicht mehr allzu viel im Wege stehen: Wie WAZ und WDR übereinstimmend berichten, soll der renommierte holländische Theatermacher Johan Simons ab 2017 Intendant des Bochumer Schauspielhauses werden.

Am Freitag dieser Woche (5. Februar) muss der Verwaltungsrat des Schauspielhauses noch zustimmen. Das Plazet gilt jedoch als sicher. Damit scheint eine längere Hängepartie beendet zu sein, in der sich die Stadt mit der Suche nach einem neuen Theaterchef recht schwer getan hat. Zwischenzeitlich war dabei auch Kritik am Bochumer Kulturdezernenten Michael Townsend geäußert worden.

Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons (Foto: Stephan Glagla)

Wird vermutlich Chef des Bochumer Schauspielhauses: Triennale-Intendant Johan Simons. (Foto: Stephan Glagla/RuhrTriennale)

Johan Simons könnte damit jedenfalls ganz in der Nähe seiner jetzigen Wirkungsstätte(n) bleiben. Just bis 2017 ist er bekanntlich Intendant der RuhrTriennale. Er verfügt somit nicht nur über überregionale, sondern auch über regionale Netzwerke. Beste Voraussetzungen also.

Die Nachricht von Simons’ höchstwahrscheinlicher Berufung ist denn auch eine erfreuliche – nicht nur für Bochum, sondern fürs Revier insgesamt. Endlich bekommt das ehedem weitaus wichtigste Schauspiel der Region, das in goldenen Zeiten u.a. von Peter Zadek und Claus Peymann geleitet wurde, wieder einen Chef mit bundesweiter, ja internationaler Ausstrahlung. Bei allem Respekt vor seiner Leistung: Anselm Weber, der 2010 von Essen nach Bochum geholt wurde und 2017 nach Frankfurt wechselt, hat das Haus nicht in die allererste Reihe führen können.

Das Bochumer Schauspielhaus (Foto: Bernd Berke)

Das Bochumer Schauspielhaus (Foto: Bernd Berke)

Der vielfach preisgekrönte Simons (69), der seine Ursprünge im freien Kollektivtheater hatte, hat an etlichen deutschen Bühnen inszeniert, außerdem u. a. in Zürich und beim Festival in Avignon. Von 2010 bis 2015 war er Intendant der Münchner Kammerspiele.

Schon lange vor seiner Triennale-Intendanz hat Simons ab 2002 Regiearbeiten bei diesem Ruhrgebiets-Festival gezeigt, so auch seine geradezu legendär gewordene Produktion „Sentimenti“ (2003), von der noch heute viele Theaterfreunde mit freudig funkelnden Augen sprechen. Simons vermag es, neben allen anderen Fähigkeiten, die Magie von Spielstätten zu wecken und auch musikalische Mittel höchst wirksam einzusetzen. Man darf davon ausgehen, dass Bochums Schauspiel unter seiner Leitung die Kategorie „routiniertes Stadttheater“ bei weitem überschreiten wird.

Simons, der im kommenden September 70 Jahre alt wird, ist zwar nicht mehr der Allerjüngste, doch bringt dieser erfahrene Mann sicherlich die Energie und Leidenschaft mit, um das Bochumer Theater zu einer mindestens bundesweit bedeutsamen Kulturstätte zu machen. Vielleicht erscheint dann ja auch wieder mal öfter der eine oder andere Rezensent aus Berlin, München, Hamburg oder Frankfurt, um davon zu künden.




Holocaust als Opernstoff: Bochums Intendant Anselm Weber inszeniert „Die Passagierin“ in Frankfurt

Ein Totenschiff: Katja Haß hat für Mieczysław Weinbergs Oper "Die Passagierin" in Frankfurt ein großartig metaphorisches Bühnenbild geschaffen. Foto: Barbara Aumüller

Ein Totenschiff: Katja Haß hat für Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ in Frankfurt ein großartig metaphorisches Bühnenbild geschaffen. Foto: Barbara Aumüller

Zeit, sich zu erinnern, ist immer. Aber manchmal verdichtet sich Erinnerung, behauptet sich im Präsens und drängt sich in den gleichgültigen Lauf des Alltags. Momentan liegt es nahe, Vergangenes in die Gegenwart zu holen, auf dass es nicht vergessen werde: Vor 100 Jahren tobte der Erste Weltkrieg, vor 70 Jahren rissen die letzten Zuckungen des Nazi-Systems noch einmal Zehntausende in einen sinnlosen Tod. Aber vor 70 Jahren gab es auch Aufatmen: Die Alliierten erreichten die Tore der Vernichtungslager, gaben denen die Freiheit, die der Tötungsmaschinerie noch nicht zum Opfer gefallen waren.

Wie sich erinnern? Darüber gibt es zu Recht gesellschaftliche Debatten. Die Zeitzeugen sterben aus; das unmittelbar Erlebte ist auf geschichtliche Vermittlung angewiesen. Wie diese missbraucht wird, ist in diesen Tagen zu erleben, wenn die neue Banalität marschiert, den Bombenterror der letzten Kriegswochen gegen die deutschen Städte verzweckt, um ihre fragwürdigen Botschaften zu transportieren.

Erinnern ist auch eine Frage des kulturellen Gedächtnisses. Die deutsche Theaterlandschaft nimmt daran teil. Aber: Wie erinnert man sich auf der Bühne an den industriellen Vernichtungskrieg? An Schützengräben und Feuerstürme? Wie an die unvorstellbaren Gräuel der Lager? Wie an Gaskammern, Todeswände, Stehbunker und Verbrennungsöfen? Lange schien es undenkbar, das Furchtbare künstlerisch vermittelt auf einer Bühne zu thematisieren.

Adornos Diktum von 1949, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, wirkte praktisch wie ein Darstellungsverbot. Erst in den achtziger Jahren begannen vorsichtige Versuche, dem unsagbaren Leid den Ausdruck nicht mehr zu verweigern: Götz Friedrichs erschütternde Inszenierung von Leos Janaceks „Aus einem Totenhaus“ in Berlin war ein solches Beispiel. Peter Ruzickas „Celan“ thematisierte 1998 im reflexiven Rückbezug das Grauen des Holocausts in einem sperrig-komplexen Musiktheater. Aber von einer ausdrücklichen Thematisierung wie in Joshua Sobols Schauspiel „Ghetto“ von 1984 war die Opernbühne noch weit entfernt.

Erst Stefan Heuckes „Das Frauenorchester von Auschwitz“ – uraufgeführt 2006 am Theater Krefeld/Mönchengladbach – machte das Leben im KZ zum Gegenstand einer Oper. Im selben Jahr erklang in einer konzertanten Aufführung in Moskau zum ersten Mal eine Oper, von der die musikalische Welt bis dahin keinerlei Kenntnis hatte: „Pasażerka“ („Die Passagierin“) des 1919 in Polen geborenen jüdischen Komponisten Mieczysław Weinberg. Der Komponist, enger Vertrauter von Dmitri Schostakowitsch, hat sein Werk selbst nie gehört: Er verstarb 1996. Die szenische Uraufführung der „Passagierin“ fand erst 2010 in Bregenz statt und war ein Ereignis mit weltweiter Ausstrahlung.

Perfide Gewalt: Tanja Ariane Baumgartner als Lisa und Sara Jakubiak als Marta. Foto: Barbara Aumüller

Perfide Gewalt: Tanja Ariane Baumgartner als Lisa und Sara Jakubiak als Marta. Foto: Barbara Aumüller

Nach einer Novelle von Zofia Posmysz, die selbst das KZ überlebt hatte, schildert Weinberg eine Begegnung: Auf einem Schiff meint die frühere KZ-Aufseherin Lisa in einer Mitreisenden eine Lagerinsassin, Marta, erkannt zu haben. Sie versucht, die Identität der Passagierin zu erkunden. Gegenwart und Erinnerung verschränken sich, bis sich – ausgerechnet durch Musik – die Gewissheit verdichtet: Die Passagierin lässt die Bordkapelle den Lieblingswalzer des einstigen Lagerkommandanten spielen.

Schostakowitsch bezeichnete Weinbergs Oper als „Hymne an den Menschen, an ihre Solidarität, die dem fürchterlichen Übel des Faschismus die Stirn geboten hat“. So sieht sie auch Regisseur Anselm Weber in der Frankfurter Neuinszenierung – rechtzeitig zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Die Bestialität des Lagerlebens, die nackte, menschenverachtende Brutalität lässt der Intendant des Bochumer Schauspiels nicht zu: Gewalt auf der Bühne droht immer ins Malerische abzugleiten.

In sorgfältigen Menschenstudien thematisiert Weber, wie die Gefangenen mit dem Horror leben: gebrochen bis zum Verlust des Gedächtnisses, getröstet von Gebet und winzigen Inseln gelebter Menschlichkeit, entschlossen bis zur Hingabe des eigenen Lebens, um sich und sein Gewissen nicht brechen zu lassen.

Katja Haß, die Bühnenbildnerin, hat für die Gleichzeitigkeit von Schiff und Lager, für das Verschmelzen von Realität und Erinnerung eine überzeugende Bühnenlösung gefunden. Vor einer riesigen Schiffswand sehen wir auf einer Gangway Walter, einen deutschen Diplomaten, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere 1960 nach Brasilien reist. Seine junge Frau Lisa im modischen Petticoat, die blonden Haare in Wellen gelegt: Man ahnt das „arische“ Weib von damals. Marta, die „Passagierin“: eine schlanke, elegante Frau in Schwarz. Sie zündet den Impuls des Erinnerns – da öffnen sich die Türen und aus dem Dunkel schälen sich drei Menschen in gestreifter Häftlingskleidung.

Anna-Lisa Franz, die ehemalige SS-Aufseherin, beharrt auf dem Recht auf Vergessen – aber es ist selbst für sie eine Illusion. Die Toten kommen wieder – die Schreckvision aller Gewaltmenschen bis hin zu de Schlächter Macbeth in Verdis Oper – und lassen sich nicht bannen: Die schwarze Frau zieht Lisa hinein in die Erinnerung; die Schiffwand dreht sich und öffnet sich zu einem Raum mit kalten Wänden.

Die Reling wird zum Wachtturm, die Schotten zum Lagertor. Wie es im Leben der Anna-Lisa Franz ein „Außen“ und „Innen“ gibt, so auch auf diesem Schiff: Das Äußere ist weiß, realistisch, gegenständlich. Das Innere ist der schmutziggraue Alptraum, die brutale Realität der Opfer. Das „Lieschen“ der Wirtschaftswunderzeit wandelt sich zur blonden Uniformierten. Die Frankfurter Inszenierung der „Passagierin“ hat also nicht – wie Holger Müller-Brandes (Regie) und Philipp Fürhofer (Bühne) in der deutschen Erstaufführung 2013 in Karlsruhe – auf realistische Elemente verzichtet, sie aber immer wieder in der Tiefe eines metaphorischen Raums gebrochen.

Weinbergs Oper klagt nicht an durch brutale, ungeschönte Szenen aus der Lagerqual. Aber das Libretto von Alexander Medwedew zitiert geradezu jene wohlbekannten Sätze, mit denen die Täter ihre Schuld relativierten: Befehl und Gehorsam, Pflicht und Korrektheit. Monströs ist die Verwunderung Lisas über den Hass, den ihr die Gefangenen entgegengebracht haben.

Für den Regisseur Anselm Weber (Intendant des Bochumer Schauspielhauses) ist Fräulein Franz keine „blutige Stute“, die prügelt oder tötet. Ihre Mittel sind subtiler, perfider: Sie gewährt scheinbar Momente der Menschlichkeit, etwa, wenn sie Marta und ihrem Geliebten Tadeusz ein heimliches Treffen ermöglicht. Aber ihr Ziel dabei ist die innere Demütigung der Gefangenen, wenn sie sich selbst verraten, um aus ihren Händen die Gunst zu empfangen. Marta spielte nicht mit – und Tadeusz auch nicht: Der Geiger, der den Lieblingswalzer des Kommandanten einüben soll, bevor er sich „in Rauch auflöst“, lehnt die Chance ab, Marta noch einmal zu sehen. Das Ende der Oper – und des Selbstbetrugs Lisas – kommt mit dem dämonisch verzerrten Walzer der Bordkapelle und einem träumerischen Lied Martas: Sie nennt die Namen ihrer Mithäftlinge, die nicht vergessen werden sollten – ein bezeichnender Kontrast zu der Szene im Lager, in der die Menschen mit bloßen Nummern aufgerufen wurden.

Die kalten Zahlen, die auch auf dem Zwischenvorhang die Namen zu verdrängen suchen, triumphieren nur in der Ideologie der Peiniger: Die Menschen im Lager lassen sich nicht enthumanisieren – auch wenn Weber mit den „Kapos“ in gestreifter Kluft mit Schlagstock ein Stück Realität zeigt. Mit bewegendem Spiel machen die Sängerinnen des Frankfurter Ensembles deutlich, wie Menschlichkeit im Verborgenen weiterlebt: Anna Ryberg, Maria Pantiukhova, Jenny Carlstedt, Judita Nagyova, Nora Friedrichs, Barbara Zechmeister und die beeindruckende Bronka von Joanna Krasuska-Motulewicz stehen für intensive Momente – und die hohe Ensemblekultur der Frankfurter Bühne.

Peter Marsh als Tadeusz in Weinbergs "Die Passagierin" an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Brian Mulligan als Tadeusz in Weinbergs „Die Passagierin“ an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Tanja Ariane Baumgartner fügt mit der Lisa ihren stets reflektierten Rollenporträts ein weiteres, höchst gelungenes hinzu: Der Wechsel vom putzigen Fräulein zum camouflierten, schließlich hohnvoll ausbrechenden Sadismus der Aufseherin gelingt ihr szenisch wie stimmlich. Sara Jakubiak konkretisiert die „Passagierin“ Marta von einer fast schemenhaften Erscheinung zu einer starken, mutigen Frau im Lager; ihr poetisches Erinnerungslied am Ende der Oper singt sie mit feinen lyrischen Lasuren als einen sanften Appell, nicht zu vergessen.

Die Männer im Ensemble halten mit: Peter Marsh setzt seinen unverwechselbaren Charaktertenor für den konsternierten, um seine Karriere besorgten Diplomaten ein; Brian Mulligan verinnerlicht den Geiger Tadeusz, der als letztes Fanal des inneren Widerstands statt des geforderten Walzers vor dem Lagerchef die Chaconne Johann Sebastian Bachs spielt.

Der Frankfurter Chor war selten so glaubwürdig wie in dieser Produktion. Unter Leo Hussain brilliert das Orchester in den vielen kammermusikalischen Momenten ebenso wie in den schneidend harten Schlägen der Perkussionsgruppe oder in den verzerrten, in Mahler- und Schostakowitsch-Tradition stehenden parodistischen Zitaten aus der Unterhaltungsmusik. Um noch einmal Adorno zu zitiere: Hier hat das „perennierende Leiden“ sein Recht auf Ausdruck gefunden.

Weitere Aufführungen: 14., 20., 22., 28. März; www.oper-frankfurt.de

 




Dem Himmel ganz nah: Martin Heckmanns` „Es wird einmal“ in Bochum uraufgeführt

Foto: Thomas Aurin

Foto: Thomas Aurin

Wer sich schon einmal an einem Theater beworben hat, fühlt sich sofort erinnert: Kurze Begrüßung durch eine hektische Assistentin, dann stundenlanges Warten in der Kantine. Danach eine Referentin knapp vor dem Burn-Out, die einem das gleiche Schicksal in Aussicht stellt, falls „Er“ sich für einen entscheiden sollte.

Dann wieder Kantine, drei Cola, erster Weißwein, weiter warten, Schauspieler in Maske kommen rein, Vorstellung fängt gleich an. Chefdramaturgin: „Er“ sei manchmal sehr schwierig, ob man da gute Nerven habe? „Er“ wolle einen vielleicht später noch kennenlernen, ob man nochmal kurz in der Kantine? Zweiter Weißwein, dritter Weißwein, Anruf: Heute werde es leider nichts mehr mit „Ihm“, vielleicht morgen…Schauspieler kommen rein, Vorstellung ist aus, Absacker, Vorhang.

Nein, die Szene stammt nicht aus Martin Heckmanns neuem Stück „Es wird einmal“, das jetzt am Bochumer Schauspielhaus uraufgeführt wurde. Sie ist selbst erlebt, doch das Anfangsszenario auf der Bühne ist ähnlich und die Satire geht in die gleiche Richtung: Zwei Schauspieler haben eine Einladung zum Vorsprechen bei „Obermann“ bekommen und begegnen sich auf einer leeren Probebühne. Sie treffen die namenlose Hospitantin (Kristina Peters), sie werden kujoniert von einer übermotivierten Assistentin (Minna Wündrich), sie treten in Konkurrenz mit einer Schauspiel-Kollegin (Therese Dörr) und verlieben sich in sie, sie zeigen viel Seele und geben alles: Doch „Obermann“ treffen sie nie.

Das ist fein und böse beobachtet, sprachlich brillant und doch erschöpft sich Heckmanns Text in der Inszenierung des Bochumer Intendanten Anselm Weber keineswegs in einer Satire über den Theaterbetrieb. Denn „Es wird einmal“ ist zugleich eine moderne Fassung des „Jedermann“. Die Bewerbung um eine unbekannte Rolle in einem unbekannten Stück ist zugleich eine Allegorie auf das Leben. Der Text muss erst noch geschrieben werden, die Konsequenzen des Handelns sind nicht immer klar.

Gott, falls es ihn gibt, lässt sich nicht blicken, nur manchmal hat man das Gefühl, er schaue von oben zu – wie Obermann. „Zufall ist das Pseudonym Gottes, wenn er nicht unterschreiben will“, heißt das in der Sprache Heckmanns und die namenlose Hospitantin schlüpft mit umgeschnallten Engelsflügelchen in die Rolle des Zufalls. Ansonsten sind sie und die intendantenhörige Assistentin Dora als balletttanzende Skelette zu sehen, ein Memento Mori für den älteren Schauspieler Hermann Schwinder (Günter Alt) und den Jüngeren Martin Neumann (Matthias Kelle), der sich mit der Rolle des Jedermann noch nicht anfreunden kann.

Foto: Thomas Aurin

Foto: Thomas Aurin

Denn eigentlich schimpft Neumann/Jedermann sich Performancekünstler und als solcher möchte er dem Theater wieder gesellschaftliche Bedeutung verleihen: „Wir thematisieren den Raum und die Institutionen, die Abhängigkeitsverhältnisse, in denen wir uns bewegen, auch wenn wir uns jetzt hier bewerben, um Anerkennung von Unbekannten.“ Statt dessen wird er als nackter Mann über die Bühne gejagt (was Matthias Kelle so großartig verletzlich absolviert, dass man fast Mitleid mit ihm hat) und bekommt am Schluss eine Plastiktüte von Sinn&Leffers als Unterhose verpasst.

„Das Problem mit nackten Männerkörpern auf der Bühne ist allerdings, dass sich die Aufmerksamkeit des Betrachters meist auf einen Punkt fokussiert“, dichtet Heckmanns und der Punkt geht an ihn, denn der Satz hat nichts Banales, entlarvt er doch die Blickrichtung der Zuschauer in den letzten zehn Minuten. Ein Beweis dafür, dass „Es wird einmal“ klug und vielschichtig gebaut ist und mit Leichtigkeit zwischen den letzten und den oberflächlichsten Dingen oszilliert.

Es entsteht tatsächlich ein „kleines Bochumer Welttheater“, das die Figuren mit existenziellen Fragen von Leben und Tod konfrontiert. Es entlarvt die theaterbetriebseigene Hybris, die Bühne für das Leben zu nehmen und bekräftigt sie zugleich. Denn was sind wir sonst, als Spieler auf einer Lebensbühne? Die nicht wissen, wann und wie sie abtreten müssen? Die nicht wissen, ob ihnen die große Liebe bevorsteht oder die große Verletzung? Die nicht merken, ob Ihnen jemand zusieht oder ob das eigene Schicksal Leuten wie „Obermann“ nicht völlig gleichgültig ist. „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“ – das gewichtige Luther-Zitat fungiert als Motto, aber drückt das Dramolett nicht nieder; es verleiht ihm eine Tiefendimension und lässt Raum für Ironie. Denn auf dem Theater sollte man das Leben leicht nehmen, sonst kann man nicht mitspielen.

Foto: Thomas Aurin

Foto: Thomas Aurin

Unbedingt lobenswert daher die Schauspieler: Günter Alt gibt den älteren Mimen koboldhaft und traurig zugleich. Er hat viel gesehen, viel ertragen und er braucht verdammt nochmal diesen Job. Bei Obermann spielte er auch den dritten Engel von links oder Helmut Kohl, egal. Er muckt nicht mal auf, als am Ende offen bleibt, ob er jetzt stirbt oder engagiert wird – aber vielleicht kommt das ja auch auf dasselbe raus. Minna Wündrich spielt die Assistentin Dora so zickenhaft-intellektuell-überheblich, dass es eine wahre Freude ist und ihre Neigung zum Sadismus gegenüber der namenlosen Hospitantin, die in einer Ohrfeige mündet, wurde auch schon öfter am Stadttheater beobachtet. Kristina Peters wiederrum verleiht diesem bedauernswerten Geschöpf eine charmante Note und viel Spielwitz. Naiv und poetisch legt Therese Dörr die Sophie Sikora an, eine Darstellerin aus der Fußgängerzone, die natürlich auch zaubern kann. Der verkopfte Neumann, gespielt von Matthias Kelle, zeigt zum Schluss Herz und ansonsten nackte Haut (s.o.). Und der Regisseur? Schwierig, jetzt so einen „Obermann“ zu loben, nur soviel: Er vertraut auf dezente Weise dem Text und stülpt ihm nicht allzu viel über, was der Sache gut tut.

Zuletzt eine Frage an den Ausstatter Hermann Feuchter: Das Bühnenbild ist dem „Meeting“–Room des Land-Art Künstlers-James Turrell nachempfunden, zu sehen im MoMA PS1 in Brooklyn, NYC. An den Wänden des leeren Raums verläuft eine durchgehende Sitzbank, durch ein rechteckiges Loch in der Decke kann man den freien Himmel sehen. Fast eine halbe Stunde saß ich letzten Sommer dort und ruhte meine Füße aus, es war sehr friedlich. In Bochum ist dieses Loch allerdings rund und der Himmel eine Projektion. Also doch alles nur Illusion im Theater? Warum nicht gleich die Decke der Kammerspiele durchstoßen und dem Himmel ein wenig näher kommen? Doch was sollen die doofen Fragen, meint Heckmanns: „Kann das Theater nicht einmal aufhören Fragen zu stellen und stattdessen eine Antwort geben?“

Infos und Karten:
www.schauspielhausbochum.de




Hose runter, Dax rauf: Der Geist protestantischer Erotik im Bochumer Schauspiel

Ach, was war das früher für eine wunderschöne Zeit: Statt mit Pornos im Internet ließen sich vor 100 Jahren die Männer noch durch eine leicht verrutschte Damenunterhose entflammen. Und zwar eine, die mit einem züchtigen Schleifchen und einer Rüsche am Fußknöchel endet und unter einem bodenlangen Rock getragen wird. Zumindest behauptet das Carl Sternheim in seinem Einakter „Die Hose“, der jetzt gemeinsam mit „Der Snob“ und „2013“ als „Trilogie aus dem bürgerlichen Heldenleben“ Premiere am Bochumer Schauspielhaus feierte.

Aus dem bürgerlichen Heldenleben. Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

Aus dem bürgerlichen Heldenleben. Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

Doch kann man diesen Text auch heute noch so erzählen?, fragte sich der Dramatiker Reto Finger und bearbeitete ihn lieber neu: Das wird vor allem im dritten Teil deutlich, der ursprünglich „1913“ hieß und nun in einem Dax-Konzern spielt, der „too big to fail“ werden will. Dazu muss der Patriarch ausgebootet werden, der die Firma erst groß machte, und das geschieht in König-Lear-hafter Manier, indem seine drei Töchter ihm das Aktienpaket abnehmen. Wer jetzt den Zusammenhang zwischen der rutschenden Hose und spätkapitalistischen Börsenspekulationen nicht begreift, sollte unbedingt weiterlesen. Denn der Geist des Kapitalismus liegt nicht in der protestantischen Ethik, sondern vielmehr in der protestantischen Erotik begründet. Ach, ja: Die Hauptrolle spielt Dietmar Bär, dem Fernsehpublikum bekannt aus dem Kölner Tatort.

Die Rolle des spießigen Beamten Theobald Maske verkörpert Bär mit Spielwitz und Ironie. Überhaupt ist die ganze Geschichte um die heruntergerutschte Hose seiner Frau Luise (Xenia Snagowski) einfach nur komisch: In einem altmodischen Sinne, der einen gewissen Retro-Charme entfaltet und Sommerleichtigkeit atmet. Denn Theobald vergisst seinen Ärger über seine liederliche Gattin schnell, als sie ihm durch ihr Missgeschick zwei verliebte Mieter ins Haus lockt, die seine finanzielle Lage gehörig aufbessern. Derweilen vergnügt er sich mit der Nachbarin (Katharina Linder) und offenbart, dass Moral ihm nur etwas gilt, wenn sie sich bezahlt macht. Auf jeden Fall kann er sich jetzt ein Kind leisten.

Nach demselben Prinzip verfährt sein Sohn in dem zweiten Stück „Der Snob“: Die Bühne wandelt sich von Etagenwohnung mit Perserteppich in ein mondänes Büro eines Firmenchefs und ehrgeizigen Aufsteigers (Felix Rech), dessen oberstes Ziel es ist, in bessere Kreise einzuheiraten. Dafür verleugnet er seine Familie und bietet dem Vater Geld, dass er aus seinem Leben verschwinde. Theobald nimmt’s nicht krumm, hat er diese merkantile Denkungsart seinem Sohn ja vorgelebt. Ihre persönlichen Entscheidungen folgen so einem ökonomischen Kalkül als Grundprinzip einer Gesellschaft, in der Klassenschranken fallen, weil nun der Mammon regiert.

Doch auch Christian als alter Mann und Aktien-Tycoon wird die Geister, die er rief, nicht mehr los und geht in „2013“ seinen machtgierigen Töchtern in die Falle, die sich wie die Heuschrecken von heute gebärden und auch noch stolz darauf sind. Barfuß geistert Bär alias Theobald als Wiedergänger des längst verstorbenen Vaters durch die Szene, die auf der Aktionärsversammlung des Maske-Konzerns spielt. Seine Mahnungen sind selbstverständlich in den Wind gesprochen, denn sein Sohn erntet nur, was er selbst gesät.

Einen seltsamen Zwitter zwischen Boulevard und kapitalismuskritischer Analyse hat Bochums Intendant Anselm Weber da inszeniert: Das Ergebnis ist allerdings witzig und zeigt starken Tobak von anno dunnemals in einer Ästhetik von heute. Leicht und böse zugleich – und kein bisschen langweilig.

http://www.schauspielhausbochum.de/spielplan/aus-dem-buergerlichen-heldenleben/162/




Traumhaus, später: Lutz Hübners „Richtfest“ am Schauspielhaus Bochum uraufgeführt

Szene mit Henrik Schubert (Mick), Roland Riebeling (Frank) (Bild: Thomas Aurin, Schauspielhaus Bochum)

Szene mit Henrik Schubert (Mick), Roland Riebeling (Frank) (Bild: Thomas Aurin, Schauspielhaus Bochum)

Wohnst du noch oder lebst du schon zusammen? Die Baugemeinschaft als soziales Experiment eignet sich perfekt als Stoff für die Bühne.

Von sozialbewegt über großbürgerlich bis yuppiehaft reichen die unterschiedlichen Lebensstile der sechs Parteien, die sich unter dem Dach ihres neuen Traumhauses harmonisch vereinen wollen. Das Desaster ist selbstredend programmiert, denn zum „Richtfest“, so der Titel des neuesten Stückes von Lutz Hübner, kommt es nicht. Vorher haben sich die Mitglieder der Eigentümergemeinschaft unter der Regie von Anselm Weber am Schauspielhaus Bochum längst heillos zerstritten.

Dabei hätte alles so schön sein können: Der aufstrebende Architekt Philipp (Felix Rech) hat sein Traumhaus geplant, das Professorenpaar (Anke Zillich und Bernd Rademacher) strebt nach kultivierter Gemeinschaft mit Gleichgesinnten wie den sympathischen homosexuellen Musikern Frank (Roland Riebeling) und Mick (Henrik Schubert). Schon nicht so ganz ins Bild passen Birgit (Katharina Linder) und Holger (Michael Schütz), sie Leiterin einer Jugendhilfe, er spießiger Finanzbeamter, dem es zu Hause zu langweilig ist und der jetzt eine Spur zu aufdringlich Anschluss an neue Kreise sucht. Gestraft sind beide mit einer pubertierenden Tochter (Zenzi Huber), die sich gleich beim ersten Treffen an den Architekten ranschmeißt und mit schlechtem Geschmack: Statt großzügige Glasfassaden zu goutieren, wollen sie sich vor den Blicken der Welt lieber hinter Klinkern einkuscheln.

Den ersten handfesten Streit aber lösen die Kleinkindmutter Mila (Kristina-Maria Peters) und der junge Assistenzarzt Christian (Marco Massafra) aus. Ihre Finanzierung mit höchst geringer Eigenbeteiligung von 12 % steht ohnehin auf wackligen Beinen, da stellt das Paar fest, dass wieder Nachwuchs unterwegs ist. Und haut die übrigen Mitbewohner um Geld an. So lodern in der Baugemeinschaft die gesellschaftlichen Konflikte wie unter einem Brennglas auf: Familien mit Kindern werfen arrivierten Gutverdienern Egoismus vor, freiheitsliebende Kreative wollen sich ihren ästhetisch perfekten Lebenstraum nicht durch Hüpfburgen im Hinterhof verschandeln lassen. Die lebenslustige Rentnerin will nicht als günstige Betreuungsomi missbraucht werden. Sie hat ein ganz anderes Problem: Charlotte (Henriette Thimig) ist Messie und keiner soll es merken, doch das schwule Pärchen ist ihr schon längst auf den Trichter gekommen. Die Lage spitzt sich zu, als die alte Dame einen Schlaganfall erleidet und die Gemeinschaft mit einem Pflegefall konfrontiert ist. Jetzt erweist sich, dass ein Zusammenleben, das über die bloße Zweckgemeinschaft hinausgeht, bedeutend mehr Solidarität erfordert als anfangs vermutet. Will ich wirklich für alte Menschen oder die Kinder anderer Leute die Verantwortung übernehmen?

Kommt die Anfangsszene noch etwas hölzern über die Rampe, gewinnt die Aufführung mit zunehmender Konfliktschärfe deutlich an Tempo. Hinter den Rollen treten Charaktere hervor. Am überzeugendsten agiert Henriette Thimig als ehemalige Kneipenwirtin Charlotte, die sich von der netten Omi von nebenan erst in einen abgründigen Messie und dann in eine hilflosen Pflegfall verwandelt.

Doch warum ist diese Uraufführung so betont karg ausgestattet? Sicher, das Traumhaus ist vorläufig nur eine Vision, realisiert wird es nie. Hübners Stück ist als satirische Milieustudie konzipiert, aber die leere Bühne und einige auf eine weißgraue Plane gekritzelte Grundrisse bieten dem Zuschauer wenig Anknüpfungspunkte.

Etwas abstrus gerät auch die Schlussszene: Vom Text behauptet wird eine Gartenparty auf der Terrasse. Dass sich alle im letzten großen Streit mit dem Gartenschlauch nassspritzen, mag noch angehen. Auch, dass sie die Bauplanen herunterreißen und sich vor einsetzendem Regen schützen. Doch warum fängt es zu allem Überfluss an zu schneien? Dann pustet auch noch die Nebelmaschine Rauchschwaden auf die Bühne. Das ist wohl philosophisch gemeint: Ohne Haus ist der Mensch eben allen Elementen hilflos ausgesetzt. Und da er sich mit seinem Nachbarn nicht vertragen will, kann er sich auch kein neues Haus mehr bauen. Er ist allein und wird es lange bleiben…

Infos: http://www.schauspielhausbochum.de/de_DE/calendar/detail/10789227