Schrill, prall und tragikomisch: Die Staatsoper Hannover gibt Manfred Trojahns „Was ihr wollt“ eine neue Chance

Weihnachten naht. Und damit die Zeit der Geschenkpakete. Fehlen in Hannover in der Neuinszenierung von Manfred Trojahns „Was ihr wollt“ nur Schleifchen und Glanzpapier, und der Stapel von verpackten Präsenten wäre komplett. Denn es wird viel ein- und ausgepackt in Hermann Feuchters Kartonlager, das er für die Oper des in Düsseldorf lebenden Komponisten nach Shakespeares Vorlage ersonnen hat.

Manfred Trojahn. Foto: Werner Häußner

Komponist Manfred Trojahn. (Foto: Werner Häußner)

Ein gewaltiger Turm aus braunen Pappschachteln steht da, massiv und doch fragil, bedrohlich überhängend und bröckelnd. Es dauert nur eine Szene, und von oben regnet es die ersten losen Packungen herab. Einem der Kartons, unter Aufsicht eines Mannes in wuschigem Tutu hereingekarrt, entsteigt ein junges Paar in Weiß – die an den Strand von Illyrien angeschwemmten Geschwister Viola und Sebastiano. Ihre Einheit wird jäh zerrissen: Arbeiter schieben eine riesige, braune Fläche zwischen die Beiden, das Mädchen zerreißt das Papier, ein Rahmen kommt zum Vorschein, leer, aber unüberwindlich. Viola schaut auf die Fläche, und wen sie auf der anderen Seite sieht, ist auf einmal nicht mehr klar. Sich selbst? Ihren Bruder? Ihr Spiegelbild? Oder gar nichts mehr? Und das Orchester brüllt schmerzhaft auf, als habe es soeben Verdis Othello siegreich an Land geworfen.

Die Welt endet in einem Haufen Kartonagen

Die vermeintliche Klarheit des Anfangs ist vorüber wie die Einheit der Kugelmenschen in Platons philosophischer Ursprungserzählung – und sie wird auch nicht mehr gewonnen, wenn am Schluss der zweieinviertel Stunden Oper die Geschwister wieder in ihrer Kiste landen. Im Gegenteil: Das Chaos ist unheilbar; auch der Narr im Tutu kann ihm keinen Sinn geben, selbst wenn er ganz im shakespearischen Sinne ein volkstümliches Liedchen singt. Eher trifft zu, was der unglückliche Malvolio – der mit den gelben Strümpfen – vor der Schwärze des Spiegel-Rahmens klagt: „Ich sehe nichts. Es ist so dunkel hier.“

So beschreibt er bitter-treffend die Welt, die nach der Komödie der Verwechslungen übrig bleibt. Figuren, die nur mehr um zitathafte Fetzen ihrer Vergangenheit kreisen, eine delirische Musik ohne Zielambitionen und Finalgehabe. Und ein Haufen Kartons, der durchlöchert ist und noch einsturzgefährdeter wirkt als zu Beginn. Man mag Feuchters Bühnenlösung für allzu gewählt und auf Dauer ermüdend halten, aber in diesem Moment schlägt die Wirkung zu – jenseits oberflächlicher ästhetischer Erwägung.

Verwirrspiel der Geschlechter

Balázs Kovalik setzt in seiner Inszenierung vor allem auf das Verwirrspiel der Geschlechter. Schon das Shakespeare-Theater hatte mit seinen von Epheben gespielten Frauenrollen auf die Reize des Uneindeutigen, das Spiel mit dem Feuer sündiger Homoerotik gesetzt. Kovalik nun gibt, kräftig unterstützt von den Kostümen Angelika Höckners, dem Changieren der Geschlechter breiten Raum: Die Dienerin Maria (stimmlich einigermaßen schrill: Julia Sitkovetzky) trägt ihre Brüste als knallbunt betonte Embleme praller Weiblichkeit vor sich her; auch der Diener Antonio, der kernig singende Michael Dries, ist eindeutig männlich konnotiert.

Bei den komischen Figuren Sir Toby, zunächst mit Schlafanzug und Karomütze, und Sir Andrew wird die Sache schon weniger greifbar: Ihre Schottenröcke sind nicht bloß folkloristische Anklänge, sondern verschieben die Wahrnehmung ins Weibliche, auch wenn der würdig-füllige und beinah zu nobel singende Stefan Adam mehr noch als der burleske Edward Mout noch in ihrer maskulinen Rolle verharren.

Das Spiel mit den Identitäten entfaltet sich dort, wo die Figuren die Liebe über die pralle Sexualität hinaus ins Spiel bringen: Bei den Geschwistern verhüllen weiße Overalls die Geschlechtsmerkmale; Orsino, der hoffnungs- und hemmungslos in Olivia verliebte Herzog, changiert in Kleidung und Gebaren und ist bald von den „rosenfeuchten Lippen“ des vermeintlichen Knaben Cesario angezogen.

Dass Olivia und der Herzog Orsino nacheinander eine nahezu parallele Szene in einer Badewanne spielen, ist ein deutliches Zeichen der Regie. „Nichts ist so, wie es ist“, sagt der Narr (Martin Berner) zutreffend. Und die Menschen auf der Bühne nähern sich immer wieder dem Zauberrahmen, in dem erscheint, wen sie erahnen, erträumen, ersehnen. So spitzt Kovalik mit einer deutlich jeden „Realismus“ transzendierenden Personenführung die Fragen zu – nach der Existenz der Menschen zwischen Sinn und Bedeutung, Schein und Sein, Angst und Sehnen. Eine in sich stimmige Lösung, die sich vor einem dezidierten Standpunkt dem Stück gegenüber nicht scheut.

Dramatische Unmittelbarkeit der Musik

Manfred Trojahns stilistisch souverän unbekümmerte Musik zu dieser seiner zweiten Oper wurde nach der Uraufführung 1998 in München teils heftig kritisiert: zu ästhetisch reaktionär, zu weit weg von wirklicher Zeitgenossenschaft. Mag sein, dass das temporeiche, schräge Stück deswegen nach der Übernahme von Peter Mussbachs Münchner Inszenierung 2001 an die Deutsche Oper am Rhein und einer Produktion in Weimar 2002 – inszeniert vom jetzigen Gelsenkirchener Generalintendant Michael Schulz – den Weg zur Bühne verloren hat. In Hannover bewundert man heute, 20 Jahre nach dem Entstehen, die agile, detailreiche Musik, die souveräne Ökonomie im Einsatz des Orchesters, die Finesse der Klangfarben, die dramatische Unmittelbarkeit, die einer Komödie mit tragischer Einfärbung durchaus angemessen erscheint.

Mark Rohde und das Niedersächsische Staatsorchester lassen es nicht an Detailarbeit und Klangbewusstheit fehlen, reißen aber den Fluss der Musik immer wieder auseinander, wenn sie – aus szenischen Gründen? – innehalten. Simon Bode muss als Orsino erst seine Position finden, die er im Lauf des Abends mit Nachdruck und Glanz zu sichern weiß – etwa in wehmütigen Kantilenen seiner Klage zum Englischhorn.

Dorothea Maria Marx gibt der Olivia Wärme und Selbstbewusstsein, Charme und Koketterie. Ania Vegry turnt sich mit stimmlicher Verve durch die Sprünge und Koloraturen der Partie der Viola, kann aber schrill angestrengte Momente nicht verhindern: Der Kopf ist eine begrenzte Quelle der Resonanz. Jonas Böhm als ihr Pendant Sebastiano hat eine wesentlich blassere Rolle auszufüllen, anders als Brian Davis als Malvolio, der mit seinem korrekten blauen Anzug mit Krawatte auch die Kontrolle über seine Existenz verliert.

Nach der Tragödie „Orest“ (2012/13) macht die Staatsoper Hannover nun mit dieser abgründigen Tragikomödie wieder auf Manfred Trojahns Opernschaffen aufmerksam, der in der vergangenen Spielzeit auch mit seinem Erstling „Enrico“ in Frankfurt wieder einen Erfolg erzielen konnte. In beiden Fällen bleibt als Fazit: gut spielbares zeitgenössisches Musiktheater, geistvoll, sinnlich, theaterprall und musikalisch anregend. Öfter zeigen!

Nächste Vorstellungen: 14. und 27. Dezember 2018 – 5., 8. und 20. Januar 2019. Weitere Infos: https://oper-hannover.de/index.php?m=&f=03_werkdetail&ID_Stueck=558




Parabel über die Narrheit der Macht: „Hamlet“ als Opern-Rarität von Ambroise Thomas in Krefeld

Einsam in sich selbst gefangen: Rafael Bruck als Hamlet in der gleichnamigen Oper von Ambroise Thomas in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Einsam in sich selbst gefangen: Rafael Bruck als Hamlet in der gleichnamigen Oper von Ambroise Thomas in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Der Thron schwebt über der Szene. Unter ihm kauern Lemuren, weisen mit ausgestreckten Armen auf den Sessel, kriechen auf einen undefinierbaren Gegenstand im Zwielicht zu. Sobald der erste zuschnappt, erkennen wir: Es ist eine Krone. Wie mit einer Waffe hält der schwarze Mensch die Menge mit dem Reif in Schach. Fanfaren. Ein Königsmantel. Eine Frau, die mit hartem Griff in Besitz genommen wird. Der Thron gleitet herab, der Hof von Dänemark feiert sein neues Königspaar.

Wenig später kriecht ein dünner, junger Mann mit wirren Haaren auf einen anderen Gegenstand zu, begleitet von einer schwermütigen, fragmentierten Cello-Kantilene: eine Aschenurne. Ein Narr hat das Symbol des Todes, der Vanitas gebracht. Ein Narr, der immer wieder durch die Szene Hermann Feuchters huschen, geistern, schreiten wird. Andrew Nolen verkörpert eindrucksvoll diese – bei Thomas so nicht vorgesehene – Figur der Weisheit, aber auch der Nichtigkeit aller irdischen Gewissheiten. Seine Zweifel, sein Witz löschen alles, was Endgültigkeit für sich beansprucht. Auch die Macht.

Und dass es in Ambroise Thomas‘ selten gespielter, vor fast 150 Jahren in Paris uraufgeführter Oper um Macht geht, daran lässt Helen Malkowsky in Krefeld keinen Zweifel. Die Regisseurin ist in der Region nicht unbekannt. Sie hat in Essen an der Folkwang Universität der Künste mit Brittens „Turn of the Screw“, in Krefeld-Mönchengladbach mit „Stiffelio“ und „Mazeppa“, in Bielefeld mit „Peter Grimes“ ausgezeichnete Arbeiten vorgelegt. Szenisch virtuos deutet sie die düstere Geschichte über Königsmord, unschuldige Opfer, Rache, Angst und Wahnsinn als eine Parabel über die Narrheit und Vergeblichkeit der Macht.

Surreales Arrangement von Chiffren der Macht: Andrew Nolen als Geist und Rafael Bruck als Hamlet. Foto: Matthias Stutte

Surreales Arrangement von Chiffren der Macht: Andrew Nolen als Geist und Rafael Bruck als Hamlet. Foto: Matthias Stutte

Der Thron des Anfangs, reduziert auf einen noblen Stuhl, setzt in grellem Licht den Schlusspunkt des Dramas. Die Symbole der Macht, Thron und Königsmantel, in ein surreales Bild drapiert, spucken den Geist von Hamlets Vater aus. Er fordert den Sohn zur Rache an seinem Bruder Claudius auf, der ihn ermordet, Herrschaft und Gattin usurpiert hat. Ein jenseitiger Bote? Eine Stimme aus dem Inneren des bleichen, hohläugigen jungen Mannes, dessen psychische Verletzungen wir nur erahnen und in seiner Musik erlauschen können?

Hamlet jedenfalls „macht“ sich sein Bild, worauf in Hermann Feuchters shakespearianisch klug reduzierter, spielfreundlicher Bühne ein goldener Rahmen im Hintergrund hinweist. In ihm materialisiert sich nicht nur der Geist, aus ihm quellen auch die Gestalten, die den „Mord des Gonzaga“ in der Schlüsselszene im zweiten Akt spielen sollen – eine Pantomime, die König Claudius durch Konfrontation als Mörder seines Vorgängers entlarven soll.

Später vervielfältigen sich die Bilderrahmen und kippen in die Schräge – Zeichen des fortschreitenden inneren Abrutschens Hamlets. Sterben, Schlafen … oder Träumen, so singt der Bariton Rafael Bruck in der Titelrolle in seinem großen Monolog. Dass sich aus einem schräg gestellten Portal eine Gestalt löst wie ein Schatten Hamlets, ist nur folgerichtig: Es ist der König. Schwer trägt er an seinem Thron, schleppt ihn hinter sich her – ein gebrochener Mann. Matthias Wippich singt von der Qual, die Seele dem ewigen Tod preisgegeben zu haben. Das Englischhorn, das Hamlets innere Melancholie begleitet, lässt in einem kurzen Moment die Elegie des drei Jahre vor Thomas‘ Oper in München uraufgeführten „Tristan“ erahnen.

Sophie Witte als Ophèlie in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Sophie Witte als Ophèlie in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Mit besonderer szenischer Sorgfalt widmet sich Helen Malkowsky den Frauen des Stücks: Ophélie ist keine Shakespeare-Figur, sondern ganz femme fragile des 19. Jahrhunderts. Mit ihrer kindlichen Gestalt, den nackten Füßen, den gelösten blonden Haaren und den im Licht undefinierbaren Pastellfarben ihres Hemdchens erinnert sie schon beim ersten Erscheinen an die „Willis“, jene Wasserwesen, bei denen sie im Tode aufgenommen werden will. Im herrschaftlichen Kleid, das ihr Susanne Hubrich im Rot der Schauspielertruppe geschneidert hat, unternimmt sie einen letzten Versuch, den liebesunfähigen Hamlet umzustimmen. Im vierten Akt, bevor sie ins Wasser gleitend verlischt, lässt sie das Gewand in die Requisite hinaufziehen. Sophie Witte als beste Stimme des Krefelder Opernabends zeigt alles andere als einen fragilen Sopran. Sie stützt sicher, agiert mit dem klanglichen Kern, schattiert von anrührender Leichtigkeit bis erfülltem dramatischem Impetus und trägt die Phrasierung unverbrüchlich auf dem Atem.

In psychologischen Facetten durchdacht gestaltet Malkowsky auch die Konfrontation zwischen Hamlet und seiner Mutter Gertrud. Im intensiven Spiel und den Farben seiner kühlen, in den exorbitanten Höhen der Partie überaus geforderten Stimme zeigt Rafael Bruck, wie ihn der Zwiespalt innerlich zerreißt: Mutter und Mörderin, Anziehung und Ablehnung, Respekt und Rache – die Pole der Begriffe, die Hamlet sich von dieser Frau macht, sind extrem. Bruck kann auch in seiner Körpersprache mit schauspielerischer Bravour ausdrücken, was in der Seele Hamlets vorgeht.

Janet Bartolova gibt der Gertrude beinahe die Züge einer Klytämnestra, wenn sie, hochfahrend und zerknirscht, angstvoll und liebesbettelnd allmählich erkennen muss, welch ungeheure Andeutungen ihrem Sohn über die Lippen kommen. In diesen Momenten passt der zum Schrillen neigende Ton des dunkel gefärbten Soprans, an anderen Stellen muss Janet Bartolova kämpfen, die Stimme weit und den Ton flüssig zu halten.

Ambroise Thomas auf einer historischen Fotografie von Antoine-Samuel Adam-Salomon, entstanden zwischen 1876 und 1884.

Mit den Niederrheinischen Symphonikern setzt GMD Mihkel Kütson weniger auf die elegante Seite der Musik von Ambroise Thomas, sondern schärft die expressiven Kanten. Das bedeutet auch die Sänger gefährdende Wucht aus dem Graben, ist aber ein Gewinn: Zupackend musiziert, ist die Klangsprache aus schönfärbendem Lyrismus befreit. Bei Kütson haben etwa die Einsätze der Hörner Kontur, die vortrefflichen Holzbläser (Klarinette) ziehen ihre melodischen Linien unverzärtelt durch, das sfumato der Stellen, die an Gounod erinnern, ist spröde gelichtet.

Momente wie die gruslige Spannung der Ouvertüre, der fahle Pomp der Staatsszenerie oder die orchestralen Verzweiflungsschreie Hamlets gelingen ausdrucksstark und zeigen, dass Thomas‘ Musik nicht in die Untiefen lyrischer Belanglosigkeit schwappen muss. Kütson trägt auch den von Michael Preiser einstudierten Chor und die Sänger – unter ihnen Haik Dèinyan als Mord-Mitwisser Polonius und Carlos Moreno Pelizari als herausgeputzten Laertes in goldener Brünne.

Das Theater Krefeld-Mönchengladbach hat stets eine glückliche Hand bei seinen Ausgrabungen und Trouvaillen (am 12. Januar etwa läuft zum letzten Mal Gian-Carlo Menottis „Der Konsul“) und macht mit diesem „Hamlet“ der letzten, psychologisch klugen und bildstarken Inszenierung von Andrea Schwalbach 2015 in Bielefeld kraftvoll Konkurrenz.

Vorstellungen in Krefeld am 29. Dezember, 9., 14., 28. Januar und 7. Februar 2018. In der nächsten Spielzeit ab 24. November 2018 in Mönchengladbach.
Info: http://theater-kr-mg.de/spielplan/inszenierung/hamlet/




Heilige oder Rächerin: Elisabeth Stöpplers „Norma“ aus Gelsenkirchen nun in Mainz

Von Pollione (Joska Lehtinen) bedrängt: Adalgisa (Marie-Christine Haase). Foto: Andreas Etter

Von Pollione (Joska Lehtinen) bedrängt: Adalgisa (Marie-Christine Haase). Foto: Andreas Etter

Ein aussichtsloser Konflikt, von Anfang an. Noch ist alles in der Schwebe, zu Beginn der Oper „Norma“ von Vincenzo Bellini. Der Status Quo ist prekär, aber gefestigt. Die zur Keuschheit verpflichtete Priesterin der Gallier kann seit Jahren ihre beiden Kinder verbergen. Und ihre Liebe zum Feind ebenso, denn der Vater ist kein anderer als der römische Prokonsul Pollione, der die verhassten Besatzer anführt. Noch kann Norma den bewaffneten Konflikt verhindern, aber dann eröffnet ihr die junge Novizin Adalgisa eine schockierende Erkenntnis …

Bellinis Oper hat in den letzten zehn Jahren eine bemerkenswerte Wiederkehr auf deutschen Bühnen erlebt. Ausweglos gefangen zwischen den Erwartungen und Tabus einer nach Kampf und Krieg gierenden archaischen Gesellschaft und der gescheiterten Liebe zu einem Mann, der ihr Volk unterdrückt, hat Norma mehr zu bieten als den Selbstzweck ebenmäßiger Legati und perfekt geformter Koloraturen.

Die Nähe dieser zerrissenen Frau zur gedemütigten Kindsmörderin Medea ist oft beobachtet worden. Wohin sich Norma wendet, ob sie kompromisslose Rächerin oder heroisches Opfer wird, bleibt bis zum letzten Moment offen. Und dazwischen liegen zwei Stunden eines inneren Konflikts, der in seiner ganzen Unerbittlichkeit und Ratlosigkeit von der Musik und der Dichtung Felice Romanis in wichtigen psychologischen Facetten ausgebreitet wird.

Jossi Wieler und Sergio Morabito haben in ihrer legendären Stuttgarter Inszenierung 2002 in erschütternden, schlüssigen Bildern Bellinis Oper endgültig aus dem Mief plüschiger Historisierung befreit, ohne ihr eine zwanghafte Aktualisierung aufzudrücken. Das hatte Jorge Lavelli schon 1983 in Bonn vor, ist aber mit Mara Zampieri als Revoluzzerin auf einem Lastwagen längst nicht so gut gefahren.

An Rhein und Ruhr gab es in den letzten Jahren mehr (Dortmund, Bonn) oder weniger (Düsseldorf) überzeugende Versuche, sich Bellinis nach eigenem Bekunden bester Oper zu nähern. In der letzten Spielzeit hat sich dann Elisabeth Stöppler in Gelsenkirchen in Hermann Feuchters abstraktem Bühnenraum ganz auf die Personen fokussieret. Norma ist das Kraftzentrum, um das sich alle drehen.

Nadja Stefanoff als hoheitsvolle Priesterin. Foto: Andreas Etter

Nadja Stefanoff als hoheitsvolle Priesterin. Foto: Andreas Etter

Jetzt hatte die Produktion am Staatstheater Mainz Premiere, wo Stöppler als Hausregisseurin Stil und Spielplan prägen kann – und das nicht zum Nachteil eines in dieser Spielzeit besonders vielfältigen Angebots. Noch stärker als im Musiktheater im Revier konzentriert sie sich auf die Beziehungen der Personen, schwächt Nebenwege wie eine angedeutete homoerotische Verbindung zwischen Pollione und seinem Offizier Flavio ab, arbeitet vor allem Normas Schwanken zwischen impulsiver Liebe zu ihren Kindern und kalkulierender Berechnung ihrer Rache deutlich heraus. Geblieben sind die von Flavio (wie in Gelsenkirchen: Lars-Oliver Rühl) hervorragend rezitierten, den Gang des Stücks zerreißenden Texte von Pier Paolo Pasolini: bewusst gelegte Stolpersteine, die aber eher stören als vertiefen. Geblieben sind auch szenische Symbole wie das nackte Opfer, das am Anfang schon die Sichel am Hals spürt, dann aber von Norma erlöst wird. Ein anrührendes Bild vom Verletzlichkeit und Ausgesetztsein.

Dass in Norma am Ende die Menschlichkeit siegt, wird nicht heroisiert, sondern wirkt fast, als sei ihre Kraft letztendlich erschöpft. Zu Beginn die Hohepriesterin in nachtblauem, langem Kleid, zeigt das Kostüm (Nicole Pleuler, sonst mit nicht immer glücklicher Hand) Normas Wandel zur Kämpferin und schließlich zum idealisierten Opfer. Nicht Norma selbst stilisiert sich dazu: Statt auf dem Scheiterhaufen zu sterben, wird sie von der Gesellschaft im weißen Ornat einer Heiligen erhoben.

Nadja Stefanoff, die Mainzer Norma, spielt mit hoheitsvoll schlanker Gestalt die Facetten der Rolle aus – mit erheblichem Stimm-, aber auch Körper-Einsatz: von der selbstbewussten Priesterin bis zur gebrochenen Frau, von der wild entschlossenen Rache bis zum selbstzerstörerischen Aufgeben. Musikalisch beglaubigt Stefanoff ihre Rolle weniger durch flexibel-weichen Schöngesang, sondern eher durch einen kalt glänzenden, ausdrucksstarken, dynamisch facettenreichen Ton, der auf seelische Schwankungen reaktionsschnell eingeht und sie – technisch abgesichert – im Klang vernehmbar macht. Eine Norma, die man so schnell nicht vergisst.

Die Adalgisa der Marie-Christine Haase hat gegen so viel Dominanz keine Chance. Stimmlich ist sie der Partie – die der kritischen Rekonstruktion der Urfassung gemäß einen leichten Sopran vorsieht – vollkommen gewachsen. Aber die Regie Elisabeth Stöpplers gesteht ihr wenig eigenes Gewicht zu, trotz der wundervollen Duette der beiden Frauen. Die Nebenrolle der Clothilde, der eingeweihten Dienerin Normas, ist in ihr aufgegangen – das lässt den Aspekt der Freundschaft zu Norma hervortreten. Auch Oroveso, der Vater Normas, hat wenig eigenständiges Gewicht; Dong.Won Seo mit einer rauen, dem Ideal des „basso cantante“ nicht eben gewogenen Stimme, ist nicht der Sänger, der die Figur aus sich heraus wachsen ließe.

Bleibt Pollione, der Urheber des Konflikts: Joska Lehtinen gibt ihm den eindimensionalen, leicht gaumig gefärbten Ton, der einem auf den ersten Blick ziemlich einfältigem Macho angemessen ist. Auf den zweiten Blick hätte man sich für die gespenstische Traumschilderung von „Meco all’altar di Venere“ mehr Farbe, für den verhärteten Trotz des Finales mehr Furor gewünscht. Was von diesem Mann zu halten ist, macht Stöppler am Ende deutlich: Er stiehlt sich einfach davon.

Sebastian Hernandez-Laverny hat mit dem Chor des Staatstheaters eine gewaltige Aufgabe achtbar gemeistert, auch wenn die Stimmgruppen Mühe haben, sich zu koordinieren, wenn die Sänger über die ganze Breite der Bühne hoch oben auf einer Brüstung stehen müssen. Das Philharmonische Staatsorchester offenbart wenig Schwächen, aber auch wenig Subtilität im Ton. Clemens Schuldt dirigiert wie viele andere eine rasche Ouvertüre und differenziert die Tempi nicht, wodurch der gerade Takt Bellinis in die Nähe eben jener „Leierkastenmusik“ rückt, die der italienischen Oper der Zeit gerne unterstellt wurde.

Wenn Schuldt die Sänger zu begleiten hat, lässt er das Orchester immer wieder zu laut spielen, lässt sich aber auf den Atem der „melodie lunghe“ ein, phrasiert sinnig und arbeitet vor allem die instrumentalen Details heraus, die in der kritischen Fassung für farbige Nuancen sorgen. Dass die Tutti arg knallig wirken, ist nicht nötig; das Martialische stellt Bellini nur im berühmten „Guerra“-Chor aus. Elisabeth Stöppler ist in Mainz eine starke Antwort auf die ambitionierte „Norma“ von Gabriele Rech am anderen Ufer des Rheins, in Wiesbaden (2015), gelungen.

In dieser Spielzeit hat Bellinis „Norma“ noch in Essen (8. Oktober) und in Nürnberg (13. Mai 201) Premiere. Weitere Vorstellungen in Mainz am 1. und 9.Oktober, 1., 17. und 20. November.

Info: www.staatstheater-mainz.com/web/veranstaltungen/oper1617/norma




Dem Himmel ganz nah: Martin Heckmanns` „Es wird einmal“ in Bochum uraufgeführt

Foto: Thomas Aurin

Foto: Thomas Aurin

Wer sich schon einmal an einem Theater beworben hat, fühlt sich sofort erinnert: Kurze Begrüßung durch eine hektische Assistentin, dann stundenlanges Warten in der Kantine. Danach eine Referentin knapp vor dem Burn-Out, die einem das gleiche Schicksal in Aussicht stellt, falls „Er“ sich für einen entscheiden sollte.

Dann wieder Kantine, drei Cola, erster Weißwein, weiter warten, Schauspieler in Maske kommen rein, Vorstellung fängt gleich an. Chefdramaturgin: „Er“ sei manchmal sehr schwierig, ob man da gute Nerven habe? „Er“ wolle einen vielleicht später noch kennenlernen, ob man nochmal kurz in der Kantine? Zweiter Weißwein, dritter Weißwein, Anruf: Heute werde es leider nichts mehr mit „Ihm“, vielleicht morgen…Schauspieler kommen rein, Vorstellung ist aus, Absacker, Vorhang.

Nein, die Szene stammt nicht aus Martin Heckmanns neuem Stück „Es wird einmal“, das jetzt am Bochumer Schauspielhaus uraufgeführt wurde. Sie ist selbst erlebt, doch das Anfangsszenario auf der Bühne ist ähnlich und die Satire geht in die gleiche Richtung: Zwei Schauspieler haben eine Einladung zum Vorsprechen bei „Obermann“ bekommen und begegnen sich auf einer leeren Probebühne. Sie treffen die namenlose Hospitantin (Kristina Peters), sie werden kujoniert von einer übermotivierten Assistentin (Minna Wündrich), sie treten in Konkurrenz mit einer Schauspiel-Kollegin (Therese Dörr) und verlieben sich in sie, sie zeigen viel Seele und geben alles: Doch „Obermann“ treffen sie nie.

Das ist fein und böse beobachtet, sprachlich brillant und doch erschöpft sich Heckmanns Text in der Inszenierung des Bochumer Intendanten Anselm Weber keineswegs in einer Satire über den Theaterbetrieb. Denn „Es wird einmal“ ist zugleich eine moderne Fassung des „Jedermann“. Die Bewerbung um eine unbekannte Rolle in einem unbekannten Stück ist zugleich eine Allegorie auf das Leben. Der Text muss erst noch geschrieben werden, die Konsequenzen des Handelns sind nicht immer klar.

Gott, falls es ihn gibt, lässt sich nicht blicken, nur manchmal hat man das Gefühl, er schaue von oben zu – wie Obermann. „Zufall ist das Pseudonym Gottes, wenn er nicht unterschreiben will“, heißt das in der Sprache Heckmanns und die namenlose Hospitantin schlüpft mit umgeschnallten Engelsflügelchen in die Rolle des Zufalls. Ansonsten sind sie und die intendantenhörige Assistentin Dora als balletttanzende Skelette zu sehen, ein Memento Mori für den älteren Schauspieler Hermann Schwinder (Günter Alt) und den Jüngeren Martin Neumann (Matthias Kelle), der sich mit der Rolle des Jedermann noch nicht anfreunden kann.

Foto: Thomas Aurin

Foto: Thomas Aurin

Denn eigentlich schimpft Neumann/Jedermann sich Performancekünstler und als solcher möchte er dem Theater wieder gesellschaftliche Bedeutung verleihen: „Wir thematisieren den Raum und die Institutionen, die Abhängigkeitsverhältnisse, in denen wir uns bewegen, auch wenn wir uns jetzt hier bewerben, um Anerkennung von Unbekannten.“ Statt dessen wird er als nackter Mann über die Bühne gejagt (was Matthias Kelle so großartig verletzlich absolviert, dass man fast Mitleid mit ihm hat) und bekommt am Schluss eine Plastiktüte von Sinn&Leffers als Unterhose verpasst.

„Das Problem mit nackten Männerkörpern auf der Bühne ist allerdings, dass sich die Aufmerksamkeit des Betrachters meist auf einen Punkt fokussiert“, dichtet Heckmanns und der Punkt geht an ihn, denn der Satz hat nichts Banales, entlarvt er doch die Blickrichtung der Zuschauer in den letzten zehn Minuten. Ein Beweis dafür, dass „Es wird einmal“ klug und vielschichtig gebaut ist und mit Leichtigkeit zwischen den letzten und den oberflächlichsten Dingen oszilliert.

Es entsteht tatsächlich ein „kleines Bochumer Welttheater“, das die Figuren mit existenziellen Fragen von Leben und Tod konfrontiert. Es entlarvt die theaterbetriebseigene Hybris, die Bühne für das Leben zu nehmen und bekräftigt sie zugleich. Denn was sind wir sonst, als Spieler auf einer Lebensbühne? Die nicht wissen, wann und wie sie abtreten müssen? Die nicht wissen, ob ihnen die große Liebe bevorsteht oder die große Verletzung? Die nicht merken, ob Ihnen jemand zusieht oder ob das eigene Schicksal Leuten wie „Obermann“ nicht völlig gleichgültig ist. „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“ – das gewichtige Luther-Zitat fungiert als Motto, aber drückt das Dramolett nicht nieder; es verleiht ihm eine Tiefendimension und lässt Raum für Ironie. Denn auf dem Theater sollte man das Leben leicht nehmen, sonst kann man nicht mitspielen.

Foto: Thomas Aurin

Foto: Thomas Aurin

Unbedingt lobenswert daher die Schauspieler: Günter Alt gibt den älteren Mimen koboldhaft und traurig zugleich. Er hat viel gesehen, viel ertragen und er braucht verdammt nochmal diesen Job. Bei Obermann spielte er auch den dritten Engel von links oder Helmut Kohl, egal. Er muckt nicht mal auf, als am Ende offen bleibt, ob er jetzt stirbt oder engagiert wird – aber vielleicht kommt das ja auch auf dasselbe raus. Minna Wündrich spielt die Assistentin Dora so zickenhaft-intellektuell-überheblich, dass es eine wahre Freude ist und ihre Neigung zum Sadismus gegenüber der namenlosen Hospitantin, die in einer Ohrfeige mündet, wurde auch schon öfter am Stadttheater beobachtet. Kristina Peters wiederrum verleiht diesem bedauernswerten Geschöpf eine charmante Note und viel Spielwitz. Naiv und poetisch legt Therese Dörr die Sophie Sikora an, eine Darstellerin aus der Fußgängerzone, die natürlich auch zaubern kann. Der verkopfte Neumann, gespielt von Matthias Kelle, zeigt zum Schluss Herz und ansonsten nackte Haut (s.o.). Und der Regisseur? Schwierig, jetzt so einen „Obermann“ zu loben, nur soviel: Er vertraut auf dezente Weise dem Text und stülpt ihm nicht allzu viel über, was der Sache gut tut.

Zuletzt eine Frage an den Ausstatter Hermann Feuchter: Das Bühnenbild ist dem „Meeting“–Room des Land-Art Künstlers-James Turrell nachempfunden, zu sehen im MoMA PS1 in Brooklyn, NYC. An den Wänden des leeren Raums verläuft eine durchgehende Sitzbank, durch ein rechteckiges Loch in der Decke kann man den freien Himmel sehen. Fast eine halbe Stunde saß ich letzten Sommer dort und ruhte meine Füße aus, es war sehr friedlich. In Bochum ist dieses Loch allerdings rund und der Himmel eine Projektion. Also doch alles nur Illusion im Theater? Warum nicht gleich die Decke der Kammerspiele durchstoßen und dem Himmel ein wenig näher kommen? Doch was sollen die doofen Fragen, meint Heckmanns: „Kann das Theater nicht einmal aufhören Fragen zu stellen und stattdessen eine Antwort geben?“

Infos und Karten:
www.schauspielhausbochum.de