Manchmal dieser Hang zu Legenden – Streiflichter zur Hagener Stadtgeschichte im Osthaus-Museum

Popstars aus Hagen: die Gruppe „Grobschnitt“ im Jahr 1978. (© Fotografie: Ennow Strelow)

Wie bitte? Die Stadt Hagen ist erst jetzt 275 Jahre alt geworden? Stimmt. Ganz hochoffiziell: Am 3. September 1746 erhielt der westfälische Ort durch einen Verwaltungsakt im Namen des Preußenkönigs Friedrich II. die Stadtrechte. Zum Vergleich: Hagens Nachbarstadt Dortmund hat bereits 1982 das 1100-jährige Bestehen gefeiert.

Das Fehlen einer mittelalterlichen Geschichte hat die Hagener oftmals gewurmt. Darum haben sie manchmal eigene Legenden gestrickt. Auch davon zeugt nun die Jubiläumsausstellung im Osthaus-Museum; ein Gemeinschaftswerk mit dem Stadtmuseum, das künftig einen umgerüsteten Altbau gleich neben dem Osthaus-Museum und dem Emil-Schumacher-Museum beziehen wird – zusammen ergibt das ein kulturelles Quartier von überregionaler Bedeutung.

Doch zurück zur historischen Perspektive. Die im Osthaus-Museum gezeigten Bestände stammen hauptsächlich aus dem Stadtmuseum. Es beginnt mit einer Ahnengalerie, prall gefüllt mit Porträts prägender Persönlichkeiten der Stadtgeschichte – allen voran der frühindustrielle Unternehmer Friedrich Wilhelm Harkort (*1793 nah beim späteren Hagener Ortsteil Haspe), einer der Vorväter des Ruhrgebiets. Auf kulturellem Felde ebenso bedeutsam: der Kunstmäzen und Sammler Karl Ernst Osthaus (*1874 in Hagen). 1902 begründete er hier das Museum Folkwang, weltweit das erste Museum für zeitgenössische Kunst.

Ergänzt wird die Fülle der Honoratioren durch Fotografien „ganz normaler“ Hagener Bürger von heute. Der Blick richtet sich also nicht nur rückwärts. Überhaupt vergisst das Ausstellungsteam die Gegenwart nicht. Die Übersicht reicht bis hin zu Bildern und Berichten vom Hagener Hochwasser Mitte Juli.

Aus dem Fundus des Stadtmuseums ins Osthaus-Museum: die Schreibmaschine des Hagener Dichters Ernst Meister (1911-1979). (Foto: Bernd Berke)

Ein großer Ausstellungssaal, scherzhaft „Hagener Wohnzimmer“ genannt, versammelt Stücke aus der Stadthistorie, darunter die Schreibmaschine, auf der der Hagener Dichter Ernst Meister einen Großteil seines weithin hochgeschätzten Werks verfasst hat. Als Pendant aus der bildenden Kunst findet sich eine von Farbspritzern übersäte Original-Staffelei des gleichfalls ruhmreichen Hagener Malers Emil Schumacher. Zu Ernst Meister gibt es weitere Exponate. Der Lyriker war auch ein begabter Künstler. Zu sehen sind rund 60 seiner Bilder, die das Osthaus-Museum jüngst als Schenkung erhalten hat. Außerdem hat sich der Hagener Maler Horst Becking mit 13 Gedichten Ernst Meisters auseinandergesetzt. Hier greift eins ins andere.

Original-Staffelei des Hagener Malers Emil Schumacher (1912-1999). (Foto: Bernd Berke)

Im „Wohnzimmer“ wecken auch Objekte wie z. B. ein alter Kinderwagen, ein Stadtplan von 1930, Relikte aus Hagener Firmengeschichten (Varta, Brandt, Villosa, Sinn) oder eine Ansammlung örtlicher Kulturplakate die Aufmerksamkeit. Sollte bei dieser Auswahl etwa auch ein Zufallsprinzip gewaltet haben?

Gar erschröcklich wirkt jene bizarr erstarrte, vollkommen verkohlte „Schwarze Hand“ aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, die erstmals das Schloss im 1975 zu Hagen eingemeindeten Hohenlimburg verlassen hat. Eine Legende besagt, dass die Hand einem Knaben gehörte, der sie gewaltsam gegen seine Mutter erhoben hatte. Sie sei daraufhin scharfrichterlich abgeschlagen und zur ewigen Mahnung verwahrt worden. Tatsächlich handelt es sich um das durch Blitzschlag versengte Beweisstück in einem Mordfall.

Hagener haben eben einen Hang zu Legenden, vor allem, wenn sich damit heimische Traditionslinien verlängern lassen. So hat man sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein neues Stadtwappen erkoren – mit stilisiertem Eichenlaub statt der damals verpönten französischen Lilie. 1897 verfügte Kaiser Wilhelm II. den Wechsel. Die Hagener glaubten Belege für die örtliche Verwendung des Eichenblatts im 14. Jahrhundert gefunden zu haben, aber das war ein Trugschluss. Das Dokument bezog sich auf eine andere Gemeinde namens Hagen. Und noch so eine Inszenierung, nicht irrtümlich, sondern vollends willkürlich: Ein Hagener Maler, der den NS-Machthabern zu Diensten war, produzierte reihenweise romantisierende Stadtansichten, die es in Wahrheit so nie gegeben hat.

In solche Ausstellungen werden gern die Bürger einbezogen, so auch diesmal. Nach entsprechenden Aufrufen reichten sie etliche Objekte mit Hagener „Stallgeruch“ ein – von lokal gestalteten Schneekugeln bis zum Brettspiel mit Ortsbezug. Da schlägt das lokalptriotische Herz höher.

Humorig-historische Postkarte: „In Hagen angekommen“. (© Stadtarchiv Hagen)

Da war doch noch was mit Hagen? Richtig, wir erinnern uns an die oft und gern zitierte Schlagzeile „Komm nach Hagen, werde Popstar“, die am 3. Januar 1982 im „Spiegel“ erschienen ist. Die Überschrift entstand im Zuge der Neuen Deutschen Welle, die in Hagen sozusagen ihren Scheitelpunkt hatte. Nicht nur wurden Nena und die Sängerin Inga Humpe hier geboren, in Hagen gründeten sich auch einflussreiche Bands wie „Extrabreit“ (1978) und zuvor „Grobschnitt“ (1971). Letztere besteht – in wechselnden Formationen – nunmehr seit 50 Jahren. Deshalb ist ihrer Story im Untergeschoss eine üppige Extra-Abteilung gewidmet. Mit Dokumenten, Fotos und Objekten (darunter ein kompletter Bühnenaufbau) geht es so sehr ins Detail, dass wohl selbst Spezialisten noch Neues erfahren.

Etwas für eingefleischte Hagener sind auch die Schwarzweiß-Fotografien von Ennow Strelow, der in den 70er und 80er Jahren einige kernige Typen der Hagener Szene porträtiert hat. Ältere Bewohner kennen vielleicht noch den einen oder die andere, Auswärtige werden zumindest die fotografische Qualität zu schätzen wissen. Doch je mehr biographische Verbindungen jemand zu Hagen hat, umso mehr Genuss verspricht diese Schau.

„Hagen – Die Stadt. Geschichte – Kultur – Musik“. Noch bis zum 21. November 2021. Hagen, Osthaus-Museum, Museumsplatz. www.osthausmuseum.de

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Der Text ist zuerst im „Westfalenspiegel“ erschienen:

www.westfalenspiegel.de

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Weiterer Beitrag zur Ausstellung, mit einem Schwerpunkt auf Rockmusik:

Nena, Grobschnitt, Extrabeit – Ausstellung zum 275. Stadtjubiläum erinnert an Hagens Rock-Vergangenheit




Nena, Grobschnitt, Extrabeit – Ausstellung zum 275. Stadtjubiläum erinnert an Hagens Rock-Vergangenheit

Im heimatkundlichen Angebot der Hagener Jubiläumsausstellung sind selbstverständlich auch alte Postkarten. (Bild: Stadtarchiv Hagen/Osthausmuseum)

Die schwarze Reiseschreibmaschine Ernst Meisters steht hier, die farbbedeckte Staffelei Emil Schumachers. Einen alten Kinderwagen hat man auf das Podest gehoben, biedermeierliche Möbel fördern nostalgische Empfindungen. Und an den Wänden setzt eine auf Eindruck bedachte Malerei vergangener Jahrhunderte wichtige Männer in Szene.

Hagen im Heimatmuseum ist eigentlich nichts Besonderes – sieht man einmal davon ab, dass das Heimatmuseum seine Bestände nun im Osthaus-Museum aufgebaut hat. Anlass ist das 275-jährige Stadtjubiläum, das hier mit einem eindrucksvollen Ausstellungsprojekt gefeiert wird, Titel: „Hagen – die Stadt“.

Karl-Ernst Osthaus ist noch sehr präsent

Ein weiterer zentraler Raum ist voll von Portraitfotos, großen und kleinen, alten und neuen. Er soll dem Publikum wohl vermitteln, dass die Menschen die Stadt ausmachen, keine ganz neue Erkenntnis. Doch was fällt einem zu Hagen außerdem noch ein? Was ist das Besondere? Da wäre natürlich Karl-Ernst Osthaus zu nennen, Industrieller, Sammler und Förderer der modernen Kunst im frühen 20. Jahrhundert, dem das Museum seinen Namen verdankt. Die Architektur des Gebäudes, die bauliche Leichtigkeit und Jugendstil so entspannt verbindet, atmet immer noch den Geist dieses Mäzens. Und auch die heutigen Bestände, die leider nicht identisch sind mit der nach Essen verkauften Sammlung, lassen an die vergleichsweise glücklichen Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise denken.

Auch das ist Hagen: Rockband Grobschnitt im Jahr 1978. (Bild: Ennow Strelow/Osthausmuseum)

Hotspot

Mehr als ein halbes Jahrhundert danach sind die ortstypischen Sensationen von ganz anderer Art. Anfang der 1970er Jahre wird Hagen zu einem Hotspot der deutschen Rockmusik. Die Gruppe „Grobschnitt“ erregt bundesweite Aufmerksamkeit, „Extrabreit“ formieren sich, ebenso Nena Kerners erste Kapelle mit dem Namen „Stripes“. „Mein Mann hat den Bass gespielt“, erinnert sich Heike Wahnbaeck bei der Präsentation der üppigen Grobschnitt-Abteilung im Souterrain des Museums. Sie hat diesen Teil der Jubiläumsausstellung erarbeitet, mit zahlreichen Fotos, Plakaten, Zeitungsausschnitten, Videos und Tourneeplänen.

Eine komplette Bühne ist aufgebaut, Besucher bestaunen die antike Technik, die teilweise doch recht zeitlos wirkt. Wichtig ist Frau Wahnbaeck, dass es nicht nur um einige bekannte Bands, bekannte Musiker ging. Hagen, erinnert sie sich, war damals auch ein Zentrum für Studio- und Bühnentechnik, kaum irgendwo sonst waren die Roadies so professionell wie hier. Viele Fotos zeigen sie traut vereint, die Musiker und die Männer, die schleppten, schraubten und pusselten, damit die Gigs wie geplant über die Bühnen gehen konnten. Rund 50 Jahre sind seit den Anfängen vergangen, und das Jahr der Abschiedstournee, 1989, liegt auch schon über 30 Jahre zurück.

Hagen-Rock, Teil II: Kai Schlasse, Sänger von Extrabreit, im Jahr 1984. (Bild: Ennow Strelow/Osthausmuseum)

Ennow Strelows Fotos

Was aus der Szene wurde? Viele Leute leben nicht mehr, viele Lebenswege verlieren sich. Doch manche Biographien wurden fortgeschrieben. Wir wechseln in die nächste Abteilung der Ausstellung, die einen Großteil des Museums füllt. Der Fotograf Ennow Strelow, der „Extrabreit“ und andere Bands getreulich begleitete, hat auch viele andere Menschen portraitiert, Hagener und Personen mit markantem Hagen-Bezug. Zu den Portraitfotos hat er Kurzbiographien geschrieben. Bei ihm nun taucht Eddy Kante auf, der, als er noch viele Haare auf dem Kopf hatte, zum Umfeld der Hagener Bands gehörte. Später, ohne Haare, wurde er Bodyguard von Udo Lindenberg. Die beiden sollen lange Jahre gut befreundet gewesen sein, bis Eddy Kante eine Lindenberg-Biogaphie schrieb, die diesem nicht gefiel. Aus war es mit der Freundschaft.

An der gesellschaftlichen Peripherie

Ennow Strelows fotografischer Beitrag zum Stadtjubiläum, besticht alleine schon durch den Fleiß, der hier erkennbar wird. Ja, er hatte auch Prominenz vor der Linse, Peter Schütze vom Hagener Theater etwa oder Jürgen von Manger, ebenfalls ein Sohn der Stadt Hagen. Doch viel Sympathie brachte er auch Menschen in der gesellschaftlichen Peripherie entgegen, dem Flaschensammler Paul zum Beispiel, Flaschen-Paul genannt, oder dem Schrauber Charly Haschke, der auch auf größere Entfernung noch stark nach Werkstatt roch.

Hagens bekanntester Dichter Ernst Meister griff gerne auch zum Pinsel. Dieses Aquarell „ohne Titel“ aus dem Jahr 1956, 32 x 24 cm groß, ist jüngst in das Eigentum des Osthaus-Museums übergegangen (Bild: Reinhard Meister/Osthausmuseum)

Meisters Bilder

Schließlich gibt es noch ein bisschen Kunst zu sehen, Kunst sozusagen in der kleinen Form, aber dafür um so beeindruk-kender. Das Museum hat als Schenkung ca. 50 Bilder erhalten, die der Hagener Dichter Ernst Meister schuf. Er hat, was weniger bekannt ist, gerne auch gemalt. Erste Arbeiten ab ca. 1954 erinnern, in den Worten von Museumsdirektor Tayfun Belgin, hier und da an Kandinsky oder das Bauhaus, doch spätestens in den frühen 70er Jahren fand er zu einer eigenen Bildsprache, abstrakt und expressiv, stark reduziert in den Gestaltungsmitteln. 13 weitere Bilder schließlich stammen vom Hagener Maler Horst Becking. Er hat sie zu Gedichten von Ernst Meister geschaffen, farbenfrohe Stücke, vereinzelt gegenständlich wahrzunehmen, auch eine Übermalung ist dabei. Bilder und Texte finden sich in einem kleinen Büchlein wieder, das das Museum herausgibt.

Man hätte gerne mehr gewusst

Viel Originelles ist hier also versammelt, was zwingend gar nicht den Anlass „Stadtjubiläum“ gebraucht hätte. Bei angemessener Gewichtung der stadthistorischen Anteile hätte man dem berühmten Maler Emil Schumacher natürlich mehr Raum geben müssen, doch nun gut, der hat sein eigenes Museum gleich gegenüber. Trotzdem wäre gerade bei ihm doch zu fragen, was ihn zeitlebens in Hagen hielt. Auch Nena hätten wir gern prominenter platziert gesehen, ohne deshalb die Hagener Rock-Szene vernachlässigen zu wollen. Jürgen von Manger ist wenigstens ein Video-Räumchen vorbehalten, wo seine alten Fernsehauftritte laufen.

  • „Hagen – die Stadt. Geschichte, Kultur, Musik“
  • bis 21.11.2021
  • Osthaus Museum Hagen, Museumsplatz 1, Hagen
  • Di-So 12.00 – 18.00 Uhr, Eintritt frei, Maskenpflicht
  • www.osthausmuseum.de

 




Künstlersohn, Museumsdirektor und Stifter: Ulrich Schumacher gestorben

Liebenswerte Erinnerung: Künstlersohn Ulrich Schumacher mit einem KInderbildnis seiner selbst, das der Vater 1942 angefertigt hat. - Emil Schumacher: "Ulrich am Tisch" (Kohlezeichnung). (Foto: Bernd Berke)

Im März 2017 mit einer liebenswerten Erinnerung an seinen Vater Emil: Künstlersohn Ulrich Schumacher mit einem Kinderbildnis seiner selbst, das der Vater 1942 angefertigt hat. – Emil Schumacher: „Ulrich am Tisch“ (Kohlezeichnung). (Foto: Bernd Berke)

Traurige Nachricht aus Hagen: Der Museumsdirektor und Museumsstifter Ulrich Schumacher ist mit 79 Jahren nach langer schwerer Krankheit gestorben. Ohne ihn hätte es das Hagener Emil-Schumacher-Museum (ESMH) nicht gegeben, das seit 2009 zusammen mit dem Osthaus-Museum das Hagener Museumszentrum („Kunstquartier“) bildet.

Am 3. September 1941 als Sohn des berühmten Malers Emil Schumacher († 1999) und dessen Frau Ursula (geb. Klapproth) in Hagen geboren, studierte Ulrich Schumacher Kunstgeschichte u. a. bei Max Imdahl an der Ruhr-Uni Bochum. 1972 schloss er das Studium mit der Promotion ab. In der Folgezeit sichtete und katalogisierte er die bedeutsame Schenkung des Sammlerpaares Sprengel an die Stadt Hannover.

1976 kam er ans Museum in Bottrop und wurde dort 1983 Gründungsdirektor des damals neuen Josef Albers Museums, das er über Jahrzehnte leitete und weithin bekannt machte. Als Stifter und Museumsgründer beschenkte er seine Heimatstadt Hagen mit einer reichhaltigen Sammlung aus dem Nachlass seines Vaters. Aus diesem Fundus kann das Emil-Schumacher-Museum immer wieder neue, aufschlussreiche Ausstellungen zu Emil Schumacher und seinen Zeitgenossen bestreiten.

Ulrich Schumachers Bedeutung für die Museumslandschaft des Ruhrgebiets kann kaum überschätzt werden.




Mit Emil Schumacher durch das Jahr 2020 – „Blätter aus dem Engadin“ als Kalender in limitierter Auflage

Das Novemberblatt. Bei Emil Schumacher heißt es GG-18 / 1993. Gouache auf Aquari-Bütten, 36,5 x 49,5 cm. (Bild: Emil Schumacher Museum Hagen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2019)

Im Januar ist das nichts, jedenfalls nicht viel. Fahler Malgrund, darauf ein paar nackte Zweige. Oben eine Andeutung von kaltem Himmelblau. Noch schlimmer ist der Februar, keine Farben mehr, kalkiges Weiß, Schnee vielleicht, schwarze Konturen, kein Leben.

Pferd und Wagen

Doch im Märzen der Bauer. Könnte man jedenfalls so untertiteln, denn Emil Schumacher, der große informelle Maler, war sich nie zu schade dazu, auch mal einfach einen Pferdekarren ins Bild zu stellen und ein Pferd und einen Menschen, der es führt. Farbe ist hier zwar immer noch nicht zu sehen, doch die Agonie der ersten Monate scheint überwunden.

Und so geht das weiter. Mit dem sich ankündigenden Sommer schiebt sich Farbe in die düsterbraunen Frühlingsräume, sattes, glückliches Himmelblau dominieren die Bilder von Juni bis September. Doch während der August mit seinen runden Konturen noch ganz bei sich selbst ist, löst sich das Septemberblau zu seinen weißen Rändern hin unerfreulich auf. Man ahnt sein Dahingehen.

Behütende Erde

Unblau der Oktober. Dunkel, die Tage werden kürzer, der November. Fern von aller wunderbaren Sommerbläue schließlich der Dezember, der mit seinen gesättigten Brauntönen aber auch tröstlich ist, Rückzug in das Erdige, Bleibende, Behütende, um im nächsten Frühjahr zu neuem Leben zu erwachen, zu erblühen, zu ergrünen. Und das ohne irgendein Grün in den Bildern, anbei bemerkt.

„Blätter aus dem Engadin“ heißt wie im Vorjahr der  nunmehr 24. Emil-Schumacher-Kalender, den das Schumacher-Museum mit 800 Exemplaren für das Jahr 2020 herausgibt. Die Auswahl der Bilder traf Dr. Ulrich Schumacher, Sohn des 1999 verstorbenen Hagener Malers und fraglos der intimste lebende Kenner des gewaltigen Oeuvres. Seine Komposition des Jahreszyklus wirkt vertraut und läßt zuversichtlich hoffen, daß Vater Schumacher mit der Auswahl seines Sohnes einverstanden ist.

Eine hübsche, kleine, kongeniale Kollektion ist dieser Kalender, der durch den überaus fein gerasterten Computerdruck qualitativ auch als Mappenwerk bestehen könnte.

  • Kalender 2020 „Blätter aus dem Engadin“, 12 Monatsblätter und vollformatiges Deckblatt
  • 70 x 50 cm, Spiralbindung, 39,95 EUR
  • Erhältlich im Museumsshop des Hagener Emil Schumacher-Museums und in Hagener Buchhandlungen
  • www.esmh.de

 




Der Künstler und seine Frau – die kleinen Bilder, die Emil Schumacher „für Ulla“ malte

Emil Schumacher, Für Ulla-1/1996, 1996, Gouache auf braunem Papier, 14,6 x 16 cm. © (Bild: VG Bild-Kunst, Bonn 2019/Emil Schumacher Museum Hagen)

Man könnte sie leicht übersehen. Kaum so groß wie ein Blatt Schreibmaschinenpapier sind die Bilder, und auch in ihren Rahmen bleiben sie schmächtig. Es bedurfte eines speziellen Regals für Kleinformate, um sie im Magazin wiederauffindbar unterzubringen. Jetzt aber hängen sie ganz prominent in der Ausstellung. „Für Ulla“ heißt die Serie von Gouachen, die Emil Schumacher für seine Frau malte und die 1996 erstmalig in Jena gezeigt wurde, als der Maler dort die Ehrenbürgerwürde der Universität erhielt.

Emil Schumacher, Für Ulla-7/1996, 1996, Gouache auf braunem Papier, 15 x 22,6 cm. © (Bild: VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / Emil Schumacher Museum Hagen)

Zum 100. Geburtstag

Warum Hagens berühmter Informel-Künstler 1996 für seine Frau eine Reihe von Bildern auf Packpapier schuf, ist bis ins Letzte nicht beantwortet. Weder standen runde Geburtstage an (Ulla war 77), noch begründeten andere Anlässe ein solches Geschenk. Und Emil Schumacher, der seine Werke eher mit leichter Hand datierte und signierte, steuerte auch nichts Erklärendes bei. Aber die Bilder sind „für Ulla“. Das steht drauf. Anlass dafür, sie jetzt zu zeigen, ist der 100. Geburtstag Ulla Schumachers.

Emil Schumacher, Für Ulla-15/1996, 1996, Gouache auf braunem Papier, 14,6 x 16 cm. © Bild: VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / Emil Schumacher Museum Hagen)

Sehr persönlich

Die Motive dieser „Suite“ sind abstrakt, wie man es bei Emil Schumacher ja gewohnt ist. Doch der Begriff deutet Bezüglichkeit an, und in der Tat laden viele Bilder dieser Reihe zu assoziativer Vergegenständlichung ein. Landschaften mag man erkennen, Tiere, vor allem Pferde. Und Kreise können Räder sein, Sinnbilder der Reise wie der Wiederkehr, und alles ergibt Sinn. Zwar ginge es zu weit, hier ein strenges System der Chiffrierung erkennen zu wollen, doch sicherlich hat Ulla Schumacher diese Bilder so genau verstanden wie kaum ein anderer Mensch. Emil, unabweisbar dieser Eindruck, formulierte hier wie unter einem Brennglas das Gemeinsame, das gemeinsam Vertraute. Es ist eine Kunst der Intimität, vielleicht gar eine anhaltende Liebeserklärung. Dafür brauchte es keine Stichtagsregelung.

Emil Schumacher, Kirmes, 1948, 27 x 34,5 cm. (Bild: © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / Emil Schumacher Museum Hagen)

Biedere Familie

Und ein weiteres Mal ist man erstaunt über das biedere Leben, das dieser Künstler und seine Frau führten. Nichts ist bekannt über Ausschweifungen oder Exzesse, 60 Jahre waren sie verheiratet, und sie haben das als großes Glück empfunden, wie Rouven Lotz unterstreicht, wissenschaftlicher Leiter des Emil Schumacher Museums und Kurator dieser kleinen, hübschen Ausstellung. Und übrigens war das Jahr 1996 doch ein rundes, ein bißchen jedenfalls, weil sich die jungen Leute 60 Jahre vorher auf der Kirmes kennengelernt hatten, auf dem Kettenkarussell, in Hagen, wo sonst.

Traumberuf Telefonistin

Ulla Schumacher, als Ulla Klapprott 1919 in Hagen-Eppenhausen geboren, war gewiß nicht die andere Hälfte eines Künstler-Duos, wie beispielsweise Christos Frau Jeanne Claude. Auch eine Muse war sie nicht, eher schon Managerin ihres zur Zurückhaltung neigenden Gatten. Sie kümmerte sich um die Reisen, schuf und pflegte internationale Kontakte. „Sie war ein bißchen die Außenministerin für den Künstler“, sagt Rouven Lotz. In jungen Jahren hatte sie übrigens als Telefonistin gearbeitet, immer im Gespräch, immer online (wie man heute fast sagen könnte), ein Traumberuf für sie.

Ulla und Emil Schumacher, 1989. (Foto: Stefan Moses / Emil Schumacher Museum Hagen)

„Ach Emil, das wird schön“

Und Ulla war Emil Schumachers wichtigste Kritikerin. Der Maler legte größten Wert auf ihr Urteil, auch im Schaffensprozeß schon. Freunde der Familie berichten von einem unruhigen Künstler, der durch das Haus lief und seine Ulla suchte, damit sie im Atelier ihre Meinung kundtat. Wiederholt verbürgt ist ihr Ausruf „Ach Emil, das wird schön“, mit dem sie in aller Regel ja auch recht hatte und dem kreativen Prozeß gehörigen Schub verlieh.

Zeichnungen der frühen Jahre

Museumsleiter Lotz hat der „Für Ulla“-Suite einige Bilder aus dem Bestand beigesellt, etwas größer in aller Regel, die die enge Verbindung der Kleinformate zum damaligen aktuellen Schaffen Schumachers, frappierend mitunter, dokumentieren. Außerdem gibt es einen zweiten Raum mit frühen Werken, Zeichnungen aus den 30er und 40er Jahren, Alltagsszenen und Akte, auf denen die Dargestellte immer Ulla ist. Diese vergnügliche Reihe, die neben anderem auch deutlich macht, was für ein brillanter Zeichner Emil Schumacher war, beginnt – eben – auf der Kirmes in Hagen, 1936, am Kettenkarussell. Eine Zeichnung wie ein Holzschnitt, hartes Schwarzweiß, mit einer erotischen Figurine im linken oberen Bereich, erste Begegnung mit der Frau fürs Leben.

Emil Schumacher, Ulla, rauchend, 1947, Fettkreidezeichnung, 32,7 x 15,7 cm.(Bild: © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / Emil Schumacher Museum Hagen)

Immer wieder Ulla

Er hat sie, für ein Programmheft der Ruhrfestspiele, als „Irre von Chaillot“ gezeichnet (welche allerdings, ganz adrett und comme il faut, hinter einem Kaffeehaustischchen hockt), als Hausfrau und Mutter zu Hause, als rauchende Gesprächs- und Lebenspartnerin. Daran, daß Emil Schumacher die Seine gerne im Akt abbildete, war gewiß auch die lange Phase künstlerischer Abstinenz schuld, erläutert Lotz. In der Nazizeit hatte, wie hier und da bekannt, der Maler Emil Schumacher mit dem Malen aufgehört, weil seine Kunst nicht gelitten war. Er hatte als technischer Zeichner gearbeitet, um die Familie zu ernähren. Als ihn seine Frau nach 1945 ermunterte, doch wieder ein Künstler zu sein, mußte Emil üben. Auch Akte malen. Niemand konnte damals ahnen, daß er dereinst in Kunstrichtungen Furore machen würde, die man mit Informel oder abstraktem Expressionismus bezeichnete. Die frühen Bilder mit der abstrakten „Für Ulla“-Suite in räumlich-inhaltlichen Zusammenhang zu bringen, ist eine kluge, ja fast schon schöpferische Entscheidung.

Langes Leben

Rund 60 Jahre dauerte die Ehe der Schumachers; Emil starb 1999, 87-jährig immerhin, ohne Vorzeichen „als glücklicher Maler“ auf Ibiza. Seine Frau folgte ihm zehn Jahre später, 90-jährig. Die Baustelle des Hagener Schumacher-Museums hat sie noch besichtigt, die Eröffnung leider nicht mehr erlebt.

Nicht so viele Familiengeschichten!

Schluss jetzt! Wenn man über Schumachers schreibt, droht das immer zur Familiengeschichte zu werden, garniert mit unzähligen Anekdoten. Doch hier gilt’s der Kunst! Sie sei ausdrücklich anempfohlen, die anrührende „Für Ulla“-Sonderschau wie auch das Dauerhafte im Hagener Schumacher-Museum mit seinen stattlichen Großformaten.

  • Emil Schumacher: „Für Ulla“ – Ursula Schumacher zum 100. Geburtstag
  • 24.11.2019 bis 9.2.2020
  • Emil Schumacher Museum Hagen, Museumsplatz 1
  • Geöffnet Di-So 12-18 Uhr
  • Tel. 02331 207 31 38, www.esmh.de



In diesen Hallen wirken sie fast zierlich – Museum Küppersmühle zeigt Großformate von Emil Schumacher

„Atlanta I“ von 1987 aus der Sammlung Ströher. „Atlanta“ aus dem Bestand des Hagener Schumacher-Museums sieht fast genauso aus. (Bild: MKM, Sammlung Ströher/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018)

Jetzt hängen sie traulich nebeneinander, als ob es anders gar nicht sein könnte: „Atlanta“ und „Atlanta I“, zwei von dunkel aufglühendem Blau dominierte Hochformate aus dem Jahr 1987, je 170 x 125 Zentimeter groß. „Atlanta“ aber ist eine Leihgabe aus dem Hagener Schumacher-Museum, „Atlanta I“ Eigenbesitz des Museums Küppersmühle aus der Sammlung Ströher. Ein Diptychon mit Verfallsdatum, wenn man so will, doch liegt es noch in weiter Ferne: Am 10. März 2019 endet die Ausstellung „Emil Schumacher – Inspiration und Widerstand“ im Duisburger Museum Küppersmühle, die heute (Donnerstag, 15.11.2018) eröffnet wird.

Das verschlimmbesserte Documenta-Bild

Über Emil Schumacher, er hat ihn noch persönlich in seinem Atelier erlebt, weiß Museumsdirektor Walter Smerling Geschichten zu erzählen. Wie jene der Bilder für die Documenta III, 1964 in Kassel. Drei Großformate hatte Schumacher für die Kunstschau gemalt, jedes um die sieben Quadratmeter groß, ein blaues, ein rotes und ein weißes. Mit dem roten war er aber nicht ganz zufrieden, und als er es nach der Documenta wieder im Atelier hatte, besserte er nach. Jedenfalls versuchte er es. Es wurde jedoch, in des Künstlers eigenen Worten, ein Verschlimmbessern, irreparabel schließlich. Schumacher vernichtete das Bild, hob aber den Keilrahmen auf. 1991 schuf er auf dem alten Keilrahmen ein neues Werk, „Palmarum“, Öl und kleine Pflanzenteile, nunmehr dominiert von leuchtendem Gelb. Es hängt jetzt als Leihgabe aus Hagen in der Duisburger Küppersmühle.

Eine späte Arbeit: „Gorim II“ von 1996. (Bild: Emil Schumacher Museum, Hagen, VG Bild-Kunst, Bonn 2018/Ralf Cohen, Karlsruhe)

Dezentral gesammelt

Das blaue Documenta-Bild, die Geschichte ist noch nicht zuendeerzählt, hängt auch hier, das weiße hingegen blieb im Westfälischen Landesmuseum in Münster, da nicht transportfähig. Der Katalog jedoch bildet es ab.

Alles in allem ist die Geschichte dieses Triptychons, das nicht mehr zusammenkommen konnte, auch typisch für die an sich reiche Kunstmuseenlandschaft des Ruhrgebiets (inklusive Münster in diesem Fall), wo in besseren Zeiten recht dezentral gesammelt wurde.

Mehr als die Hälfte kommt aus Hagen

Nun also Schumacher in Duisburg, 80 Arbeiten, Gemälde überwiegend, davon 44 aus Hagen und 16 aus der Sammlung Ströher, der Rest aus weiteren Museen und aus Privatbesitz. Da könnte man sich natürlich fragen, warum so viel Aufwand betrieben wurde. Das moderne Hagener Museum vermag die Bilder ebenso gut zu präsentieren wie die Küppersmühle, ist groß und regelmäßig geöffnet, so daß eine punktuell veranstaltete Werkschau wirklich nicht zwingend nötig wäre. Doch natürlich fragen wir das nicht, sondern freuen uns, daß die Hagener Werke noch etwas Gesellschaft bekommen. Und daß die Küppersmühle Besucher anlocken wird, die nicht nach Hagen reisen würden.

Penibel strukturiert

Die Schau ist sehr penibel nach Werkgruppen und Arbeitsschwerpunkten aufgebaut, beginnt mit dem jungen Schumacher der frühen 50er Jahre, zeigt dessen Weg in die Abstraktion, den er in wenigen Jahren hinter sich brachte. Seine Bilder wurden größer, Schumacher experimentierte mit Materialien wie Stein und verklebten Stoffresten, tauschte die Leinwand gegen Holz und später gegen Zimmertüren.

Als Malgrund dient eine Zimmertür. „Petros“ von 1976, Steincollage und Acryl auf Holz (Bild: Privatsammlung Münster/VG Bild-Kunst, Bonn, 2018/Ralf Cohen, Karlsruhe)

Auf Zimmertüren gemalt

Walter Smerling erzählt, wie das kam: In den 60er Jahren hatte Emil Schumacher zunehmend auf Holzplatten gemalt. Als seine Bilder für eine Ausstellung in die USA verschifft werden sollten, waren sie deshalb viel zu schwer. Auf der Suche nach leichten, steifen Maluntergründen entdeckte Schumacher die Zimmertür, schlichtes Baumarktmodell, die ihre Unverformbarkeit einer Wabenstruktur aus Pappe im Türblattinneren verdankt. Einige dieser Türen, hoch und quer, hängen als Maluntergründe in der Ausstellung (die Petros-Bilder, mit Stein und Acryl), konservatorisch offenbar unproblematisch.

Widerstand des Materials

In späteren Jahren, als er einmal mit seiner Arbeit unzufrieden war, hat Schumacher eine solche Malgrundtür übrigens mit dem Hammer traktiert. Die Verletzungen ließen die Wabenstruktur sichtbar werden, was wiederum seinen Reiz hatte. Und selbst diese Aktion ist in gewisser Weise typisch für Schumachers Radikalität beim Umgang mit dem Stofflichen. Das Wort Widerstand im Ausstellungstitel, sei auch in diesem Sinne gemeint, sagt Walter Smerling: Widerstand gegen die Beschränkung des künstlerischen Strebens ebenso wie Widerstand des Materials gegen die Intention des Künstlers.

Auch Hagen lohnt den Besuch

Auch Schumachers größte Bilder wirken in dieser Ausstellung zierlich. Diese Räume sind für Größeres gebaut worden, wie etwa für Anselm Kiefers wandfüllende Historienbilder im Obergeschoß. Lediglich ein (kleinerer) Raum zeigt eingerahmte Papierarbeiten, Mappenwerke wie die „Genesis“ fehlen ganz. Wer so etwas sehen möchte, muß weiterhin nach Hagen reisen.

Die große Freiheit

So, das soll es mal gewesen sein. Leben und Werk Emil Schumachers von Grund auf zu erzählen, scheint mir an dieser Stelle nicht nötig zu sein, so bekannt wie der Mann bei uns ist. Man wird in Duisburg nicht unbedingt Neues entdecken; doch die Einladung, einmal mehr sich hineinzubegeben in die große Freiheit dieser Werke, die nichts weniger als Leere ist, lohnt allemal den Besuch der Ausstellung.

  • „Emil Schumacher – Inspiration und Widerstand“
  • 15.11.2018 bis 10.3.2019
  • Geöffnet Mi 14-18 Uhr, Do-So 11-18 Uhr, Feiertage 11-18 Uhr
  • MKM Museum Küppersmühle für moderne Kunst, Duisburg, Philosophenweg 55
  • Eintritt: Wechselausstellungen 6 €, Gesamtes Haus 9 €
  • www.museum-kueppersmuehle.de

 




Strukturen, Wörter, Schläuche – die informelle Bilderwelt des Malers Gerhard Hoehme im Hagener Emil Schumacher Museum

Gerhard Hoehme, Hymne an Heraklit/Hommage à Heraklit, 1959, Öl und Polyester auf Leinwand, 140 x 160 cm, MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher. ©VG Bild-Kunst, Bonn 2018

In den frühen Jahren der Bundesrepublik war er fast so etwas wie ein Star des gänzlich ungegenständlichen „Informel“. Er nahm an der documenta II teil und hatte 24 Jahre lang den Lehrstuhl für frei Malerei an der Düsseldorfer Kunstakademie inne. Doch mit der Pop Art verlor das Informel auch in Westdeutschland rasant an Bedeutung, und die letzte große Werkschau liegt zehn Jahre zurück. Mit einer uneingeschränkt sehenswert zu nennenden Ausstellung widmet sich jetzt das Hagener Emil Schumacher Museum dem Werk Gerhard Hoehmes.

Ein einziges Bild kokettiert noch mit dem Gegenständlichen. „Rote Zeichen“ von 1951 lässt hinten links einen Klavierspieler erkennen. Ohne ihn wäre das Instrument nicht zu identifizieren, wäre nur schwarze Fläche mit den titelgebenden Elementen. Gerhard Hoehme malte das Bild 1951, in dem Jahr, als er die DDR mit ihrer beengenden Kunstauffassung verlies und nach Düsseldorf zog. Seitdem zeigen seine Bilder auf unterschiedlichste Weise Strukturen, wirken Mal um Mal wie ein weiterer Entgrenzungsversuch. Wenn die Formulierung nicht in sich unsinnig wäre, befindet Museumsleiter Rouven Lotz, könne man bei Gerhard Hoehmes Werk von dem unablässigen Versuch sprechen, die Grenzen des Informel zu überwinden.

Gerhard Hoehme, Fensterbild S. Remo Str. 6 / Fenster und Baum III , 1968, Acryl auf Leinwand und Holz, 200 × 160 cm, Privatsammlung Meerbusch. © VG Bild-Kunst Bonn, 2018

In die dritte Dimension

Da das Informel aber keine Grenzen hat, hat Hoehme sich beizeiten daran gemacht, die traditionelle Präsentationsform des Tafelbildes zu überwinden. In seinen „Borkenbildern“ wird die rauhe Oberflächenstruktur durch Aufkleben von getrockneten Farbschnitzeln oder Leinwandstücken verstärkt, schiebt sich das an sich flache Bild gleichsam in die dritte Dimension. Spektakulär ist das Titelbild des Katalogs „Hommage an Heraklit“ von 1959, das, vollständig mit gelben Polyesterschuppen besetzt, tatsächlich eine Aura der Wertigkeit aufweist, wie sie eine Ehrbezeugung auch haben sollte.

Ost und West

Doch Hoehmes Oeuvre weist beiweitem nicht die Linearität auf, die etlichen seiner informellen Weggefährten eigen ist. Auf der einen Seite bearbeitet er sein Material mit rohen Methoden, ist nahe dran an der „art brut“ eines Jean Dubuffet; auf der anderen kann der Informel-Künstler nicht von Buchstaben, Schriften und ganzen Texten in seinen Bildern lassen. Das sieben Quadratmeter große Diptychon „Berliner Brief“ von 1966 ist eine launige Montage von Wörtern aus West (links) und Ost. Im bunten Westen lesen wir „Berliner Kindl“, „Mampe“ oder „BP“, aber wiederholt auch „Bestattungen“; im farblich zurückhaltenden, aber doch hellgründigen Osten beispielsweise „Kampftruppen der Arbeiterklasse“ oder „Internationalismus“, aber auch, verschwimmend, „Haus Vaterland“. Was mag es bedeuten, wenn der Künstler Berlins angesagteste Vergnügungsadresse der Vorkriegszeit in der DDR montiert? Methodisch jedenfalls scheint er da einem Klaus Staeck sehr viel näher zu sein als einem Emil Schumacher.

Gerhard Hoehme, Berliner Brief, 1966, Acryl, Collage, Graphit- und Farbstift auf Leinwand, 200 × 360 cm (zweiteilig), MKM Museum Küppersmühle für Moderne Kunst, Duisburg, Sammlung Ströher. © VG Bild-Kunst Bonn, 2018

Vogelperspektive

Die Wörter dieses „Berliner Briefs“ stehen quasi in Augenhöhe vor dem Betrachter, und damit unterscheidet er sich von fast allen anderen Arbeiten Hoehmes, die, wären sie nach der Natur entstanden, aus der Vogelperspektive auf die Erde blicken. Hoehme war im Krieg Kampfpilot gewesen, und die Globalsicht wurde für ihn stilprägend. „Die Anfänge der informellen Malerei (…) lagen fast alle im letzten Kriege – also in einer Zeit der Kollektivschicksale, der Unterdrückung und Tötung des Individuums…“ beschrieb er es 1974. Da konnte die Kunst nicht so tun, als sei nichts geschehen; da aber auch erweist sich das Informel als unerwartet politisch.

Die Essenz

Mit Nägeln, Fäden, Schnüren, Schnittbögen und Trouvaillen hat Hoehme gearbeitet, hat Kästen wie den „Gewitterkasten“ mit düsterer Andeutung gefüllt, hat seine Motive in Fensterrahmen gestellt („Fensterbilder“) – stand also gewissen „Moden“ im künstlerischen Tagesbetrieb keineswegs ablehnend gegenüber.

Doch wirklich typisch für ihn wurden die Kunststoffschnüre, die in unterschiedlichsten Gestaltungen aus etlichen Bildern herausragen. Suchen sie den Kontakt zum Betrachter, bedrohen sie ihn? Oder sind sie in der Lage, gleichsam die Essenz abzusaugen? „Epiphanie des Informel“ ist der Name der Ausstellung, entlehnt dem Titel eines Bildes: Unten an den Kunststoffschnüren, die aus ihm herausragen, kleben große Kunstharzbrocken, abgeleitete, ausgehärtete Materie, wenn man so will. Wenn Epiphanie als Gotteserscheinung übersetzt werden kann, dann mag da ein Zusammenhang bestehen. Aber wer weiß? Auch wenn der Kaiser kam, sprach das begeisterte Volk in Griechenland von einer solchen.

  • „Gerhard Hoehme – Epiphanie des Informel“. Bis 17. Februar 2019
  • Emil Schumacher Museum Hagen, Museumsplatz 1, 58095 Hagen
  • www.esmh.de
  • Geöffnet Di – So 12 – 18 Uhr
  • Katalog 72 Seiten, 60 Abb., 14 € im Museum, 18 € im Buchhandel.



Alles auf Anfang: Wie die Künstlergruppe „junger westen“ im Ruhrgebiet der Nachkriegszeit wirkte

Gruppenbild: "junger westen" mit Thomas Grochowiak (ganz links). (Kunsthalle Recklinghausen)

Gruppenbild: „junger westen“ mit (von links) Thomas Grochowiak, Heinrich Siepmann, Gustav Deppe, Ernst Hermanns und Hans Werdehausen. (Kunsthalle Recklinghausen)

Darüber darf man heute noch staunen: Ab 1947 erlangte die doch relativ kleine Ruhrgebietsstadt Recklinghausen eine Ausnahmestellung in der westdeutschen Kunstwelt. Hier fanden vor 70 Jahren die Protagonisten der alsbald so einflussreichen Künstlergruppe „junger westen“ zusammen, 1948 ließen sie sich ganz ordentlich ins Vereinsregister eintragen.

In jenen frühen Jahren wurde in Recklinghausen zudem ein alter Bunker zur Kunsthalle umgewidmet, der zum zentralen Ort dieser Formation werden sollte. Tatsächlich kamen die Impulse für diese Kulturstätte von den Künstlern selbst. Ein sehr profiliertes Mitglied der Gruppe, Thomas Grochowiak, war (als Nachfolger des 1952 früh verstorbenen Gründungsdirektors Franz Große-Perdekamp) über die Marathonstrecke von 1954 bis 1980 zugleich Leiter der Kunsthalle und der weiteren Städtischen Museen.

Im Revier verwurzelt und geerdet

Der „junge westen“ war eindeutig eine Angelegenheit des Reviers, er war personell und zunächst auch thematisch regional verwurzelt, was seine nationale und später auch internationale Wirkung nicht schmälerte. Jetzt widmet die Recklinghäuser Kunsthalle dieser Gruppierung eine sinnreich und liebevoll gestaltete Überblicks-Schau, die als Ausstellung zu den Ruhrfestspielen firmiert. Mehr Revier-Anmutung geht also kaum.

Ausstellungskatalog der Gruppe aus dem Jahre 1948. (Kunsthalle Recklinghausen)

Ausstellungskatalog der Gruppe aus dem Jahre 1948. (Kunsthalle Recklinghausen)

Der Rückblick auf die Gruppengründung vor 70 Jahren bringt es mit sich, dass sich jetzt sukzessive gleich mehrere Häuser im Ruhrgebiet dem „jungen westen“ widmen: das Märkische Museum (Witten), das Museum DKM in Duisburg, das Kunstmuseum Gelsenkirchen, das Kunstmuseum Mülheim und das Kunstmuseum Bochum steuern je eigene Aspekte bei, auch die Kunstsammlungen der Ruhr-Uni Bochum sind beteiligt. Den institutionellen Rahmen bildet das langfristige Kooperations-Projekt RuhrKunstMuseen.

Die gewichtigste Ausstellung des Gedenkjahres gebührt freilich Recklinghausen, wo allein schon die seit den späten 40er Jahren gewachsenen Eigenbestände eine großzügige Auswahl ermöglichen. Über 30 Leihgeber haben zudem Ergänzungen beigesteuert. Und so kommt es, dass man alle Phasen der Gruppe mit prägnanten Beispielen belegen kann.

Dauerhafter Zusammenhalt

Bemerkenswert dauerhaft, hielt sich der „junge westen“ als gemeinsame Plattform bis etwa 1962 (in dieser Phase endet auch der Fokus der Ausstellung), die entstandenen Freundschaften währten noch viel länger. Nie haben die einzelnen Künstler vergessen, dass sie ihre Werdegänge anfänglich der Gruppe zu verdanken hatten. So etwas gibt es heute praktisch nicht mehr, da waltet eher die von Galeristen und Sammlern entfesselte Marktkonkurrenz.

Thomas Grochowiak: "Scherzo Grazioso" (1948). (Märkisches Museum Witten)

Thomas Grochowiak: „Scherzo Grazioso“ (1948). (Märkisches Museum Witten)

Der Gruppenname „junger westen“ führt etwas in die Irre: Die Mitstreiter waren in der Gründungszeit um oder über 40 Jahre alt, sie hatten wertvolle Lebenszeit im verfluchten Krieg vergeudet.

Im Wesentlichen war es eine Entwicklung von der Gegenständlichkeit zur Abstraktion, die die einzelnen Künstler, aber auch die Gruppe „junger westen“ insgesamt vollzogen haben. So waren damals die Zeichen der Zeit, die in Recklinghausen nicht nur aufgenommen und gedeutet, sondern teilweise auch aktiv gesetzt wurden.

Die Ausstellung präsentiert das Schaffen der Künstler jeweils in persönlichen Werkblöcken, so dass sich die Entwicklung wie im Zeitraffer nachvollziehen lässt. Zum Kernbestand zählen diese sechs Gruppenmitglieder: Gustav Deppe, Thomas Grochowiak, Heinrich Siepmann, Emil Schumacher, Hans Werdehausen und Ernst Hermanns. Vier weitere treten flankierend hinzu: K. O. Götz (der heute als 103jähriger in Aachen lebt), Georg Meistermann, HAP Grieshaber und Emil Cimiotti.

Ja zur Zukunft mit Atomenergie

Der Blick dieser Künstler im allseits kriegsverwüsteten, buchstäblich ruinösen Land richtete sich entschieden nach vorn, es ging nicht so sehr um die Rehabilitierung als „entartet“ verfemter Künstler. Nein, man erstrebte eine gründliche Inventur, einen Neuanfang. Die Künstler vom „jungen westen“ wollten sich entschlossen einer besseren Zukunft zuwenden, zur Aufbruchsstimmung gehörte übrigens auch eine Bejahung des als friedlich gedachten Atomzeitalters. Keine Bomben mehr, sondern schier unerschöpfliche Energie…

Gustav Deppe: "Hochspannung" (1952). (Kunsthalle Recklinghausen)

Gustav Deppe: „Hochspannung“ (1952). (Kunsthalle Recklinghausen)

Schon 1950, also gerade mal fünf Jahre nach Weltkriegsende, gab es in Recklinghausen eine deutsch-französische Ausstellung zum künstlerischen Stand der Dinge – im Geist der Völkerversöhnung. Frankreich war das gelobte Land, Paris die Metropole, auf die alle schauten. Der Zeitgeist war mit ihnen. Und genau in diese Zeitstimmung kann man in Recklinghausen eintauchen.

Formwelt der Industrie

Praktisch alle Künstler beim „jungen westen“ haben damit begonnen, sich figurativ am industriellen Umfeld des Ruhrgebiets abzuarbeiten. Das Spektrum reicht von Starkstrommasten (Gustav Deppe) über Figuren wie den „Fördermaschinisten“ (Thomas Grochowiak) bis zum prosaischen Alltagsobjekt Küchenherd (Emil Schumacher).

Gustav Deppe war fortan der Einzige, der weitgehend im Gegenständlichen verharrte und den formalen Strukturen der technisch bestimmten Welt unermüdlich nachspürte; ein Umstand, der ihn vielleicht gerade jetzt wieder interessant macht. Man muss darin wahrlich keine Rückschrittlichkeit oder mangelnden Drang zu avantgardistischen Positionen sehen. Es ändern sich die Perspektiven. Heute schwört man längst nicht nur auf Abstraktion.

Heinrich Siepmann: "Komposition IV" (1954). (Kunstmuseum Mülheim/Ruhr - VG Bild-Kunst, Bonn)

Heinrich Siepmann: „Komposition IV“ (1954). (Kunstmuseum Mülheim/Ruhr – VG Bild-Kunst, Bonn)

Die Hauptströmung beim „jungen westen“ führte hingegen weg vom erkennbaren Gegenstand. Doch auch da gab es verschiedene Wege, manche Künstler sind eher dem Konstruktiven zuzurechnen, andere (allen voran Emil Schumacher) strebten in die gestisch-energetischen Gefilde des Informel.

Bis zum Tapeten-Entwurf

Dennoch haben sich die Künstler im „jungen westen“ einander dermaßen intensiv beeinflusst, dass individuelle Unterschiede zeitweise verblassten. Doch dann wieder strebten die Linien wieder auseinander. Ja, zuweilen geht es bei ein- und demselben Künstler mal hierhin, mal dorthin und wieder zurück. Eben dies verleiht der Zusammenstellung die nötige Spannung.

Ein weiterer Aspekt ist das durch den (mit Große-Perdekamp seit Schulzeiten befreundeten) Bottroper Josef Albers vermittelte Bauhaus-Gedankengut, in dessen Nachfolge sich der „junge westen“ sah. So lieferte man zwischendurch auch schon mal ganz selbstverständlich Musterentwürfe für Tapeten.

Zeitgeist in aussagekräftigen Fotografien

Nicht nur die rund 100 Kunstwerke, sondern speziell auch die zahlreichen, vielfach großformatigen Fotografien aus jener Zeit lassen den „jungen westen“ wieder aufleben. Fotos von Ausstellungs-Ereignissen der 50er Jahre zeigen im zeittypischen Ambiente, dass damals bei Eröffnungen etwa noch ganz locker geschwoft und geraucht wurde. Mit konservatorischen Bedenken hatte man es noch nicht so.

Emil Schumacher: "Libya" (1962). (Kunsthalle Recklinghausen)

Emil Schumacher: „Libya“ (1962). (Kunstmuseum Bochum)

Vor manchen dieser Dokumente kann man lange verharren und sinnieren. So beispielsweise vor einem Foto, auf dem offenbar hundert oder noch mehr uniformierte Polizisten in eine Ausstellung drängen, und zwar keineswegs in dienstlicher Absicht. Ein anderes Foto belegt, dass damals Kunst durchaus im Zusammenhang der Warenwelt auftauchen konnte, so auch direkt neben einer Miele-Waschmaschine. Eine Avantgarde traf gleichsam die andere, der Fortschritt schien unteilbar zu sein.

Wer sich viel Zeit nimmt, kann überdies eine große Stellwand mit einer zeitgenössischen „Presseschau“ Zeile für Zeile goutieren, so dass nicht nur den Schauwerten, sondern auch dem Diskursiven Genüge getan ist. Apropos Zeitung: Der FAZ-Kulturkorrespondent für NRW, Albert Schulze Vellinghausen, war es wohl, der der Gruppe publizistisch zum Durchbruch verhalf.

Museumsdirektor Prof. Ullrich nimmt Abschied – doch nicht so ganz

Die von Hans-Jürgen Schwalm und Stephan Strsembski kuratierte Ausstellung bedeutet übrigens auch für den Recklinghäuser Museumsbetrieb eine Zäsur. Es ist die letzte, die Prof. Ferdinand Ullrich als Direktor verantwortet. Er wird allerdings auch im so genannten „Ruhestand“ dem Ruhrgebiet treu bleiben und sicherlich mit Ausstellungs- und Buchvorhaben weiter von sich reden machen. Seine Dissertation hat Ullrich, der seine Laufbahn als Künstler (Meisterschüler bei Timm Ulrichs) und nicht als Kunsthistoriker begonnen hat, einst just über den „jungen westen“ verfasst. So rundet sich alles.

„Auf dem Weg zur Avantgarde. Die Künstlergruppe JUNGER WESTEN“.  Kunstausstellung der Ruhrfestspiele Recklinghausen in der Kunsthalle Recklinghausen (Große-Perdekamp-Straße 25-27). Vom 7. Mai bis zum 13. August 2017. Geöffnet Di-So & feiertags 11-18 Uhr, Mo geschlossen.

Infos zu Recklinghausen: www.kunst-re.de
Infos zu den weiteren Ausstellungen über den „jungen westen“: http://www.ruhrkunstmuseen.com/ausstellungen.html




Das Haus und die Geborgenheit im Werk von Emil Schumacher – eine Ausstellung, die so nur in Hagen möglich ist

Emil Schumacher: "Hama X", 1984, Öl auf Karton. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017/Emil Schumacher)

Emil Schumacher: „Hama X“, 1984, Öl auf Karton. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017/Emil Schumacher)

Über das reichhaltige Werk von Emil Schumacher (1912-1999) kann man immer wieder staunen. Stets aufs Neue finden sich ungeahnte Aspekte, Themen und Formen. Längst meint man, diesen Künstler als internationale Größe des Informel und der Abstraktion zu „kennen“. Tatsächlich kam er in seinem Spätwerk – wie verschlüsselt auch immer – aufs gegenständliche Repertoire früherer Zeiten zurück. Beispielsweise auf das Haus und sonstige Orte der Geborgenheit.

Solche Motive haben sein Sohn, der vormalige Bottroper Museumsdirektor Dr. Ulrich Schumacher, und Rouven Lotz, Leiter des Hagener Emil Schumacher Museums, im Werkzusammenhang so auffallend häufig vorgefunden, dass jetzt eine eigene Ausstellung daraus entstanden ist. Man muss diese Bilder gar nicht unbedingt, wie Rouven Lotz es unternimmt, mit dem in der Nachkriegszeit und leider auch jetzt wieder so virulenten Themenkomplex Flucht und Vertreibung in Bezug setzen, um ihnen zeitgemäße Bedeutsamkeit zuzusprechen.

Die Ausstellung umfasst rund 70 Bilder, überwiegend intimere, oft spontan skizzenhafte Arbeiten auf Papier. Zeitlich reicht der Bogen von den späten 1930er Jahren bis in die 1990er. Auch hierbei zahlt es sich wieder aus, dass der Künstlersohn Ulrich Schumacher etliche Arbeiten aus dem Kunstmarkt herausgehalten und verwahrt hat. Jetzt bilden sie zum großen Teil den Fundus des Schumacher Museums.

Aus dem Frühwerk: Emil Schumacher "Industriestraße I", 1946, Aquarell und Tusche auf Bütten. (© VG Bild-Kunst, Bonn, 2017/Emil Schumacher)

Aus dem Frühwerk: Emil Schumacher „Industriestraße I“, 1946, Aquarell und Tusche auf Bütten. (© VG Bild-Kunst, Bonn, 2017/Emil Schumacher)

Fast alle Bilder erstmals zu sehen

So kommt es auch, dass abermals bislang nie öffentlich gezeigte Bilder zum Vorschein kommen. In der neuen Ausstellung sind es rund 60 von 70, also beinahe alle. Man kann mit Fug und Recht von einer vielfältigen Premiere sprechen, wie sie so nur in Hagen möglich ist. Apropos: In diese Stadt und in das zu Beginn des 19. Jahrhunderts von seinem Urgroßvater errichtete Haus in der Bleichstraße ist Emil Schumacher von allen Reisen immer wieder zurückgekehrt. Lokale Verwurzelung und Weltgeltung sind keinesfalls Gegensätze.

Liebenswerte Erinnerung: Künstlersohn Ulrich Schumacher mit einem KInderbildnis seiner selbst, das der Vater 1942 angefertigt hat. - Emil Schumacher: "Ulrich am Tisch" (Kohlezeichnung). (Foto: Bernd Berke)

Liebenswerte Erinnerung: Künstlersohn Ulrich Schumacher mit einem Kinderbildnis seiner selbst, das der Vater 1942 angefertigt hat. – Emil Schumacher: „Ulrich am Tisch“ (Kohlezeichnung). (Foto: Bernd Berke)

Der angenehm überschaubare und gehaltvolle Rundgang beginnt u. a. mit Porträts, die Emil Schumacher in der Nachkriegszeit von seinem Sohn Ulrich angefertigt hat, als der noch ein kleines Kind gewesen ist. Man merkt es Ulrich Schumacher wahrlich an, wie freudig bewegt er ist, wenn er diese Bilder heute betrachtet. Damals hat er das mitunter langwierige „Modellsitzen“ für den Vater nach eigenem Bekunden eher als Tortur empfunden. Signatur der ärmlichen Zeit: Auf einem Bild trägt der kleine Ulrich eine kurze Hose, die notdürftig aus einer alten Wehrmachtsdecke genäht worden war; auf einem anderen sieht man ihn in Erwartung des Essens, seine kindliche Ungeduld ist nur mühsam gebändigt.

Zum Wesen der Dinge vordringen

Mit den Sohnesbildern ist zugleich der Bereich des Familiären und Häuslichen aufgerufen, mithin auch der des Schutzes vor der stürmischen, zudringlichen Außenwelt, auf den man auch und gerade in finsteren Zeiten hofft. Anfangs noch im Stile der Neuen Sachlichkeit, dann in expressionistischer Weise, hat Emil Schumacher solche bergenden und einhegenden Räume oder Zonen dargestellt.

Interessant ist ein Vergleich zweier Darstellungen seiner Ateliers von 1938 und 1983. Auch diese Arbeitsstätten hat er als Schutzräume begriffen, in die einzig und allein seine Frau eintreten durfte. Jahrzehnte eines intensiven und ertragreichen Künstlerlebens liegen zwischen den beiden Fassungen. Immer mehr ist das innere, nicht sogleich sichtbare Wesen der Dinge in den Vordergrund gerückt.

Emil Schumacher: "G-35/1980" (1980), Gouache auf braunem Packpapier. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017/Emil Schumacher)

Emil Schumacher: „G-35/1980“ (1980), Gouache auf braunem Packpapier. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017/Emil Schumacher)

Anfangs sehen wir noch Bilder mit erzählender, ja anekdotischer Anmutung, später gerinnen sie zusehends zu einer ursprünglichen, archaischen Formensprache, die menschliche Urerfahrungen betrifft – wie nur je bildliche Entwürfe seit den vorzeitlichen Höhlenzeichnungen.

Die Grenzen der Interpretation

Vor den späteren, letztlich zeitenthobenen Bildern kann jeder Betrachter sozusagen seine Phantasie spazieren führen. Eben dies empfiehlt auch Rouven Lotz, der angesichts solcher Schöpfungen sehr wohl die Grenzen der kunstwissenschaftlichen Interpretation sieht. Die Schlussakkorde sind gleichzeitig der Übergang zu Teilen der Dauerausstellung. Hier zeigt sich, dass die Hausform auch in den großen Gemälden unversehens wieder auftaucht. Je nach Gusto könnte man den Rundgang auch an dieser Nahtstelle beginnen und sodann rückwärts durch die Zeiten schreiten.

Emil Schumacher im Jahr 1981. (Foto: Ralf Cohen, Kalrsruhe / Emil Schumacher Museum, Hagen)

Emil Schumacher im Jahr 1981. (Foto: Ralf Cohen, Kalrsruhe / Emil Schumacher Museum, Hagen)

Wüsste man nicht, wie sehr sich Emil Schumacher schon früh für Grundformen des Hauses und der Häuslichkeit interessiert hat, so würde man sie freilich auch nicht so leicht in den abstrakten Arbeiten entdecken. Hie und da mag dieses Wissen bei der Entschlüsselung des manchmal hermetisch erscheinenden Spätwerks helfen.

Andererseits kehren gerade in späteren Bildern figurative Elemente wieder. Das aber macht die Angelegenheit nicht unbedingt leichter. Im Gegenteil: Eigentlich ist sie ziemlich vertrackt. Denn der zur und durch Abstraktion gereifte Schumacher hat nicht mehr plan- und absichtsvoll den Vorsatz gefasst, Häuser auf Papier oder Leinwand zu bringen. Derlei Formen haben sich vielmehr aus dem gestischen Malprozess selbst ergeben, oft auch nur als vage Anklänge oder gar aus „Zufällen“ der Linienführung. Auf gesichertem Gelände befinden wir uns also nicht. Es ist schließlich Kunst, die ins Offene strebt.

Emil Schumacher: Orte der Geborgenheit. Emil Schumacher Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navi: Hochstraße 73). Vom 5. März bis zum 28. Mai 2017.  Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Katalog 80 Seiten, rund 90 Abb., im Museum 19,90 Euro (im Buchhandel 24,90 Euro). Internet: www.esmh.de




Künstler auf der Suche – Hagener Museum zeigt frühe Bilder von Emil Schumacher

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Der junge Emil Schumacher im Jahr 1950 (Foto: Emil Schumacher Museum Hagen)

Als Emil Schumacher begann, ein berühmter Maler zu werden, war er immerhin schon 33 Jahre alt. Der Moment ist klar bestimmbar. Am 8. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation, kündigte Schumacher seinen Job als technischer Zeichner in einer Hagener Batteriefabrik und wurde freier Künstler.

Dieser mutige Schritt – wie auch das Ende des Zweiten Weltkriegs – liegt jetzt fast 70 Jahre zurück und ist Anaß für eine Sonderausstellung im Hagener Schumacher-Museum, die dem Frühwerk gewidmet ist, Titel: „1945 – Wiedersehen in den Trümmern“.

Wenn ein Familienvater in schwerster Zeit eine solche Lebensentscheidung trifft, dann ist Druck da, Getriebenheit, Radikalität. Mit gleicher Radikalität hatte der 21-jährige Emil Schumacher 1933 sein Studium an der Dortmunder Kunstgewerbeschule abgebrochen, weil er sich nicht der Nazi-Ideologie unterwerfen wollte. Nun aber gab es so etwas wie eine zweite Chance, wenngleich ein Studium wohl nicht mehr in Frage kam.

Sodom (1961)

Entgrenzt: Schumacher-Bild Sodom (1957) im Format 132 x 170 cm (Foto: Emil Schumacher Museum Hagen)

In den Jahren 1945 bis 1951, deren Schaffen die Hagener Ausstellung dokumentiert, erlebt man einen Künstler, der zum einen fraglos noch auf der Suche nach dem richtigen Weg ist, der andererseits bereits auffällt durch die tiefe Durchdringung von Themen und Sujets zum einen und großer handwerklicher Meisterschaft zum anderen. Wenn dieser Suchende Anfang der 50er Jahre scheinbar so plötzlich seinen unverwechselbaren „informellen“ Stil gefunden hat, ist das zwar nicht selbstverständlich, aber auch nicht verwunderlich. Viel Typisches war früh im Keim schon angelegt.

Schlüsselwerk für ein besseres Schumacher-Verständnis ist fraglos „Die brennende Stadt“ von 1946, eine Serie von schwarz gedruckten Holzschnitten, die der Künstler auf mehreren Blättern mit unterschiedlichen Farbigkeiten belegte.

Es sind Bilder des Grauens, Feuer, Rauch, Verwüstung und Verzweiflung, und die Farben machen es noch schlimmer. Es sind Schmerzensschreie wie Picassos „Guernica“ von 1937 – und sie markieren gleichzeitig Schumachers Abwendung vom Figurativen, hin zur grundlegenden elementaren Empfindung. In der Ausstellung wie im Katalog hat Kurator Rouven Lotz die Reihe der kolorierten Holzschnitte dankenswerterweise in räumliche Nähe zu dem Kolossalgemälde „Sodom“ von 1957 gerückt, stattliche 132 x 170 cm groß, das in Flächenentgrenzung, Farbe und Stimmung und unter Weglassung gegenständlicher Elemente doch dem „Bombenangriff“-Zyklus ganz nahe ist.

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Die Hütte in Hagen-Haspe – als es sie in den späten 40er Jahren noch gab (Foto: Emil Schumacher Museum Hagen)

Der „suchende“ Schumacher malte, zeichnete, druckte mit Holz und Linoleum, arbeitete mit gefundenen Materialien wie groben Geweben oder ausgestanzten Blechen. Immer wieder scheint das karge Leben der Nachkriegsjahre in seinen Arbeiten auf. Eine Zeichnung zweier alter Männer, die sich unterhalten, ist mit „1000 Kilokalorien“ unterschrieben; das war das Diskussionsthema jener Zeit, ganze 1000 Kalorien gab es pro Kopf.

Vier Bilder eines alten Mannes hängen an der Wand. Alte Männer prägten das Bild, der männliche Teil der Nachkriegsbevölkerung beschränkte sich weitgehend auf Greise und Kinder, die anderen waren großenteils im Krieg geblieben. Nutzlose Greise verkörperten gleichsam die trostlose Lage. Der eine Greis, den Schumacher immer wieder abbildete, war bei seiner Familie zwangseinquartiert worden und in diesem Sinn ein „dankbares Objekt“ für den jungen Maler. Wiederum beeindruckt bei diesen Blättern die souveräne Technik, die Sicherheit des Ausdrucks, gleichgültig, ob sie mit Farbstift, Tusche oder als Aquarell ausgeführt wurden.

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Da war der Künstler erkennbar noch auf der Suche nach seiner malerischen Position. Papierfabrik Kabel, 1949 gemalt. (Foto: Emil Schumacher Museum Hagen)

Ja, diese 40er- und 50er-Jahre waren eine schlimme Zeit, obwohl das elterliche Haus in Hagen nicht Opfer von Bombardierungen geworden war und der junge Emil in seinem Dachzimmer malen, zeichnen und drucken konnte. Trotzdem lugt bei vielen Arbeiten auch Humor hervor, Lebenshunger und ein leise triumphierendes „Hurra, wir leben noch“. Die Kirmes zum Beispiel ist auf einem Linolschnitt von 1948 schwarz vor Menschen, und die Finger, die sich auf einem farbigen Linolschnitt über einem Kanonenofen wärmen, tun dies in recht neckischer Pose. Mit betonter Leichtigkeit und frecher Kombination von bunten Flächen und gegenständlichen Formen können etliche Bilder ihre Herkunft aus der frühen Nierentischzeit nicht verleugnen, aber warum sollten sie auch?

Man sieht, daß er ein brillanter Portraitist war, dessen Zeichnungen einem Kirchner oder Zille zur Ehre gereicht hätten; zum anderen zeigt sich ganz früh schon, insbesondere bei den harten Drucken, der souveräne Flächenkompositeur, als der der Hagener bald schon berühmt wurde.

In den Fünfzigern ging es steil bergauf mit Emil Schumachers Ruhm, waren seine Bilder unter anderem auf Biennalen in Venedig und Sao Paulo sowie auf der Documenta in Kassel zu sehen. Die vorzügliche kleine Hagener Schau mit ihren rund 60 Arbeiten – Eigenbestand und Leihgaben – macht höchst informativ, abwechslungsreich und manchmal auch vergnüglich klar, wie und wo dieses unverwechselbare Oeuvre seinen Anfang nahm.

„Emil Schumacher – 1945 – Wiedersehen in den Trümmern“, Emil Schumacher Museum Hagen, Museumsplatz 1. 22. Februar bis 7. Juni 2015. Geöffnet Dienstag bis Sonntag: 11 – 18 Uhr. Katalog mit Vorwort von Ulrich Schumacher und einem Beitrag von Rouven Lotz, 84 Seiten, 19,90 €. Eintritt 9 €. Tel.: 02331/207-3138. www.esmh.de




Langer Nachhall: Was Recklinghausen am Kunstpreis „junger westen“ hat

Wenn ein Kunsthaus einen Querschnitt durch den Eigenbesitz zeigt, so ist das vielleicht nicht sonderlich spektakulär, es hat aber doch etwas für sich. Zum einen sind die Kosten einer solchen Sichtung überschaubar, zum anderen schärft man den Sinn für Profil und Schwerpunkte der Sammlung. Mag sein, dass sich die künftige Ankaufspolitik danach neu ausrichtet.

Die Kunsthalle Recklinghausen verdankt ihre Bestände ganz wesentlich dem Kunstpreis „junger westen“, der aus der gleichnamigen Künstlergruppe (Gründung 1948 / Auflösung 1962) hervorgegangen ist. Deren Mitbegründer Thomas Grochowiak war von 1953 bis Ende der 1970er Jahre Direktor der Kunsthalle. Kein Wunder, dass andere Künstler aus seinem Netzwerk hier Heimstatt und Hafen fanden.

Wenn jetzt ein Überblick zu den Preisträgern von 1948 bis 2011 gezeigt wird, so erweisen sich womöglich Stärken und Schwächen, gewiss auch schmerzliche Lücken der Sammlung. Auch kann man ungefähr ermessen, was heute noch Bestand hat und was dem Vergessen anheimgefallen ist.

Kunsthallen-Leiter Ferdinand Ullrich (li.) und sein Stellvertreter Hans-Jürgen Schwalm mit dem Objekt "3er Sitz" des Hamburgers Stefan Kern (Preisträger des Jahres 1995). (Foto: Bernd Berke)

Kunsthallen-Leiter Ferdinand Ullrich (li.) und sein Stellvertreter Hans-Jürgen Schwalm mit dem Objekt "3er Sitz" des Hamburgers Stefan Kern (Preisträger des Jahres 1995). (Foto: Bernd Berke)

Genereller Eindruck: Die allermeisten Arbeiten sind auch jetzt noch durchaus vorzeigbar oder haben mit den Jahren gar an Bedeutung gewonnen, so etwa Bilder des nachmals weltberühmten Emil Schumacher, als er noch nicht dem Informel zugerechnet wurde. Ganz zu schweigen von einem Bild wie Gerhard Richters „Küchenstuhl“, das 1967 für schlanke 900 Mark erworben werden konnte. Heute würde man sich allenfalls wünschen, man hätte damals ein ganzes Konvolut aus seinem Atelier erworben. Einige andere Namen sind freilich allenfalls noch Fachleuten bekannt, sie sind in die zweite Reihe gerückt. Und manche Preisträger-Stücke sind auch jetzt im Depot geblieben, nicht zuletzt aus technischen oder Platzgründen. Wie denn überhaupt die Kunsthalle notgedrungen ein Institut der Wechselausstellungen ist und sonst keine Dauerschau bieten kann.

Kurzer Blick in die Historie: Die allerersten Ausstellungen der werdenden Gruppe gab es – mangels Museum – in der (damals gähnend leeren) Lebensmittelabteilung von Karstadt. Anfangs unterstützten die Künstler vom „jungen westen“ einander in Freundschaft, der Preis – zunächst gerade einmal 1000 Mark – wurde meist brüderlich zu mehreren geteilt. In der Frühzeit gab es zudem manchmal Sachpreise aus der Industrie, beispielsweise Maluntensilien oder auch ein Kofferradio. Ab 1956 wurden Jurys berufen, aus der gegenseitigen Akklamation wurde ein Verfahren der offenen Bewerbung, der die Urteilsfindung mit allem Für und Wider folgte. Es waren Entscheidungen mit Nachhall: Praktisch von allen Preisträgern (Frauen erst seit 1993, seither aber im Proporz) blieben Bilder in Recklinghausen – vielfach zum Freundschaftsentgelt überlassen. Hie und da gab es zur Abrundung auch Zukäufe aus dem Umkreis der Preisträger.

Heute beträgt die Dotierung des Kunstpreises „junger westen“ 10.000 Euro, doch hat die Auszeichnung nicht mehr den überragenden Stellenwert wie einst. Trotzdem gehen auf eine Ausschreibung (abwechselnd für Malerei, Arbeiten auf Papier und Skulpturen) rund 300 bis 600 Bewerbungen ein. Da es ein Förderpreis sein soll, liegt die Altersgrenze bei 35 Jahren, ehedem durften Bewerber bis zu 40 Jahre alt sein.

Constantin Jaxy (Preisträger 1987): "Titan" (Kreide, Tusche, Graphit auf Karton, kaschiert auf Leinwand). (Kunsthalle Recklinghausen / Foto: Bernd Berke)

Constantin Jaxy (Preisträger 1987): "Titan" (Kreide, Tusche, Graphit auf Karton, kaschiert auf Leinwand). (Kunsthalle Recklinghausen / Foto: Bernd Berke)

Die weitgehend chronologische Präsentation lässt jetzt auf jeder der drei Kunsthallen-Etagen eine andere Zeitgeist-Mischung hervortreten. Im Erdgeschoss findet man vorwiegend das solide Fundament der Sammlung aus den 50er Jahren (Thomas Grochowiak, Emil Schumacher, K.O. Götz, Heinrich Siepmann, Gustav Deppe, Hans Werdehausen, HAP Grieshaber, Emil Cimiotti usw.), im ersten Stock werden Umbrüche der 60er und 70er dezent spürbar (Horst Antes, Gerhard Richter, Ansgar Nierhoff, Rolf Glasmeier). Ganz oben findet man sich schließlich in der Gegenwart wieder. Zugespitzt gesagt: Es ist, als würden archäologische Schichten der Sammlung freigelegt.

Wir können hier nicht alle 35 Künstler einzeln würdigen. Allerdings sollte man sich diese Ausstellung gerade nicht in schnöde summarischer Absicht ansehen, sondern sich sozusagen auf intensive „Lektüre“ einlassen und also zwar manches en passant anschauen, dafür aber bestimmte Arbeiten umso eingehender betrachten. Dann hat man vermutlich mehr vom Besuch. Meine persönliche Präferenz weist in die neuere Abteilung: Es sind die rätselvollen Raumschöpfungen der Berlinerin Heike Gallmeier, die den Preis 1999 erhalten hat. Ungewöhnlich ihr Verfahren: Sie malt Bilder, um aber sodann Fotografien der Gemälde zu zeigen. Ein Grenzgang zwischen den Medien.

Kunstpreis „junger westen“ 1948 bis 2011. Die Preisträger. Werke aus der Sammlung der Kunsthalle Recklinghausen. Sonntag, 11. November 2012 (Eröffnung 11 Uhr) bis 27. Januar 2013. Kunsthalle Recklinghausen, Große-Perdekamp-Straße 25-27. Geöffnet Di-So und feiertags 11-18, Heiligabend/Silvester 11-13 Uhr. Führungen sonntags 11 Uhr. Kein Katalog. Infos im Internet: www.kunst-re.de




Zum 100. des Hagener Malers Emil Schumacher: Vergleich mit seinen Zeitgenossen

In Hagen kann man jetzt malerischen Energieströmen nachspüren – zwischen Fließen und Stocken, spontaner Bewegung und Innehalten der Linienführung, zwischen schützender Versiegelung und vehementer Durchbrechung der Bildoberflächen. Von den zahllosen weiteren Nuancen gar nicht zu reden.

Der Ausstellungsanlass ist gewichtig: 100 Jahre alt wäre der aus Hagen stammende Maler Emil Schumacher (1912-1999), ein Künstler von anerkanntem Weltformat, am 29. August geworden. Ursprünglich hatte man in seiner Himatstadt eine umfangreiche Retrospektive ausrichten wollen, die sich aufs Emil-Schumacher-Museum und das benachbarte Osthaus-Museum erstreckt hätte.

Emil Schumacher "Temun" (1987), Öl auf Holz (Emil Schumacher Stiftung, Hagen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Emil Schumacher)

Emil Schumacher "Temun" (1987), Öl auf Holz (Emil Schumacher Stiftung, Hagen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Emil Schumacher)

Dann aber, so Emil Schumachers Sohn Ulrich (langjähriger Leiter des Bottroper Museums, dann spiritus rector des Emil-Schumacher-Museums), sei man zu der Einsicht gelangt, dass eine solche Werkschau einigermaßen unsinnig wäre. Denn das nun von Rouven Lotz geleitete Haus zeigt ja ohnehin unentwegt Schumacher-Bestände vor, wenn auch sukzessive und in wechselnden Zusammenhängen.

Nun also sind ausgewählte Bilder Schumachers im internationalen Vergleich mit Werken einiger Zeitgenossen zu sehen. Der Titel geht auf ein abgewandeltes Schumacher-Zitat zurück: „Malerei ist gesteigertes Leben“. Die von Gastkurator Prof. Erich Franz eingerichtete Schau konzentriert sich auf 62 Arbeiten. Hochkarätige Künstlerliste: Außer Schumacher stehen darauf Jean Dubuffet, Lucio Fontana, Franz Kline, Willem de Kooning, Robert Motherwell, Emil Nolde, Pierre Soulages, Antoni Tàpies, Cy Twombly, Emilio Vedova und Wols. Und noch ein paar weitere Namen. Dies und das reichhaltige Beiprogramm sind nur mit Sponsoren möglich, die der Katalog getreulich verzeichnet.

Emil Schumacher "Documenta II", 1964, Öl auf Leinwand (Osthaus-Museum, Hagen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Emil Schumacher)

Emil Schumacher "Documenta II", 1964, Öl auf Leinwand (Osthaus-Museum, Hagen / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Emil Schumacher)

Kurator Franz vertraut darauf, dass auch Menschen ohne sonderliche Kunstkenntnis hier manche Zusammenhänge erkennen werden, weil die Formen für sich selbst sprechen. Doch man muss wohl schon einige Seherfahrungen mitbringen, um mit der nötigen Feinheit unterscheiden zu können. Wer etwa die Urkräfte eines Wols-Bildes mit jenen vergleichen will, die bei Emil Schumacher walten, sollte möglichst kein Museumsneuling sein. Andererseits ist es mit elaboriertem Kunstwissen allein nicht getan. Hier ist – vielleicht mehr als sonst – auch einlässlich emotionales Schauen gefragt.

Emil Schumacher hat die scheinbar urwüchsig „wilde“ Linien-Dynamik immer wieder ganz bewusst mitten im Schwung angehalten oder jäh umgelenkt, weil ihm ungehemmte Spontaneität nicht geheuer war. Trotzdem gibt es laut Erich Franz „keine ruhige Stelle in seinen Bildern“. Er wollte den Betrachter sinnlich und existenziell berühren, ja mit der Materialität des Farbauftrags gleichsam anspringen. Darf die Linie nicht frei fließen, sondern muss sich mühsam Wege bahnen, muss sie Hindernisse und Widerstände überwinden, so resultiert daraus eine noch ungleich heftigere Energie. Auch führt das Liniengeflecht dann mehr Spuren des Erlebens und Erleidens mit sich – und nicht zuletzt errungenes Glück.

Franz hat die Exponate weitgehend chronologisch gehängt, meidet aber klugerweise Direktvergleiche, die zwischen je zwei Bildern womöglich flach ausfallen würden. Man wird hier beständig hin und her gehen und etliche Blickachsen erproben müssen, um Querbezüge oder auch energetische Abstoßungen zu entdecken.

Wols, o. T. (um 1946/47), Grattage auf Leinwand (Franz Haniel & Cie. GmbH, Duisburg / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Wols)

Wols, o. T. (um 1946/47), Grattage auf Leinwand (Franz Haniel & Cie. GmbH, Duisburg / © VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Wols)

Früheste Anregungen, die nachvollziehbar ins Werk der 1930er Jahre eingeflossen sind, empfing Schumacher von Christian Rohlfs und Emil Nolde, sodann auch von Matisse, dessen Schaffen er anfangs nur aus Büchern kannte. So scheint noch Schumachers „Strandbild“ (1950) von Matisse-Bildern wie „Das blaue Fenster“, 1913) inspiriert zu sein.

In den 1950er Jahren markieren fulminante Bilder mit sprechenden Titeln wie „Eruption“ (1956) Schumachers künstlerischen Weg, den auch eine singuläre Erscheinung wie Wols (hier mit zwei Bildern von 1946/47 vertreten) gebahnt haben mag. Um 1957 sprengen Schumachers Tastobjekte die Leinwand und wachsen als Reliefs in den Raum, beispielsweise, indem der Farbauftrag mit Nägeln durchschossen wird. Natürlich liegt hier die Assoziation zu Günter Uecker (allzu?) nahe, dessen „Nagelbaum“ von 1962 hier zu sehen ist.

Antoni Tàpies "Graue Tür auf schwarzem Grund" (1961), Mischtechnik auf Leinwand (Sammlung Lambrecht-Schadeberg/Rubenspreisträger der Stadt Siegen im Museum für Gegenwartskunst / © Fondacio Antoni Tàpies und VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Antoni Tàpies)

Antoni Tàpies "Graue Tür auf schwarzem Grund" (1961), Mischtechnik auf Leinwand (Sammlung Lambrecht-Schadeberg/Rubenspreisträger der Stadt Siegen im Museum für Gegenwartskunst / © Fondacio Antoni Tàpies und VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Antoni Tàpies)

In seinen „Hammerbildern“ hat Schumacher die Leinwand denkbar heftig attackiert und verletzt – ganz anders als Lucio Fontana, der seinen Bildträgern nur sanfte Schnitte zugefügt hat. In solchen Fällen lässt eine Gegenüberstellung eher die Kontraste hervortreten.

Gleichviel! Es ist jedenfalls spannend, die teilweise subtilen Bezüge und Eigenheiten nachzuempfinden. Besonders fruchtbar könnten vertiefende Vergleiche zwischen den äußerlich verkrusteten, erdig verhärteten Bildern Schumachers und den schier undurchdringlichen Oberflächen bei Dubuffet oder Tàpies ausfallen. Auch dürfte eine Zusammenschau der Linien- und Flächenverläufe bei Schumacher, Motherwell und Twombly zu feinsten Differenzierungen führen, die an den Ursprung alles Bildnerischen rühren. Doch dies ahnt man ebenfalls: Auf diesem erhabenen Qualitätsniveau ist jeder Künstler letztlich ein Planet für sich.

Robert Motherwell "Elegy to the Spanish Republic", No. 133 (1975), Kunstharz auf Leinwand (Bayrische Staatsgemäldesammlung, München - Pinakothek der Moderne / © Dedalus Foundation, Inc. und VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Robert Motherwell)

Robert Motherwell "Elegy to the Spanish Republic", No. 133 (1975), Kunstharz auf Leinwand (Bayrische Staatsgemäldesammlung, München - Pinakothek der Moderne / © Dedalus Foundation, Inc. und VG Bild-Kunst, Bonn 2012 / Robert Motherwell)

Bei all dem hilft die kunsthistorisch eingeübte Begrifflichkeit, derzufolge Schumacher zum vermeintlich formlosen „Informel“ zählt (wahlweise auch zum Tachismus, Action Painting oder zum Abstrakten Expressionismus), nicht wesentlich weiter. Prof. Ernst-Gerhard Güse, der just ein neues Standardwerk über Schumacher verfasst hat, wertet nicht nur das mit über 70 Jahren geschaffene Spätwerk auf, sondern verweist darauf, dass Schumacher selbst sich keineswegs als Vertreter des „Informel“ verstanden hat. Noch die explosivsten Bilder seien immer auf Form und Gegenstand rückbezogen. Nur eine akademische Debatte? Oder der Ansatz zu einer grundlegenden Neudeutung?

„Malerei ist gesteigertes Leben – Emil Schumacher im internationalen Kontext“. 29. August 2012 (Eröffnung nach einem um 19 Uhr beginnenden Festakt mit geladenen Gästen in der Stadthalle Hagen, Festredner Bundestagspräsident Prof. Norbert Lammert) bis zum 20. Januar 2013. Am Eröffnungsabend ist das Museum bis Mitternacht geöffnet.

Reguläre Öffnungszeiten Di/Mi/Fr 10-17, Do 13-20, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 9 Euro (ermäßigt 2 Euro), Familie 18 Euro, Kinder unter 6 Jahren frei.

Katalog (Hirmer Verlag), 160 Seiten, 29,90 Euro im Museum.

Weitere Neuerscheinung: Ernst-Gerhard Güse „Emil Schumacher. Das Erlebnis des Unbekannten“, Verlag Hatje Cantz. 504 Seiten, 49,80 Euro




Komm nach Hagen…

„Komm nach Hagen, werde Popstar“, so hieß vor langer Zeit ein knackiger Song von „Extrabreit“ – und danach eine in Westfalen oft zitierte „Spiegel“-Schlagzeile Anfang 1982. Damals machte die „Neue Deutsche Welle“ (NDW) etlichen Wind – erstaunlicherweise vor allem von Hagen aus. Diese Geschichte darf nun auf gehörig gehobenem Niveau-Plateau ergänzt werden. Demnach könnte es jetzt heißen: „Komm nach Hagen, sei ein Kunstfreund.“ Oder bleibe es…

Am 28. und 29. August wird in der sonst meist nicht allzu aufregenden und schon gar nicht glamourösen Stadt ein „Kunstquartier“ eröffnet, das im Lande seinesgleichen sucht und zu einer Bastion der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 werden kann.

Neue Rangfolge im Land

Gewiss: Köln und Düsseldorf bleiben die vorherrschenden Metropolen der musealen Szene in NRW. Doch dann kämen schon Bonn, Münster, Duisburg – und künftig vielleicht Hagen. Dortmund wird sich höllisch anstrengen müssen, um mit seinem Ex-Brauereiturm „U“ (wo auch das bisherige Ostwall-Museum einzieht) wieder halbwegs zum südlichen Nachbarn aufzuschließen.

Das altehrwürdige Hagener Karl-Ernst-Osthaus-Museum (rühriger Direktor: Tayfun Belgin; Schwerpunkt: Expressionismus) ist gründlich restauriert und erweitert worden, u. a. um eine Kinder- und Jugend-Abteilung. Das allein wäre schon Anlass zur Freude. Doch es kommt endlich, endlich ein singulärer Anziehungspunkt hinzu, nämlich das neue Emil-Schumacher-Museum.

Im Nachhinein mutet es noch grotesker an, dass in der (allerdings hoch verschuldeten) Stadt derart viele – teilweise dumpfe – Vorbehalte gegen dieses Projekt hochgekocht sind. Solche Querelen sind hoffentlich für immer ausgestanden. Viel nachhaltiger kann man rund 26 Millionen Euro nämlich kaum anlegen. Die Investition wird sich für Hagen auch touristisch auszahlen. Fehlt freilich noch ein vernünftiger Ankaufsetat fürs Osthaus-Museum…

Einige Wochen vor der Eröffnung hatte ich jetzt Gelegenheit zum ausgiebigen Rundgang durch beide Häuser. Zwar steht und hängt noch nicht alles an seinem Platz, zwar arbeiten an allen Ecken noch Handwerker, doch kann man bereits sagen, dass hier Großes entstanden ist.

Im neuen Haupteingangs-Foyer wird man sich bald entscheiden dürfen, ob man sich nach rechts (Osthaus-Museum mit Alt- und Anbau) oder nach links (Schumacher-Museum) wendet. Fürwahr kein leichter Entschluss. Man sollte halt beides nicht versäumen und am besten wiederkommen. Die Kombikarte kostet übrigens moderate 6 Euro.

Die Bühne ist bereitet

Begeben wir uns zunächst nach links. Das imposante Treppenhaus lässt es schon ahnen: Hier wird dem weltberühmten Hagener Maler Emil Schumacher (1912-1999) eine Bühne bereitet, die wohl weltweit unvergleichlich ist. Vor allem der weitläufige Oberlicht-Saal, in dem Schumachers fulminante Großformate prangen, nimmt einem schier den Atem. Man sollte sich dieses Erlebnis am besten für zuletzt aufheben. Die Farbe – hier wird sie eruptives Ereignis! Da schwelgt man in ungeahnten Kräften von Rot, Gelb, Blau. Bilder wie „Palmarum“ und „Pinatubo“ wirken nahezu wie vulkanische Naturschöpfungen.

Bevor man diesen Gipfel erklimmt, ist man behutsam didaktisch zu Schumachers Werk-Essenzen hingeführt worden. Ganz unten ist sein Atelier weitgehend getreulich nachgebaut, dazu läuft ein Film, so dass man sich eine Vorstellung von seiner zuweilen heftigen gestischen Arbeitsweise machen kann. Gelegentlich wurde gar die schiere Wut produktiv. Zutiefst unzufrieden mit einem Bild, ist Emil Schumacher der Leinwand zornig mit dem Hammer zuleibe gegangen – und siehe da: Die Einschläge bildeten ganz eigentümliche Formen, aus denen sich etwas gewinnen ließ. Eine ganze Reihe von „Hammerbildern“ folgte…

Alexander Klar, wissenschaftlicher Leiter des Schumacher-Museums, will den Besuchern die „Angst“ vor abstrakter Kunst nehmen. Abstraktion und Figürlichkeit seien bei Schumacher beileibe kein Widerspruch, sondern zwei Aspekte derselben Ur-Sache. Eins greift ins andere über, es wogt aus gleichem Antrieb hin und her. Man kennt das auch von anderen großen Künstlern, von Picasso bis hin zu Gerhard Richter.

Es lässt sich anschaulich verfolgen, wie bestimmte Motive bei Schumacher (Brückenbögen, Vogelschwärme, Pferde) hernach in vermeintlich abstrakten Fügungen wiederkehren. Die subtile Hängung ermöglicht immer wieder Zwiesprachen der Bilder über Blickachsen hinweg. Man kann auch weniger bekannte Serien entdecken, wie etwa die Moscheen-Bilder, die Schumacher 1988 im Irak mit genialischem Strich „hingeworfen“ hatte. Die meditativen Umrisse wirken wie eine letzte Zuflucht vor all dem drohenden Kriegsgetöse.

Das neue Haus, das von der Emil-Schumacher-Stiftung getragen wird, schmiegt sich ans Osthaus-Museum und wirkt doch als sichtbar eigenständiger, gläsern transparenter Baukörper. Gründungsdirektor ist Emil Schumachers Sohn: Ulrich Schumacher war von 1976 bis 2002 Museumschef in Bottrop. Keiner kennt das Werk Emil Schumachers mitsamt den lebensweltlichen Hintergründen so gut wie er.

Das Ausstellungsprogramm wird sich künftig natürlich in erster Linie um Emil Schumachers reichhaltiges Schaffen ranken. Bereits der eigene Fundus reicht für viele, immer wieder neue Perspektiven aufs Werk. Doch auch Querverweise auf andere, womöglich in irgendeiner Art „verwandte“ – oder aufschlussreich gegenläufige – Künstler sind eine Aufgabe schon für die nähere Zukunft. Ab Mai 2010 werden beispielsweise Bilder von Albert Oehlen zu sehen sein.

Geist des Ortes

Spezieller Vorzug in Hagen: Hier waltete seit Karl Ernst Osthaus’ Zeiten ein zuweilen recht reger künstlerischer Geist des Ortes, der freilich immer wieder von kulturfernen und sogar kulturfeindlichen Strömungen konterkariert wurde. Jedenfalls werden hier nicht einfach beliebige Künstler und ihre Werke präsentiert, sondern vor allem auch solche, die mit und in der Stadt innig zu schaffen hatten.

Der große Anreger und Mäzen Osthaus hatte sich hier niedergelassen und 1902 das Folkwang Museum gegründet, mit dem die Stadt vorübergehend ein Zentrum der Moderne wurde. Doch die Hagener ließen die bedeutenden Sammlungen ziehen. Nach Osthaus’ Tod (1921) verkauften dessen Erben die Kunstschätze eilig an die Stadt Essen, wo höhere Erlöse lockten. Ein unwiederbringlicher Verlust, der bis heute schmerzt. Und doch: Vielleicht hat die einstige Präsenz der Kunst ja insgeheim doch nachgewirkt?

Bevor wir gar zu esoterisch spekulieren, fahren wir fort und stellen nüchtern fest: Der gebürtige Hagener Emil Schumacher lebte und wirkte zeitlebens von hier aus – und hier schrieb ein weiterer großer Sohn der Stadt, ein Lyriker von hohem Rang: Ernst Meister (1911-1979), der auch sehr respektabel gemalt und gezeichnet hat (davon soll es nun regelmäßig Proben im Osthaus-Museum geben).

Eine von Birgit Schulte betreute Osthaus-Sonderausstellung ist jetzt zudem Christian Rohlfs gewidmet, der gleichfalls in Hagen gearbeitet hat und 1938 hier gestorben ist. Eine umfangreiche Schenkung hat die ohnehin schon beachtlichen Hagener Rohlfs-Bestände in jüngster Zeit auf über 500 Arbeiten anwachsen lassen.

Als wäre all das noch nicht genug an Ortsbezügen, hat eine Gegenwarts-Künstlerin das Haus zur hauptsächlichen Wirkungsstätte erkoren: Die 1943 geborene Sigrid Sigurdsson erweitert hier stetig und unermüdlich ihr ungemein vielfältiges Archiv unter dem Titel „Vor der Stille – Ein kollektives Gedächtnis“. Das eigentümliche Amalgam aus zeitgeschichtlichen und persönlichen Erinnerungs-Stücken füllt – in Folianten und Schaukästen dargeboten – einen großen, würdevoll dunklen Saal des Museums. Last und Ernst des Erinnerns scheinen zu überwiegen, doch wer Zeit mitbringt und sich ins Einzelne versenkt, wird auch ganz andere Facetten ans Licht holen.

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INFOS:

Adresse des Kunstquartiers: Museumsplatz 1 (für Navigationsgeräte die frühere Anschrift: Hochstraße 73) in 58095 Hagen. Für auswärtige Besucher der Stadt empfiehlt sich außerdem das Jugendstil-Ensemble Hohenhof (Stirnband 10, 58093 Hagen).

INTERNET

Ausführliche Informationen über Eröffnung, Anfahrt, Preise, Ausstellungsvorhaben etc. auf folgenden Internet-Seiten:

http://www.osthausmuseum.de

http://www.kunstquartier-hagen.de

http://www.esmh.de

Foto (Bernd Berke): Ulrich Schumacher vor einem Bild seines Vaters Emil Schumacher




Junger Westen: Rückkehr der 50er Jahre

Recklinghausen. Man kann es sich denken: Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte allseits Nachholbedarf. Beileibe nicht nur in materieller, sondern auch in geistiger Hinsicht. Der Mensch lebt eben nicht vom Brot allein. Vor dem Horizont dieser Zeitstimmung bildete sich 1948 im Ruhrgebiet eine folgenreiche Künstlergruppe: der „junge westen”.

Jetzt, runde 60 Jahre danach, kommt die Gruppe an ihrem Gründungsort Recklinghausen wieder zu Ehren. Noch heute gibt es zur Erinnerung den renommierten Kunstpreis „junger westen”. Führende Köpfe dieses Künstlerkreises waren der Hagener Emil Schumacher, Thomas Grochowiak, Gustav Deppe, Heinrich Siepmann und Hans Werdehausen. Namen, die (mit Ausnahme von Schumacher) heute nicht mehr ganz so geläufig sind.

Von regionalen
Industrie-Motiven
zur Abstraktion

Die Gruppe wurzelte im Expressionismus und richtete sich bewusst regional aus. Anfangs griffen die Künstler häufig Motive aus der Ruhrgebiets-Industrie auf, wie etwa Thomas Grochowiak mit „Der Fördermaschinist” (1950). Erkennbare Gestalt, doch kein platter Eins-zu-eins-Realismus, sondern aufs Wesentliche zielend.

Doch alsbald machte sich (zuweilen heiß und polemisch umstritten) der Zug zur Abstraktion bemerkbar. Er ging in verschiedene Richtungen, mal eher geometrisch (konstruktiv), mal mehr emotional (gestisch) gewendet. Viele Wege führen durch Fläche und Farbe. Jedenfalls hat sich seinerzeit die abstrakte Formensprache spätestens mit der documenta 1959 durchgesetzt. Überdies passt Abstraktion bestens zu den aktuellen Trends auf dem heutigen Kunstmarkt. Zufall oder glückliche Fügung?

Recklinghausens Kunsthallen-Chef Ferdinand Ullrich ist überzeugt: „Die 50er Jahre kommen wieder!” Selbst manche Nierentische und Tulpenlampen seien grandiose Schöpfungen gewesen; erst recht die Kunst jener Zeit, die sich oft dem Alltag näherte – und zwar keineswegs subversiv, sondern gleichsam hilfsbereit: Man sieht es deutlich anhand einer Mappe mit Tapetenmuster-Entwürfen des „jungen westens” für eine Wuppertaler Firma. Phantasie-Girlanden im Stil der Zeit für die heimischen Wände. Das hatte ‚was! Später gab es gar „informelle” (also von spontanen Impulsen gesteuerte) Entwürfe für Spielplatzmobiliar wie etwa Kinderrutschen. Gut denkbar, dass die Umsetzung an Sicherheitsbedenken gescheitert ist.

Alltagsnähe in
der Tradition
des Bauhauses

Hinter all dem stand die Idee eines „Neuen Bauhauses”, das in großer Tradition Kunst und Leben versöhnen sollte. Zeitweise gab es Pläne, dieses „Bauhaus” an der Werkkunstschule in Dortmund anzusiedeln. Leider hat sich dieses Projekt zerschlagen. Wer weiß, was daraus hätte wachsen können.

Recklinghausen zeigt rund 80 ausgewählte Werke von 16 Künstlern, Kurator ist der stellvertretende Kunsthallen-Chef Hans-Jürgen Schwalm. Nicht nur der „junge westen” selbst ist vertreten, sondern auch Gäste, die damals an ihren Ausstellungen teilgenommen haben: HAP Grieshaber, Fritz Winter, Hubert Berke, Georg Meistermann, Hann Trier und der ungemein dynamische K. O. Götz, der (weit über die „Provinz” hinaus) in Paris Furore machte.

Lauter starke Positionen also, deren Originalität jetzt noch wirkt. Die meisten Bilder dürften selbst Skeptiker mit der Abstraktion versöhnen. Die ist hier nämlich kein Freibrief für Beliebigkeit, sondern bringt Formen verbindlich auf den Begriff. Zudem erlaubt die Schau Entdeckungen. Etwa diese: Vor seinen Farbräuschen hat Emil Schumacher Bilder wie „Der Herd” geschaffen; ein wahrhaft ausdrucksvolles Geräte-„Porträt” aus dem Küchenbezirk.

Fazit: Auf solch anregende Weise darf ein Hauch der 50er Jahre gern wieder wehen.

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INFOS:

  • Ein Mentor und „Geburtshelfer” der Gruppe „junger westen” war Franz Große Perdekamp, erster Direktor der Kunsthalle Recklinghausen.
  • Ort der ersten Ausstellung im Vorfeld der Gruppenbildung war 1947 die Lebensmittel-Etage des Kaufhauses Althoff (Recklinghausen).
  • Ausstellung bis 28. September, Kunsthalle Recklinghausen (Bunker am Hauptbahnhof). Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eine kleinere Auswahl zum „jungen westen” wird auch in Dortmund zu sehen sein – mit Werken von Gustav Deppe, Ernst Hermanns und Heinrich Siepmann: 3. September bis 24. Oktober im RWE Tower (Freistuhl 7). Mo-Fr 9-17 Uhr.



Kunst aus dem Verborgenen – Erstaunliche Kostproben aus Dortmunder Privatsammlungen

Von Bernd Berke

Dortmund. Zugegeben: Einen Mäzen wie Peter Ludwig, der komplette Museen aus seinen Kunstkollektionen bestücken kann, gibt es in Dortmund nicht. Doch auch hier wachsen hochkarätige Sammlungen.

Sie werden freilich – typisch westfälisch? – nicht mit Pomp und Getöse, sondern in aller Stille zusammengetragen. Jetzt bekommt man erstmals Kostproben zu sehen. Und man reibt sich erstaunt die Augen: Solche museumsreifen Exponate stammen also aus Dortmunder Privathäusern!

Bestand reicht für eine Fortsetzung

Mit der Ausstellung „Dortmund sammelt“ gastiert die bundesweit renommierte, vor allem mit Expressionisten hervorgetretene Galerie Utermann im Harenberg City-Center. Wilfried Utermann verfügt natürlich über vielfältige Kontakte zu Kunstsammlern. Er hat Einblick in die Schätze, die – zumal durch seine eigene Präsenz am Kunstmarkt – in Dortmund vorhanden sind. Er kennt so viele Kostbarkeiten, daß er sich schon jetzt eine Fortsetzung der aktuellen Schau vorstellen kann, etwa mit einer bislang weithin unbekannten Sammlung zum 18. Jahrhundert.

Deren Besitzer bleibt ebenso ungenannt wie die sieben Dortmunder, die zur jetzigen Schau exakt 101 sehenswerte Arbeiten aus dem Umkreis des Expressionismus und der Klassischen Moderne beigesteuert haben. Umso bekannter sind die Namen der Künstler: Max Beckmann, Lyonel Feininger, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Käthe Kollwitz, August Macke, Emil Nolde, Max Pechstein, Pablo Picasso, Christian Rohlfs, Emil Schumacher.

Max Beckmanns „Blühender Garten“

Besonders von Beckmann („Blühender Garten“, 1933 / „Stilleben mit Fingerhut“, 1943) und Kirchner („Kokotten auf dem Kurfürstendamm“, 1914) sind Spitzenstücke zu sehen. Und die imponierende Liste ist nicht einmal vollständig.

Der Hausherr des City-Centers, Bodo Harenberg: .„Am liebsten würde ich diese Kunstwerke für immer hier behalten.“ Doch selbstverständlich wird die Ausstellung hernach wieder aufgeteilt und kehrt zu den sieben Eigentümern zurück. Harenberg legt Wert auf die Feststellung, daß es sich um eine doppelte Privat-Initiative handelt: die der Dortmunder Sammler und die des Dortmunder Galeristen. Man hört heraus, daß er sich ähnliches Engagement von der öffentlichen Kulturpolitik wünscht…

„Dortmund sammelt“. Ausstellung der Galerie Utermann im Harenberg City-Center, Königswall 21 (am Hauptbahnhof). 1. September bis 1. Oktober. Täglich (auch sa/so) 11-18 Uhr. Eintritt frei, Katalog 38 DM.




Auf Bildern die Welt erahnen – Emil Schumacher in der Galerie Utermann

Von Bernd Berke

Dortmund. Wundersamer Schmelzprozeß: Moderne Form und Urbildnis, Figur und Abstraktion werden nahezu eins. Derlei in ein Bildgeviert zu zwingen, ohne daß es von Widersprochen zerrissen wird, dazu gehört ein großer Künstler. Ein solcher ist Emil Schumacher.

Auch wenn man schon einige Ausstellungen des 82jährigen Hageners gesehen hat, gerät man doch stets aufs neue ins Staunen, so auch jetzt in der Dortmunder Galerie Utermann. Wie dieses Alterswerk nichts an ästhetischer Spannkraft verliert, sondern gar zu neuen Ufern strebt – es ist phänomenal und zeugt von ungebrochenem Lebensdrang.

20 Gouachen (Arbeiten mit deckenden Wasserfarben) aus den letzten drei Jahren und 30 Graphiken seit 1972 sind zu sehen. Das Spektrum der Kaufpreise reicht von 1700 DM bis 46000 DM. Erschwinglich? Ansichtssache beim Blick in den Geldbeutel.

Schumacher nähert sich in den letzten Jahren wieder dem Gegenständlichen, ohne jedoch im landläufigen Sinne realistisch zu werden. Es schimmern im heftigen Flecht- und Linienwerk zunehmend Verweise auf die äußerlich sichtbare Welt auf. Sie engen freilich die Phantasie nicht ein, sondern beflügeln sie. Gar manches kann man vermuten, doch die Ahnung weht einen nur an wie ein Hauch: Hier meint man, einige alpine Berggipfel zu erkennen, dort eine Wüste mit Beduinenzelten, ein andermal karstige Hügel, hin und wieder ein Pferd – oder jene Leitersprossen, die in freie Himmelshöhen zu führen scheinen und die Fläche ins Unendliche öffnen. Wie denn überhaupt der Widerstreit offener und sich schließender Formen diese Bilder strukturiert. Alles in allem: ein Kosmos wie aus vorgeschichtlicher Zeit, mitten ins Jetzt verpflanzt.

Die Farben wirken, als habe Schumacher sie aus tiefen Schichten gewonnen, mit bloßen Händen aus dem Erdreich gegraben. Oft muß man an Höhlenzeichnungen denken. So selbstverständlich sind die Bilder da, als hätte es sie immer schon gegeben.

Emil Schumacher. Galerie Utermann, Dortmund, Betenstraße 12. Eröffnung heute, 25. Jan., 19 Uhr (in Anwesenheit des Künstlers) – Bis 25. Feb, Di-Fr 9-13 und 14-18 Uhr, Sa 9-13 Uhr.




Die Furcht vor der Leere überwinden – Arbeiten auf Porzellan und Keramik sowie Gouachen von Emil Schumacher

Von Bernd Berke

Hamm. Es ist eine allseits beliebte Abfolge bei Ausstellungen moderner Kunst: Am Anfang des Rundgangs kommen gegenständliche Arbeiten, dann wird es zusehends abstrakter. Ganz so, als könne Fortschritt nur in diese eine Richtung laufen. Der Hagener Emil Schumacher entzieht sich solchen Zuweisungen. Das belegt auch seine neue Ausstellung in Hamm.

In Schumachers Werk gibt es gerade in jüngerer Zeit wieder stärkere Andeutungen von Figürlichkeit. Man glaubt zum Beispiel Pferde oder Frauenakte zu erkennen. Nach wie vor aber ist bei Schumacher der körperlich-gestische Prozeß des Malens entscheidend. Ob daraus nun Abstraktionen oder Anklänge ans Gegenständliche entspringen, ist zweitrangig. Alles stammt aus dem gleichen schöpferischen Universum, hat gleiches Recht.

Die Ausstellung in Hamm umfaßt auf zwei Etagen rund 150 neuere Gouachen (Malerei mit speziellen Wasserfarben), dazu bemalte Keramik und Arbeiten auf Porzellan. Hätte Hamm nicht seinen Neubau des Lübcke-Museums, so wäre in dieser Stadt, die nun wieder eine deutliche Markierung auf der Kunst-Landkarte verdient, eine solch großzügige Schau nicht möglich. Zudem handelt es sich um Premieren, denn die Gouachen waren in unseren Breiten noch nicht öffentlich zu sehen, und die Präsentation der Porzellanbilder ist sogar eine „Uraufführung“.

Die Gouachen erinnern vielfach an Ur-Äußerungen des Menschen in der Höhlenmalerei. Solche Bilder altern nicht, denn sie sind nicht zu erschöpfen, sprich: Man kann ihnen immer wieder neue Aspekte abgewinnen. Keine Arbeit trägt einen Titel, der Betrachter wird nirgendwo festgelegt. Vor allem aber: Das ersichtlich Spontane fällt hier mit dem souverän Gelungenen und Gültigen ineins – reife Früchte eines langen Künstlerlebens.

Porzellan als blütenreines Material

Fast noch erstaunlicher ist Schumachers Porzellanmalerei, denn hier hat sich der inzwischen 81jährige auf Ungewohntes eingelassen. Während er – aus Angst vor Leere, vor Vakuum – sonst schneeweiße Malgründe meidet und lieber Unterlagen mit Schlieren oder kleinen Schäden verwendet, mußte er hier mit blütenreinem Material umgehen. Das „weiße Gold“ aus der Staatlichen/Königlichen Forzellan Manufaktur Betlin („KPM“) ist ein makelloses Spitzenerzeugnis. Schumacher wählte nicht die Standardform kreisrunder Schalen, sondern schlanke Ovale, die bereits Spannkraft und Dynamik in sich bergen. Doch nach Schumachers Behandlung werden diese kleinen Flächen zu Ereignissen, ja Dramen aus Linie und Farbe.

Den meisten Künstlern, die für teure Sammlerserien arbeiten, unterläuft auf derlei Material leicht dekoratives Kunstgewerbe. Nicht so Schumacher, Er gelangt mit diesen Unikaten weit übers lediglich Gefällige hinaus, selbst in der Verwendung von Goldfarbe wird er nicht geschmäcklerisch. Er setzt diese kostbare Farbe so ein, daß sie nicht prunkend, sondern ganz selbstverständlich wirkt. Und welch ein ungeheures Blau weiß er, in Gouachen ebenso wie auf Porzellan, zur Geltung zu bringen – ein Durchlaß für Blicke in die Unendlichkeit.

Näher an seinem wohl eigentlichen Element, den sonnengegerbten Erdfarben, ist er bei der Bearbeitung von Keramik. Hier kann er auch das Material selbst formen und sodann beim Bemalen pastoser verfahren, also mächtige Farbspuren ziehen. Es ist, als sei er hier – nach seinem glückhaften Ausflug in die Weiße des Porzellans – wieder ganz bei sich daheim.

Emil Schumacher: Gouachen der 80er Jahre / Arbeiten auf Keramik und Porzellan. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm (Neue Bahnhofstraße 9. Bis 12. Juni (di-sa 10-18 Uhr, mi 10-20 Uhr, mo geschlossen). Eintritt 5 DM, zwei Kataloge (55/45 DM).




Jedes Bild ein neuer Aufbruch – Vitales „Spätwerk“ von Emil Schumacher in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Als fange die Kunst noch einmal ganz von vorn an, krümmt sich – wie auf einer vorzeitlichen Höhlenzeichnung – ein Pferd, es scheint im Bildraum zu stürzen. Doch dann der Hintergrund: giftig-gelb, ein farblicher Aufschrei, wie er so nur in unserem Jahrhundert möglich ist. Ganz von vorn und doch immer ein neuer Aufbruch – überhaupt ein Kennzeichen der Arbeiten Emil Schumachers (76), des Hagener Ehrenbürgers mit internationalem Ruhm.

Kaum können zeitliche Entwicklungen nachvollzogen werden, denn jedes Einzelbild verlangt nach einer Betrachtung „für sich“, erst recht die vierzig „späten Bilder“ (seit 1969), die ab heute bis zum 25. Juni in der „Kunstsammlung NRW“ am Düsseldorfer Grabbeplatz zu sehen sind und dann in die Ferne (Budapest, Madrid) reisen.

Gegenüber der Erstpräsentation 1988 in der Berliner Nationalgalerie ist die Zusammenstellung erheblich verändert worden. Das besagte Pferdebild (Titel: „Fallaca“, 1989) war seinerzeit noch gar nicht entstanden. Es ist übrigens die einzige gegenstandsnahe Arbeit in Düsseldorf – Hinweis auf eine künftige Hinwendung zum Figurativen? Hinzugekommen sind außerdem sieben Gouachen. Doch ansonsten sah sich Museums-Chef Werner Schmalenbach aus Platzgründen gezwungen, auf die meisten Berliner Bilder zu verzichten. Er glaubt aber, daß die derart konzentrierte Düsseldorfer Version intensiver und spannender geraten sei. Schmalenbach bekennt, erst 1961 (als er Schumacher in Hannover ausstellte) von der Kunst des Hageners überwältigt worden zu sein. Seitdem habe er sich laufend mit diesem Werk befaßt. Nur beipflichten kann man SchmaÏenbach in der Kritik am im Berlin erstellten Katalog (30 DM), der – mit bonbonfarbenen Titelrand – Schumachers Farbempfinden Hohn spricht und im Innern mächtig von den Originaltönen abweicht.

Ein Grund mehr also, nach Düsseldorf zu kommen und die Bilder selbst zu betrachten. Vor den Arbeiten stehend, spürt man denn auch erst die „sportive Aggressivitat“ (Schmalenbach), mit der sich Schumacher an seinen Bildern abarbeitet. Doch pure Aggression wäre keine Kunst. Gegengewicht sind jene vorsichtig, tastend und skrupelhaft geführten Linien, die dem reinen „Angriff“ auf die Bildfläche Einhalt gebieten und der zuvor reinen Körperlichkeit Geist und Seele einhauchen.

Exotische Titel verleihen den meist schrundig aufgerauhten Bildern zusätzliches Geheimnis: „Halaf“, „Autuno“, „Tamana“, „Elam“, „Harim“, „Maroussi“ – in Reihenfolge gelesen, wirkt das wie orientalische Poesie. Die Titel „helfen“ nicht eigentlich beim Verstehen, lenken aber zuweilen die Assoziationen, so bei der Arbeit „Lacrima“ (Tränen) von 1977, deren Oberfläche wirklich zu weinen scheint, oder bei „Hiob“: Nicht die biblische Leidensgestalt, vielleicht aber ihr ganzer Weltjammer wird da sichtbar.

Gerne würde Werner Schmalenbach, dessen Haus zwei Bilder von Schumacher besitzt, ein weiteres erwerben. „Besonderen Appetit“ habe er auf das großartige „Indemini“ (1974), ein Materialbild mit Teerstücken. Doch es fehlt Platz für dauerhafte Hängung. Schmalenbach: „Einen Schumacher kauft man nicht, um ihn im Depot zu verstecken.“ Womit er abermals recht hat.




Die Erregung beim Malen – Hagener Künstler Emil Schumacher wird 75

Von Bernd Berke

Der Hagener Maler Emil Schumacher, eine der bahnbrechenden Gestalten der deutschen Nachkriegskunst, wird heute 75 Jahre alt. Aus diesem Anlaß verleiht ihm seine Geburtsstadt die Ehrenbürgerschaft, und im Osthaus-Museum wird eine Schumacher-Ausstellung eröffnet.

Schumacher genießt weltweiten Ruf; er bekam zahllose internationale Auszeichnungen; er war auf den größten Ausstellungen (documenta, Biennale in Venedig) vertreten. Doch stets „war und ist für seine Malerei die südwestfälische Herkunft bestimmend“, befindet Kindlers Malerei-Lexikon. Die Kunstzeitschrift „Art“ zitiert sein Bekenntnis zu Hagen: „Die Leute hier sind mir vertraut. Die Arbeitergegend inspiriert mich. Der gute Geist, der von diesem Flecken ausgeht, gibt mir Bilder, die ich nur hier malen kann.“ In der Tat: Die Landschaft Südwestfalens regte nicht nur die Gestaltung schrundig-erdhafter Bilder an, sie lieferte manchmal auch gleich das zugehörige Material.

Am 29. August 1912 wurde Emil Schumacher im Haus Bleichstraße 11 in Hagen (dort wohnt er noch heute) als Sohn eines Schlossers geboren. Von 1932 bis 1935 studierte er an der Dortmunder Kunstgewerbeschule, strebte dann eine Existenz als freier Maler an.

Bedeutsam war die Begeglung mit dem Altmeister Christian Rohlfs im Jahr 1937. Rohlfs (1938 in Hagen gestorben) gehörte zu den vom NS-Regime verfemten Künstlern (1934 verhinderten die Nazis in Witten auch eine Schumacher-Ausstellung). Rohlfs‘ expressive Malweise gab Schumacher Impulse.

Vom Fronteinsatz zurückgestellt, wurde Schumacher von 1939 bis 1945 als technischer Zeichner in die Hagener Akkumulatorenfabrik verpflichtet. Erst nach dem Krieg konnte er wieder als freischaffender Künstler arbeiten. Alsbald gehörte er zu den Malern, die den Anschluß an die so lang und gewaltsam unterdrückte Moderne wiederherstellten.

Zunächst experimentierte Schumacher mit kubischen .Formen, die die Farborgien noch „bändigten“. Doch nach einem Besuch in Paris (1951) wagte er das Abenteuer der Abstraktion. Die Farbe sprengt nun die Form. Die spontane Aktion an der Leinwand wird bestimmend. Schumacher trägt die Farbe oft mit bloßen Händen auf. Bekannt wurden seine reliefartigen „Tastobjekte“ sowie die „Hammerbilder“, bei denen Schumacher die Malfläche durch aggressive Hammerschläge bearbeitete und die entstandenen Furchen erneut ausmalte – Zerstörung und neues Werden. Dabei kommt die pure „Körperlichkeit“ der Farbe zum Vorschein, und es entfaltet sich ihre psychologische Macht. Man mag Schumachers Bilder dem „Tachismus“ oder dem „Informel“ zuordnen. Ihre Qualität erfaßt man mit solchen Schubladen-Begriffen nicht.

Seine immens lebendigen Bilder tragen deutliche Spuren heftiger Malgesten, sie sind ersichtlich aus starker Motorik, aus kraftvoll ausgetragenem Kampf hervorgegangen. Zwar spielt dabei auch Zufall eine Rolle, doch gerade deshalb ist eine souveräne Beherrschung von Form und Farbe wichtig. Schumacher: „Handwerk, Technik und Erregung sind eins.“

Die Erregung beim Malen hat Schumacher auch in seinem jetzigen Alter nicht verlassen. Im Gegenteil, seine Arbeiten wirken vitaler denn je. Schumachers häufig zitierter Satz „Ich nehme eine Farbe, wie ich in einen Apfel beiße oder einem Freund die Hand gebe“, läßt ahnen, wie lebenswichtig ihm die Kunst ist.




Wunderbare Rettung der verletzten Bilder – Neuere Arbeiten des Hagener Altmeisters Emil Schumacher in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Auf der Bildfläche herrscht, so scheint es, das schiere Chaos. Alle einzelnen Formen sind verletzt, zerstört. Da ist keine Linie, die einen „schönen“ oder auch nur regelmäßigen Verlauf nach herkömmlichem Verständnis niinmt. Sogar die Signatur des Künstlers wirkt oftmals, als sei sie vor lauter Verzweiflung zerflattert oder zerrissen. Trotzdem, und dies kommt einer unverhofften „Rettung“ der Bilder gleich, wird eine „höhere“, wenn auch sehr brüchige Ordnung sichtbar.

Die Rede ist von neuesten Arbeiten eines Altmeisters Emil Schumacher, Jahrgang 1912, in Hagen lebend, schöpferisch wie eh und je. Jetzt zeigt das Städtische Museum Mülheim („Alte Post“ am Viktoriaplatz, bis 12. Oktober, di-so 11-17 Uhr, Katalog 15 DM) eine Auswahl seiner Gouachen und Ölbilder. Ab 23. Januar 1987 wird diese Ausstellung in der Städtischen Galerie Lüdenscheid zu sehen sein.

Bilder beginne er, als ob er gegen eine imaginäre Mauer angehe, hat Schumacher einmal geäußert. Tatsächlich zeigen all seine Werke Spuren eines inneren Kampfes, man spürt Widerstände und deren Überwindung. Nie aber sind die Arbeiten bloßer Ausdruck eines seelischen Ereignisses, sie bleiben – aller Emotion zum Trotz – „komponierte“ Bilder. Die vorherrschenden Töne: erdhaftes Braun, blaue Schattierungen. Tendenzen zur Monochromie (Einfarbigkeit) stehen hier aber nicht für Experimente mit der Modulation dieser Farben, sondern für äußerste Konzentration. Die Farben werden gleichsam zur Materie, erscheinen mitunter als Erhebungen und Verwerfungen auf dem Bildgrund. Dagegen setzt Schumacher scheinbar ungefüge lineare Strukturen, die dem Ganzen dennoch auf wunderbare Weise „Halt“ geben. Und dies ist eben das Erstaunliche: daß diese Bilder „verhalten“ wirken, obgleich ihnen große Zerstörungskräfte innewohnen.

Vor Schumachers (oft titellosen) Bildern kann man, so man mag, den Assoziationen freien Lauf lassen. Man glaubt vielleicht, Menschenumrisse zu erkennen, Ruinen, Tiere oder Landschaften. Diese Kunst ist offen für vielerlei Vorstellungen. Für eine Deutung freilich eignen sich derlei Einfälle kaum. Diese Bilder wollen als Bilder angeschaut werden, nicht als Abbilder.

Gerade die Gouachen (Malerei mit deckenden Wasserfarben) zeigen den Entstehungsprozeß beinahe brutal unverhüllt. Bei dieser Technik läßt sich (im Gegensatz zu Ölbildern) kaum etwas zurücknehmen oder zurückhalten.

Schumacher, einer der wichtigsten Vertreter des sogenannten „Informel“, war nie in Mode, drängte sich niemandem auf, hing keiner Richtung sklavisch an. Dennoch gab es, unabhängig von den wechselnden Konjunkturen, seit denKrieg immer wieder wichtige Ausstellungen seiner Werke, so daß er auch nie in Vergessenheit geriet – ein Umstand, der auch für die Ausstellungsmacher spricht.