Uneitle Spielfreude: Mitsuko Uchida und das Mahler Chamber Orchestra begeistern im Konzerthaus Dortmund mit Mozart

Die Pianistin Mitsuko Uchida, Trägerin der „Goldenen Mozart-Medaille“ und des „Praemium Imperiale“, ist seit 2016 Artistic Partner des Mahler Chamber Orchestra (Foto: Justin Pumfrey)

Was hat dieser Wolfgang Amadeus Mozart nicht alles in seine Klavierkonzerte gesteckt! Verschiedenste Welten sind darin enthalten, Biotope eigener Natur, über deren Vielfalt sich nur fassungslos staunen lässt.

In ihnen begegnet uns der Opernkomponist, der Kammermusiker, der Lebemann und der Tragiker, der Konzertpianist und der Sinfoniker. Mit leichter Hand zieht Mozart einen überraschenden Joker nach dem anderen aus dem Ärmel.

Wie schwer das scheinbar Mühelose zu erreichen ist, lassen die Pianistin Mitsuko Uchida und das Mahler Chamber Orchestra im Konzerthaus Dortmund völlig vergessen. Die britische Pianistin japanischer Herkunft, die an diesem Abend zwei Mozart-Konzerte vom Flügel aus dirigiert, steckt alle im Saal mit ihrer überströmenden, gänzlich uneitlen Spielfreude an. Sie befeuert das Orchester, das ihr hellwach folgt: mit schlankem Klang, wenig Vibrato und beredter Agogik. Sie spürt Mozarts Partituren bis in die feinsten Verästelungen nach, meist quirlig vital, in den langsamen Sätzen aber auch mit stiller Wahrhaftigkeit.

Das mit zahllosen Charakteren jonglierende Konzert Nr. 17 G-Dur (KV 453) im Innersten zusammen zu halten ist ein Kunststück, das Uchida mit Leichtigkeit gelingt. Von der entwaffnenden Klarheit und Natürlichkeit ihres Spiels fordert die Position des dirigierenden Solisten aber doch einen kleinen Preis. Der Klang des Flügels, mittig und ohne Deckel im Orchester aufgestellt, büßt etwas an Kontur ein und hat im Dialog mit dem Orchester ein paar Probleme mit der Balance zur Folge.

Am hohen Niveau der Interpretationen kommt gleichwohl kein Zweifel auf. Das Konzert Nr. 22 Es-Dur (KV 482) entzückt mit dem imperialen Ton von Pauke und Trompeten, mit wunderbar empfindsamen Dialogen der Holzbläser und mit der trüb gefärbten, milden Klage im Andante. Uchida steigert sich immer weiter in Mozarts virtuose Läufe hinein: Hier brilliert eine Künstlerin, der es völlig fern liegt, glänzen zu wollen.

Die Deutsche Erstaufführung von Jörg Widmanns Choralquartett in der Fassung für Kammerorchester wirkt zwischen den beiden Klavierkonzerten keinesfalls wie ein Einschnitt. Widmann bezieht sich ausdrücklich auf alte musikalische Traditionen, hier insbesondere auf die „Sieben letzten Worte“ von Joseph Haydn. Das Werk beginnt stockend, mit leisen Einzeltönen und vielen Pausen. Das Mahler Chamber Orchestra zaubert auf der nun dämmrig abgedunkelten Bühne eine dichte, wie vom Nebel umflorte Atmosphäre, die von gelegentlich aufzuckenden Klangeruptionen nicht durchbrochen wird. Flöte, Oboe und Fagott steuern vom ersten Rang herab wunderbare Klangfarben bei.

Vermutlich hat Mitsuko Uchida hinter der Bühne interessiert gelauscht. Mit einem kurzen Stück von Arnold Schönberg zeigt sie in einer Zugabe, dass ihre Sympathien nicht nur Mozart, Beethoven und Schubert, sondern auch der musikalischen Moderne gelten.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Noble Gemessenheit: Mitsuko Uchida und das Mahler Chamber Orchestra in Dortmund

Ein Leben lang mit Mozart vertraut: Mitsuko Uchida. Foto: Richard Avedon

Ein Leben lang mit Mozart vertraut: Mitsuko Uchida. Foto: Richard Avedon

Mitsuko Uchida in Deutschland zu erleben, ist ein exklusives Vergnügen: Eben von einer Tournee aus Japan zurück, konzertierte die Wiener Pianistin mit japanischer Herkunft und Londoner Wohnsitz mit dem Mahler Chamber Orchestra zwei Mal – in Berlin und im Konzerthaus Dortmund.

Im Januar 2017 gibt es Auftritte in Hamburg, München, Frankfurt, im Februar in der neuen Elbphilharmonie – und im Frühsommer im Ruhrgebiet, wenn Mitsuko Uchida ihr Versprechen einlöst, das wegen Krankheit ausgefallene Konzert beim Klavier-Festival Ruhr 2016 im kommenden Jahr nachzuholen.

In Dortmund präsentierte sich die Pianistin mit einem Komponisten, der wie kaum ein anderer die 35 Jahre ihrer internationalen Karriere prägt: Sie dirigierte und spielte die beiden Klavierkonzerte KV 453 und KV 503 von Wolfgang Amadeus Mozart, die sie jüngst mit dem Cleveland Orchestra auch für die CD aufgenommen hat. Ein Programm, das zeigt, wie intensiv sich die Künstlerin ein Leben lang mit Mozart auseinandergesetzt hat – nicht nur mit dem Werk für Klavier, sondern zum Beispiel auch mit den Opern, die sie sich studierend angeeignet hat. So ist ihr das „Sprechende“ in Mozarts absoluter Musik ebenso vertraut, wie sie das „Absolute“ in seiner Bühnenmusik wiedergefunden haben dürfte.

In ihrem aktuellen Mozart-Spiel bleibt Mitsuko Uchida, betrachtet man es im Spannungsfeld zwischen diesen Polen, eher auf der Seite des „Absoluten“. Rhetorische Überraschungsmomente, humorvolle Zuspitzungen, der Aufbau drängender Spannung sind ihre Sache nicht. Auch flottes Tempo und energischer Drive, mit denen ein Modedirigent wie Teodor Currentzis gerade seine Gemeinde entzückt, fallen bei ihr nicht ins Gewicht. Uchidas Mozart ist einer der noblen Gemessenheit, der lichtvollen Balance, der Vertiefung ins Detail wie in den großen Atem.

Der Weg zur Verinnerlichung öffnet sich

Dabei gäbe ein Konzert wie das in G-Dur die Gelegenheit, opernhafte Rhetorik auszuspielen, mit Chromatik, Moll-Trübungen, arios ausschweifenden und rhythmisch strikten Momenten zu jonglieren. Im ersten Satz lässt Uchida das Orchester den starren Marschrhythmus betonen, dem sich das Soloinstrument erst einmal unterwirft, bis es sich in aparten Verzierungen und melodischer Selbständigkeit emanzipiert. Frisch und offen bleibt der Ton, kein Grübeln verschattet diesen Einstieg.

Erst das ausdrucksvolle Andante öffnet den Weg zur Verinnerlichung: Sehr weit geatmet, elegisch in der Haltung, von ätherischen Holzbläsern flankiert, vertieft sich Mitsuko Uchida in die Kantilenen, spielt so selbstvergessen, als stünde ein Romantiker wie John Field neben ihr. Das Mahler Chamber Orchestra wirkt hin und wieder unentschieden, als seien sich die Musiker über das Tempo nicht sicher; entsprechend vorsichtig klingt die Phrasierung. Hat sich die Pianistin da in Träumerei verloren? Der Finalsatz baut zunächst keinen Kontrast auf, wirkt wie ein gemüthaftes Tänzchen für ältere Herrschaften, ohne das „Feuer“ des dreißigjährigen Mozart. Uchida scheint Empfindung zu fordern, erreicht erst im Presto eine durch Noblesse gedämpfte Energie.

Der Weg zur Beethoven zeichnet sich ab

Auch das C-Dur Konzert (KV 503) kommt in der Haltung eher bedächtig daher. Unverkennbar soll die pompöse Eröffnung auf Beethoven vorausweisen; Die Pianistin bildet mit ihrem gebremsten, fast schon trocken-brillantem Spiel einen reizvollen Kontrast zu dem ausdrucksgeladenen, symphonisch gedachten Orchester. Aber Mitsuko Uchida wäre nicht die intime Kennerin Mozarts, verfolgte sie nicht einen subtilen Plan. Der offenbart sich spätestens im Andante, wenn sie die expressive Orchestersprache auf den Flügel überträgt, in einer atemberaubend vielschichtigen Phrasierung und mit der Nuancierung einzelner Töne jeden Takt mit Ausdruck gewichtet. Das Finale ist mit vollsaftigen Bläserfarben und dem auftrumpfenden Solopart wieder ein deutlicher Fingerzeig auf den Bonner, der zehn Jahre nach Mozarts Tod zu seiner einzigartigen Wiener Karriere durchbricht.

Was für ein vorzügliches Ensemble das Mahler Chamber Orchestra ist, war in der Region schon häufig zu erfahren. Mit Béla Bartóks Divertimento für Streichorchester bestätigen die Musiker ihren Ruf voll und ganz. Eine innere Übereinstimmung, eine auserlesene Spielkultur, ein souveräner Wille zum Ausdruck – hörbar in jedem Moment einer fabelhaft konzentrierten Interpretation, die das untergründig Lauernde, die verstörenden Verschattungen in dieser scheinbar so unbeschwerten Musik ebenso freilegt wie ihre kraftvolle Dynamik, ihre rhythmische Lebenslust und ihre spritzige Freude an der Farbe. Grandios!




Gleißende Hysterie: George Benjamins Oper „Written on skin“ im Konzerthaus Dortmund

Konzerthaus Dortmund. Written on Skin. Von und mit George Benjamin. © Pascal Amos Rest

„Written on Skin“ – der britische Komponist George Benjamin dirigiert das fulminante Mahler Chamber Orchestra. Foto: Pascal Amos Rest

Das Beste kommt zum Schluss. Ein Musikdrama, das uns wie ein wirbelnder Strudel verschlingt. Mit erstklassigen Sängern, die vor keiner emotionalen Entäußerung zurückschrecken. „Written on skin“ – George Benjamins Oper entpuppt sich als ein Stück gleißender Hysterie, als Schwester der „Elektra“ oder des „Wozzeck“. Die Aufführung im Konzerthaus Dortmund ist eine Herausforderung fürs Publikum – und wird mit Jubel belohnt.

Der Brite Benjamin steht selbst am Pult des höchst intensiv spielenden Mahler Chamber Orchestra, dirigiert gewissermaßen mit körperlichem Understatement, gleichwohl ungeheuer präzise. Er ist charmanter Vertreter einer neuen Musik, deren stetiger Fluss uns bannt, weil nichts dahinplätschert. Zuweilen rütteln eruptive Klangballungen auf, immer fasziniert die Vielfalt instrumentaler Farben. „Written on skin“ wird so zum Höhepunkt der dreitägigen Zeitinsel, die das Konzerthaus dem Komponisten gewidmet hat.

Benjamin ist ein Musiker, der viel schreibt und ebenso viel verwirft. Seine Skizzenblätter übertreffen deutlich das gedruckte Werk. Etwa 40 Kompositionen in 40 Jahren sprechen die Sprache eines äußerst skrupulösen Künstlers. „Written on skin“ entstand 2012, sechs Jahre nach seiner ersten Oper, „Into the little hill“, eine moderne Fassung des „Rattenfängers von Hameln“; sie war ebenfalls im Konzerthaus zu erleben.

Der "Beschützer" (Christopher Purves, l.) blickt auf die Kunst des Malers (Tim Mead). Agnés (Barabara Hannigan) schaut gleichfalls interessiert. Foto:  Pascal Amos Rest

Der „Beschützer“ (Christopher Purves, l.) blickt auf die Kunst des Malers (Tim Mead). Agnés (Barabara Hannigan) schaut gleichfalls interessiert. Foto: Pascal Amos Rest

Für Benjamin gilt aber auch das akribische Bemühen um die Weiterentwicklung seiner Ausdrucksmittel. Für „Written on skin“ etwa setzt er als charakterstarke Farbe eine Kontrabassklarinette ein, mischt Harfen- und Banjoklang, verweist mit einer Glasharmonika in sphärische Weiten, blickt mit einer Viola da Gamba auf alte Zeiten.

Denn die Geschichte, die hier verhandelt wird, fußt auf einer Sage des 13. Jahrhunderts. Ein Maler soll all die Herrlichkeit eines hohen Herrn aufs Papier, damals noch „auf die Haut“, bannen. Der Künstler verführt die Frau des Hauses, der gekränkte Gatte reißt dem Nebenbuhler das Herz heraus und zwingt seine Frau es zu essen. Die stürzt sich aus dem Fenster.

Ein archaischer, blutrünstiger Stoff, den Benjamin und Librettist Martin Crimp in die Moderne überführt haben. Drei zynische Engel schaffen eine brutale Welt, der hohe Herr gilt als „Beschützer“ seiner Frau Agnés, entpuppt sich indes als fieser Sklavenhalter. Agnés‘ Zorn, Trotz, Widerstand und Betrug wird durch die Verführungskraft des Malers genährt. Benjamin hat die Rolle mit einem Counter besetzt, und wenn sich die Stimme Tim Meads mit dem Wundersopran Barbara Hannigans vereint, scheint das emotionale Zentrum der Oper erreicht. Doch erst ihr Ehebruchgeständnis ist der eigentliche Kulminationspunkt. Hannigan wächst zur Rachefurie, das Orchester schreit und überwältigt mit grausamen Schlägen.

Nicht minder ausdrucksstark singt Christopher Purves den „Beschützer“ seiner Frau, ein zynischer Machtmensch, der sich selbst am meisten gefällt, der manchmal aber nur dasitzt wie ein geprügelter Hund. Es ist nicht zuletzt diese Mimik, abgeleitet aus der emotionalen Urgewalt der Musik, die uns auf die Stuhlkante treibt. „Written on skin“ ist Beispiel dafür, dass die komponierende Avantgarde durchaus zur Darstellung des Sinnlichen fähig ist. Mag George Benjamin auch einer jener Künstler sein, die ihr Werk akribisch konstruieren, ist diese Oper alles andere als ein um sich selbst kreisendes Konstrukt. Theater wie Bonn und Detmold haben sich ihrer angenommen, andere Häuser sollten den Mut aufbringen, ihr oft eingefahrenes Repertoire zu erweitern. Es lohnt sich.

(Der Text ist zuerst in ähnlicher Form in der WAZ erschienen.)




Atem seliger Liebe: Daniel Harding und das Mahler Chamber Orchestra in Essen

Daniel Harding. Foto: Julian Hargreaves

Daniel Harding. Foto: Julian Hargreaves

Beim Leipziger Mahler-Fest vor fünf Jahren hinterließ Daniel Harding mit dem Mahler Chamber Orchestra nicht eben den besten Eindruck: Er ebnete die schroffen Gegensätze, das Verstörende und das Heitere der Vierten Symphonie in einer gekonnt brillanten Darstellung ein. Anders nun in Essen: In der „Auferstehungssymphonie“ in der Philharmonie kam ihm der Blick auf die Einheit der Musik entgegen.

Denn Mahlers Zweite vereinigt zwar die heterogenen Formen der musikalischen Traditionen ihrer Zeit. Rudolf Stephan nennt in seiner Analyse „hohe“ und „niedere“ Musik, Instrumentales und Vokales, Sonate und Volkslied, Choral und Ländler. Aber die Symphonie, und das macht Daniel Harding in seiner schlüssig-geschlossenen Darbietung deutlich, schöpft ihre Wirkung weniger aus grellen Gegensätzen, sondern aus dem Sog, der zum Finale führt: „Aufersteh’n, ja, aufersteh’n wirst du“ verkünden da der mit wundervollem Piano ansetzende Chor der Mahler Chamber Orchestra Academy und der aufblühende Sopran Christiane Kargs.

Allenfalls hätte der Ausbruch des Ekels im dritten Satz greller tönen, radikaler formuliert sein können. Die wundervoll schwebenden Streicher-Pianissimi des Mahler Chamber Orchestra – in riesiger Besetzung –, die elegischen Holzbläser-Soli banden sich eher an den lyrischen zweiten Satz als einen Kontrast zu betonen. Aber sie entsprechen andererseits der „ruhig fließenden Bewegung“, die Mahler für den mittleren seiner fünf Sätze fordert.

So mag die Prater- und Zirkusmusi noch so grinsend stampfen und blasen: Der große Atem, den Harding unverstellt strömen lässt, führt letztendlich zu Liebe, seligem Wissen und Sein, wie Mahler in seinem ursprünglichen „Programm“ schreibt. Dass Harding auch die „Totenfeier“ des ersten Satzes, ursprünglich als „symphonische Dichtung“ gedacht, in diese Bewegung eingebunden sieht, ist nur konsequent.

In seiner klugen Einteilung dynamischer Wirkkräfte hat Harding für die Apotheose des letzten Satzes mit Glocken und Orgel noch Reserven gelassen. Entsprechend monumental stellen das Mahler Chamber Orchestra und der von Alexander Eberle einstudierte Chor diesen Gipfelpunkt aus. Auch Bernarda Finks Alt preist mit freiem Ton den Weg vom Tod zum Licht.

Der Schmelz des Mahler Chamber Orchestras lässt keine Schlacken zu: Die Explosionen des Trauermarschs im ersten Satz ereignen sich glühend homogen, die brucknerisch anmutenden Streicher-Idyllen meiden sprödes Kräuseln. Holz und Blech strahlen ganz locker Zaubertöne in den Raum. Und zu Beginn zeigen die Kontrabässe mit entschiedenem Schritt: Bei Mahler geht es um alles andere als um verzärtelte Idyllen. Die sind, wenn sie erscheinen, immer nur Erinnerung an das Ersehnte: Erlösung.




Entfesselter Meister: Martin Grubinger und das Mahler Chamber Orchestra in Dortmund

Der Schlagzeuger Martin Grubinger, geboren im Mai 1983 in Salzburg, ist bekannt für seine Vielseitigkeit und Virtuosität (Foto: Felix Broede)

Der Schlagzeuger Martin Grubinger, geboren im Mai 1983 in Salzburg, ist bekannt für seine Vielseitigkeit und Virtuosität (Foto: Felix Broede)

Das Mahler Chamber Orchestra ist kein Kammerorchester. Nicht die Besetzungsgröße, die hundert oder mehr Köpfe umfassen kann, sondern das Selbstverständnis der Musiker spiegelt sich im Namen. Das genaue Zuhören, das aufeinander Lauschen, das sie von ihrem Gründervater und Spiritus Rector Claudio Abbado gelernt haben, ist zur prägenden Grundhaltung geworden. Die aus vielen Nationen Europas stammenden Musiker agieren mit einer Aufmerksamkeit, als spielten sie höchstens im Sextett.

Hier, im Konzerthaus Dortmund, finden sich noch fast kindliche Gesichter in ihren Reihen. Es sind Mitglieder der „MCO Academy“, die am Orchesterzentrum in Dortmund auf das Leben als Berufsmusiker vorbereitet werden. Claudio Abbado hätte diese Weitergabe von Tugenden und Traditionen gewiss gefallen. Ihm, der am 20. Januar in Bologna verstarb, widmet das Mahler Chamber Orchestra jetzt seine Konzerte in Essen, Dortmund und Köln.

Der Ungar Peter Eötvös steht dabei als Komponist und Dirigent im Mittelpunkt. Sein jüngstes Werk „Speaking Drums“ für Schlagwerk und Orchester wird zum überragenden, mit tobender Begeisterung gefeierten Höhepunkt des Abends. Das mag zu gleichen Teilen an der effektvollen Komposition liegen wie auch an Widmungsträger Martin Grubinger, dem Schlagzeug-Wunder aus Salzburg. Er wird vom Publikum bereits wärmstens empfangen, als er vor Beginn der Aufführung noch einmal rasch die Anordnung der Instrumente kontrolliert.

Was dann folgt ist Rausch, Spektakel, Artistik und Ekstase. Sprache vermischt sich in „Speaking Drums“ mit Musik: Der Solist rezitiert während des Spiels lustige Nonsens-Gedichte von Sándor Weöres. Vom staunenden Stammeln über rasendes Sprech-Staccato bis zum markigen Urschrei reicht die Ausdruckspalette, die Grubinger mit nachgerade anarchischer Lust auskostet.

Worauf der sportlich wirkende 30-Jährige gerade herum trommelt, ist vollkommen egal. Ob er auf Röhrenglocken hämmert, auf Klangblöcke schlägt, am Xylophon wirbelt, die Trommel rührt, das Tamtam erdröhnen lässt oder das Fell einer Kesselpauke mit bloßen Handflächen traktiert: Alles geschieht mit einer furiosen Begeisterung, einem hundertfünfzigprozentigen Einsatz, der körperlich sichtbar ist und jede Skepsis, jeden Zweifel mit Hurra über den Haufen rennt. In Dortmund kippt unter Grubingers entfesseltem Spiel sogar ein Ständer mit Hi-Hat-Becken von der Bühne. Macht nichts, die Sequenz war zum Glück gerade sowieso zu Ende. Grubinger wirbelt weiter, Virtuose, Clown und asiatischer Kampfkunst-Meister in Personalunion.

Der Ungar Peter Eötvös ist als Komponist und Dirigent einer der führenden Musikerpersönlichkeiten unserer Zeit (Foto: Marco Borggreve)

Der Ungar Peter Eötvös ist als Komponist und Dirigent einer der führenden Musikerpersönlichkeiten unserer Zeit (Foto: Marco Borggreve)

Beinahe wird der weitere Abend darüber zum restlichen Programm degradiert. Das ist schade, denn Eötvös und das Mahler Chamber Orchestra leisten Großes. Sie lassen in den Bläsersinfonien von Igor Strawinsky somnambule Stimmungen auf frühlingshafte Klänge treffen, die geradewegs aus dem heidnischen Russland zu kommen scheinen. Von zitternden Streicher-Tremoli durchwogt, wachsen die „Jeux“ von Claude Debussy zu raffinierter Klangpracht.

An Schmerzgrenzen führt zum Abschluss Olivier Messiaens wuchtiges Orchesterwerk „Chronochromie“. Dissonante Cluster werden in bohrender Lautstärke wiederholt. Durchaus enervierend auch das Chaos der Vogelstimmen, die von 18 Solo-Streichern intoniert werden. Aber die zugleich klare und passionierte Interpretation durch Eötvös und das Orchester machen deutlich, dass es sich bei Messiaens Werk um eine logische Fortschreibung von Debussys „Jeux“ in die Moderne handelt. Obschon vom Publikum schwächer gewürdigt, zählt auch dies zu den Wundern dieses Abends.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Kommende Höhepunkte im Konzerthaus hier )




Benvenuto, Claudio Abbado – die neue Konzerthaus-Saison in Dortmund

Der Dirigent Claudio Abbado kommt nach Dortmund. Foto: Harald Hoffmann/DG

Elf Jahre gibt es nun das Konzerthaus Dortmund, die Philharmonie in Essen feiert 2014 ihr Zehnjähriges. Berühmte Namen und vielversprechende Nachwuchskünstler aus Klassik, Pop, Jazz und Weltmusik haben sich in den beiden großen Musikhäusern des Ruhrgebiets bereits die Klinke in die Hand gegeben. Doch nun ist dem Dortmunder Intendanten Benedikt Stampa für die Saison 2013/14 ein beachtenswerter Coup gelungen: die Verpflichtung des italienischen Dirigenten Claudio Abbado.

Erstmals gastiert der einstige Chef der Berliner Philharmoniker im Revier. Abbado, der nur noch wenige Konzerte gibt, kommt mit dem Mahler Chamber Orchestra (MCO), dessen Gründer er ist. Der Abend soll der Höhepunkt der NRW-weiten MCO-Residenz sein, die 2009 begann. Auf dem Programm am 8. November steht neben anderen Werken Beethovens 6. Sinfonie, die „Pastorale“. Pikantes Detail: Essen, ebenfalls Residenzstätte des MCO, geht in Sachen Abbado-Auftritt leer aus.

Einmal die großen Namen im Blick, verweist Stampa auf die Dortmunder Debüts der Tenöre Rolando Villazón und Klaus Florian Vogt. Neuer Konzerthaus-Exklusivkünstler für die nächsten drei Jahre ist der junge Dirigent Yannick Nézet-Séguin, erstmals tritt die Geigerin Hilary Hahn auf. Neuer Gast im Klassikkarussell à la Westfalen ist das San Francisco Symphony Orchestra unter Michael Tilson Thomas.

Intendant Benedikt Stampa stapelt, all diese Berühmtheiten im Blick, nicht tief. Es sei vielleicht das beste Programm in der Geschichte des Konzerthauses. Darüber ließe sich trefflich streiten. Eine Zeitinsel, die sich mit überwiegend bekannten Werken Antonin Dvoráks beschäftigt, kann mit den vorherigen „Inseln“ der (klassischen) Moderne, mit Kompositionen von Bartók, Messiaen oder Berg, nur bedingt mithalten. Stampa sagt, bei Dvorák käme es auf neue interpretatorische Sichtweisen an. Doch da Deutung sich bei jedem Werk als spannend erweisen sollte, geht das Argument eher fehl.

Indirekt mag Stampa das ähnlich sehen: Schließlich hat das Konzerthaus ein neues Format ins Leben gerufen, das den Titel „Kopfhörer“ trägt. An Hand von Tonbeispielen präsentiert der Musikwissenschaftler Frank Schneider eine kleine Interpretationskunde. Dvoráks berühmteste Sinfonie, die Nr. 9 („Aus der Neuen Welt“), hat er natürlich auch im Gepäck.

Zu der Reihe gesellt sich im übrigen ein gewichtiges Geschwister in Form einer zehnteiligen Vortragsreihe des Musikprofessors Michael Stegemann. „Von Waterloo bis Sarajewo – ein europäisches Jahrhundert im Spiegel der Musik“ wird dann einmal pro Monat aufgeblättert. Solcherart kernige Geisteskost – Ähnliches serviert, wie berichtet, das Essener Aalto-Theater seinem Publikum – ist Teil einer Vermittlungsoffensive, die Benedikt Stampa offenbar besonders am Herzen liegt.

Für ihn bedeutet der kernige Leitsatz „Musik für alle“ nämlich nicht weniger, als das Publikum generationenübergreifend ans Haus zu binden. Besondere Zielgruppe der neuen Education-Reihen seien dabei die Menschen zwischen 35 und 50 Jahren. Stampa ist offenbar überzeugt davon, dass ein alter Werbespruch, hier leicht abgewandelt, noch immer Gültigkeit besitzt: „Man hört nur, was man weiß“.

Nun, das Anliegen ist hehr, und es wird sich zeigen, wieviel Nachfrage besteht in Sachen musikalischer Weiterbildung. Guten Zulauf hat das Konzerthaus indes schon jetzt. Für diese, noch nicht ganz beendete Saison, rechnet Stampa mit einer Auslastung nahe 72 Prozent – eine Quote, die andere Kulturanbieter in Dortmund gerne hätten.

Alle Informationen zum neuen Programm unter www.konzerthaus-dortmund.de