„Stadtbeschreiber*in 2020“ in Dortmund ausgeschrieben – Halbherziges Sponsoring schlägt kluges Mäzenatentum

Erst hatte das Ruhrgebiet gar keinen Stadtschreiber, nun hat es gleich drei, wenn  auch in wechselnder Gestalt: den Stadtschreiber Ruhr, den Straßenschreiber Oberhausen sowie die neu ausgeschriebene Autorinnen- und-Autoren-ABM in Dortmund, die genderkorrekt als „Stadtbeschreiber*in“ etikettiert wurde. Dieses Literaturstipendium ist nicht allzu schlecht ausgestattet, doch wird der/die „Stadtbeschreiber*in“ kräftig ins Korsett von Marketing und Kulturbetrieb geschnürt – wie so viele Stadtschreiber anderswo auch.

Jürgen Brocan bei der Literaturpreisverleihung Ruhr 2016. Foto: Jörg Briese

Jürgen Brôcan bei der Literaturpreisverleihung Ruhr 2016. Foto: Jörg Briese

Es ist erst wenige Tage her, da hat der Dortmunder Schriftsteller Jürgen Brôcan (Literaturpreis Ruhr 2016) hier bei den Revierpassagen in einer Polemik Dortmund eine Stadt genannt, „die auf ihre Schriftsteller sch….“. Eine Abwasserkanalsanierung und der dazugehörige Lärm machten ihm für Wochen jeden Schreibversuch in seiner Wohnung zur Höllenqual. Brôcan konterte mit Lesungsboykott und buchstäblicher Dortmund-Abstinenz:

„Eins weiß ich aber sicher: Ich werde in Dortmund keine Lesung aus meinen Büchern mehr veranstalten – außer der einen bereits vertraglich vereinbarten – und ich werde keine weiteren Texte mehr über diese Stadt schreiben, die ich mehr als einmal zu einer der interessantesten der Welt erklärt habe; denn ein solches Prädikat verdient sie nicht länger.“

Vollmöbliert

Ganz unabhängig davon, aber vor allem um des guten Rufs, sprich: Stadtmarketings willen, möchte die Stadt  Dortmund jetzt eine „Stadtbeschreiber*innen“-Stelle einrichten: „Deutschsprachige Autorinnen und Autoren sind eingeladen, sich bis zum 30. September 2019 zu bewerben, um im Folgejahr sechs Monate in Dortmund zu leben und zu arbeiten.“
Na, wenn das keine Verlockung ist.
„Es wird eine möblierte Wohnung entgeltfrei in der Nähe des Literaturhauses zur Verfügung gestellt (voraussichtlich von Mai bis Oktober 2020). Das Stipendium beinhaltet eine monatliche Zahlung in Höhe von 1.800 Euro. Es besteht Residenzpflicht während der Dauer des Stipendiums.“

Wohnhaft in DO

Über solche Stipendien ist viel gelästert worden. Obwohl Dortmund hier finanziell (brutto!) mehr bietet als viele andere Stadt(be)schreiber-Anbieter des öffentlich subventionierten Literaturbetriebs, drängt sich eine Frage unweigerlich auf: Wie soll z.B. ein verheirateter Autor aus Berlin oder München die laufenden Kosten für Wohnung, Familie, Steuern, Sozialabgaben und Versicherungen am Heimatort noch angemessen bestreiten, wenn Dortmund den Autor gern für ein halbes Jahr ganz für sich allein hätte – und zwar mit Haut und Haar?

„Das Stipendium wird vom Kulturbüro Dortmund in enger Kooperation mit dem Literaturhaus Dortmund vergeben und fördert die Einführung (sic! GH) des/der Stadtbeschreiber/in in die Stadtgesellschaft und die regionale Literaturszene. (…) Eine engagierte Kontaktaufnahme in die (sic! GH) lokale Literaturszene wird vorausgesetzt und unterstützt (mehrere Lesungen – zum Teil mit anderen Autoren/innen, Zusammenarbeit u.a. mit der Volkshochschule Dortmund, der Stadt- und Landesbibliothek, Schulen und weiteren Akteuren/innen der Stadtgesellschaft).“

Solch Über-Forderungskatalog riecht ziemlich streng danach, dass man sich den Stadtbeschreiber als vogelfreien ledigen Knecht vorzustellen hat, der Formen der Selbstausbeutung unter dem Mäntelchen der Literaturförderung bereitwillig hinnimmt. Dem Schrift- als Bittsteller wäre dann wohl deutlich eher Resilienz als Residenz dringend anzuraten.

Abgestandene Aufbruchsrhetorik und Innovationssimulation

Screenshot „Stadtbeschreiber*in“

„Das Stipendium bezieht sich auf die Transformation der Stadt Dortmund vom Produktionsort der Montanindustrie zum Standort von Wissenschaft, IT, Logistik und Dienstleistungen sowie den damit verbundenen ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüchen.“

Gemeint ist wahrscheinlich: Das Schreiben des Stipendiaten soll möglichst Bezug nehmen auf … Doch warum sich mit Sprache abmühen, wenn es um Literatur geht? Wundern kann das nur jene, die nicht ahnen, was alles schiefgehen kann, wenn Politik sich in den Kopf gesetzt hat, Literaten zu fördern oder jene Subventionspoeten, die sie dafür halten. Doch es geht immer noch schlimmer:

„Die Ausschreibung richtet sich an Autor/innen, die sich – nicht im Sinne einer Chronik, sondern in literarischer Form – mit der Transformation des Urbanen und ihren Mentalitätsverschiebungen, alternativen Lebensentwürfen und Sinnkonstruktionen im Wandel auseinandersetzen.“ Dass Autoren sich in literarischer Form auseinandersetzen, hätte man getrost voraussetzen dürfen, aber was genau setzt man voraus, wenn man von „Transformation des Urbanen“, „Mentalitätsverschiebungen“ oder „Sinnkonstruktionen im Wandel“ philosophastert? So schnattern Gänse, die dazugehören wollen, jedenfalls zu jenen Gänsen, die auch so schnattern und auch nicht wissen, was sie eigentlich mitteilen wollen. Siehe dazu auch das Imponiervokabular von Urbane Künste Ruhr oder den Jargon der Peinlichkeit bei Ecce.

Sprachmüll und Impuls-Verleih

Ganz im Nebel des Ungefähren entschwindet die Ausschreibung mit den folgenden Worten: „Ihre schöpferische Qualität soll den Diskursen der Neuen Urbanität aktuelle Impulse verleihen.“ Kürzt man diesen Satz, wird der Bullshit nur umso deutlicher: Qualität soll Diskursen Impulse verleihen! Ja, wenn’s weiter nichts ist. Richtig übel aber dürfte es werden, wenn Kommunalpolitiker und Kulturbeamte irgendwann den Stadtbeschreiber an diesem Sprachmüll messen und also einfordern werden, dass er neben ihrer Aufgeblasenheit auch Selbstgeblähtes medienwirksam vertritt.

No content to go, please!

Es ist aber nicht die Aufgabe der Autoren, der Literatur und Literaturförderung, die Schmiermittel für Wirtschaftsförderung und Politikrepräsentation zu liefern. Stadtwerbung, Marketing-Kompatibilität und daraus notwendig folgende Political Correctness waren noch nie Gütekriterien für Literatur, ganz im Gegenteil. Marketing will immer gelungenen Image-Transfer. Städte möchten in der Außendarstellung gern als jung, dynamisch und zukunftsweisend wahrgenommen werden. Literatur ist dies alles bestenfalls mit ironischem Gestus. Literatur spricht eher übers Scheitern, über Abgründe und Krisenverlierer. Mit Literatur ist kein Staat und keine Stadt zu machen, auch keine sofort lösliche Wirtschaftsförderung.

Literatur nützt einer Stadt nicht unmittelbar; am besten wirbt die noch mit toten Autoren, siehe „Goethestadt Bad Lauchstädt“. Bestenfalls aber nützt es einer Kommune, wenn dort eine ästhetisch wie politisch komplexe Literatur entsteht, gelesen und diskutiert wird. So wächst kritisches Selbstbewusstsein der Bürger. Dies zu fördern, setzt allerdings ein mäzenatisches, also Freiräume für Fantasie schaffendes Verständnis von Kunst und Kultur voraus, damit auch souveräne und sprachfähige Politiker, die wiederum selbst zu fördern bereit wären, was uns alle intellektuell nicht unterfordert.




Die dreiste Markt-Strategie des Iman Rezai oder: Folter ist kein Mittel der Kunst!

Wäre Schweigen in diesem Fall eigentlich Gold? Warum dem Törichten eine öffentliche Plattform bieten?

Die Zeiten, in denen der Kritik das Wahre der Kunst von anderen Waren zu unterscheiden als Kernpflicht oblag, sind längst vorbei. Das System hat neben dem scheinbar reinigenden Meinungsgeblähe der Medien seinen eigenen Filter, um Qualität von, na sagen wir Scharlatanerie zu scheiden. Dennoch, wider den Stachel zu löcken ist im vorliegenden Fall einer unangenehmen Aktion von Iman Rezai angebracht, und zwar bewusst bildlos und linkfrei. Sie macht deutlich, dass eine neue Generation von Biografie-Designern am Werk ist, denen es vor allem um eins geht: PR. Und damit um Kohle. Hierbei sind die eingesetzten Mittel offensichtlich vollkommen zu Werkzeugen dieses Vermarktungssystems verkommen.

Das ist keine Kunst, das ist schlicht degoutant. Iman Rezai, 1981 im iranischen Schiraz geboren, im vergangenen Jahr Abschlusskandidat der Berliner Universität der Künste, tritt mit scheinbar provokanten Aktionen an die Öffentlichkeit. Neuester „Coup“: Er bietet – sofern es nicht ein Fake ist – dem geneigten Probanden zwischen dem 29.11. und 6.12. ein waschechtes Waterboarding an. Also diejenige Foltermethode, mit der das Opfer nicht getötet, sondern durch gewaltsames Untertauchen gequält und zermürbt wird. Diese menschenverachtende Perfidie kam während der Präsidentschaft George W. Bushs durch CIA und andere US-amerikanische Regierungsbehörden bei der Vernehmung von Terrorverdächtigen zum Einsatz und damit breiten Kreisen weltweit zu Bewusstsein.

Betroffenheitsklauseln aus der Hobbykiste

Man kann sich den ganzen hobbytheoretischen Begründungssermon hinter Rezais Pseudo-Polit-Anliegen sehr gut vorstellen. Denn seine PR-Maschine läuft wie geschmiert. In etwa so? „Der Berliner Künstler Iman Rezai kreiert Ausnahmesituationen, in denen Kunstbesucher mit einer Realität konfrontiert werden, die sie ansonsten nur aus den Medien zu kennen glauben…“ Noch ein paar Betroffenheitsklauseln in Fremdwort-Teig geknetet: Fertig ist die „große Kunst“. Besuche man nur die Webseite. Abstruse Sentenzen ummanteln in der Produktwerbung den eigentlichen Zweck mit billigen kulturhistorischen Behauptungen, um die Ausstellung – lasse man sich den verschwurbelten Titel auf der Zunge zergehen – „Die performative Postmoderne als Ausdruck moderner Austerität im Zeitalter der Prekarisierung Edition 1 – Illusion H2O“, in deren Kontext die Aktion stattfindet, zu bewerben. Neben Rezai bespielen zudem fünf weitere Nachwüchsler den Bereich eines Hotels am Checkpoint Charlie. Schaut man sich deren Werk an, wird die Lage auch nicht unbedingt interessanter.

Aktionen für den Boulevard

Wie unendlich differenzierter hat es 2006 Santiago Sierra mit „245 Kubikmeter“ in der von ihm mit Abgasen von sechs Pkw gefluteten Synagoge Stommeln vorgemacht, dass man – schockierend – Kunstbetrachter auf freiwilliger Basis in Extremsituationen bringen kann. Aber hier liegt der Fall anders, weil sinntragend und historisch kontextualisiert und auf die Gegebenheiten hin lokalisiert. Iman Rezai hingegen setzt ausschließlich auf Boulevard. Hinter ihm steht eine Agentur mit Namen „The Coup“, die sich selbst mit den Sätzen „Wir verstehen weder Fashion, Lifestyle noch Kunst als Charitybranchen. Im Fokus steht der Mehrwert und folglich der Profit des Kunden“ anpreist. Und wenn das kein Witz ist, heißt es: Wir verhökern jeden Dreck auf dreckige Weise, wenn’s nur Profit einbringt. Es geht also ausschließlich um Publicity und ums Kasse machen. Wie anders erklären sich die zwei törichten Vorläuferaktionen, mit denen Rezai sich ins Gespräch gebracht hat.

Zwischenruf: Sollen wir uns allen Ernstes an den Zustand gewöhnen, dass Modefotografen als Künstler proklamiert und von ein und derselben Agentur wie Rezai im gleichen sprachlichen Duktus vertreten werden? Der Künstler und die Kunst als gelabelte Luxushandtaschen. Und wie verkommen sind eigentlich diese „Nachwuchskünstler“, dass sie auf jene unverschämte Weise mit gestylter Dummheit in den Markt drängen und sich von PR-Schleudern wie „The Coup“ ein Image und Sprachgewand verpassen lassen?

Fingierte Guillotinen-Abstimmung

Doch zurück zur Sache: Das erste Mal fingierte Rezai im Internet eine Abstimmung über das Guillotinieren eines Schafs. Über 2,5 Millionen Klicks soll das eingebracht haben. Das Mordwerkzeug hat ein Sammler angeblich für 2,3 Millionen Dollar erworben. Anfang November verschickte er im Namen der der Neuen Nationalgalerie E-Mails, die behaupteten, Rezai habe den Server des Instituts unter Kontrolle gebracht. Täuschung wohin man schaut. Die Erregungsmaschinerie fand ihr Futter und der Schaumschläger seine billige Propaganda. Selbst gestandene Nachrichtenagenturen fielen auf den Blödsinn herein. Und nun dieses Wasserspielchen mit dem Publikum. Nein, das ist nichts. Das tut nur so, als ob es Kunst sei, dieses Deckmäntelchen niederer Interessen. Es ist ein albernes Spektakel für eine profitgeile Aufmerksamkeitsindustrie, das die niederen Instinkte einer ennuyierten Gesellschaft bedient, in der die Anliegen der künstlerischen Kritik und Aufklärung in Form rhetorischer Vehikel zum Rauschmittel des Glamours verkommen sind. Das einzig Kunsthafte an der Sache ist höchstens noch die Dreistigkeit, mit der Iman Rezai in den orchestrierenden Medien seine dürftige Karriere fingiert.




Grass: Das Geschenk der Einheit vergeudet – Kritische Töne auf der Frankfurter Buchmesse

Von Bernd Berke

Frankfurt. Ein Hauptgeschäft bei der Buchmesse ist der Verkauf internationaler Nachdruck-Lizenzen. Wenn dieser Handel getan ist, beginnt ein womöglich noch schwierigeres „Geschäft“, das der Übersetzung.

Nicht jeder Autor kann sich gleich mit einem ganzen Kranz renommierter Dolmetscher umgeben wie Günter Grass, der sich gestern in Frankfurt mit einem Dutzend beinahe anonymer Sprachkünstler aufs Podium begab, die just seinen umstrittenen Bestseller „Unkenrufe“ in alle möglichen Idiome übertragen haben — von Katalanisch bis Türkisch, von Dänisch bis Polnisch. Welche Untiefen sich dabei auftun können, machte der polnische Übersetzer deutlich, der die Aufgabe hatte, gebrochenes Deutsch redende Polen sprachlich ins Polnische „hinüberzuretten“.

„Auschwitz immer mitdenken“

Einmütig stellten die Übersetzer fest, daß Grass‘ Roman mit seiner Kritik an deutschen Zuständen allerorts auf größere Zustimmung rechnen könne als eben in Deutschland. Damit war man bei einem Thema der Messe. Die ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Rostock und anderswo lassen manche schon um die internationale Attraktivität des Buchmesseplatzes Frankfurt bangen. Nicht von ungefähr hatte zur Eröffnung Außenminister Kinkel seinen Redetext spontan geändert und Abbitte geleistet.

Und Günter Grass, seinerzeit einer der lautesten Mahner vor der deutschen Einheit, bei der man „Auschwitz immer mitdenken“ müsse, fühlt sich jetzt natürlich bestätigt: „Aber ich bin alles andere als froh darüber.“ Seine schlimmsten Befürchtungen seien übertroffen worden, meinte Grass: .„Was wir mit dem Geschenk der Einheit gemacht haben, ist nur noch beschämend.“ Grass verteidigte das Asylrecht als „Kronjuwel unserer Verfassung“ und nannte gar den heutigen Verteidigungsminister Rühe einen „Skinhead mit Scheitel“, weil er das Thema Asyl unnötig „heiß geredet“ habe.

Noch mehr Elektronik in den Hallen

Beim Rundgang durch die Messehalle 6 (deutschsprachige Verlage) fällt sofort auf, daß erneut mehr Elektronik Einzug gehalten hat als im Vorjahr. Da ist es wirklich nur noch Vollzug, wenn – wie berichtet – dieser Art von „Literatur“ 1993 eine Halle eingeräumt wird. Den Reiseführer von morgen etwa tastet man mit der Computer-Maus ab. Dann zeigt er einem Landkarten und Fotos und erzählt einem mit Schrift, Ton und vielen bunten Bildern, was Y-Dorf und X-Stadt alles zu bieten haben. Wozu dann noch reisen, möchte man fast fragen.

Noch schlimmer kommt es dann in der sogenannten „Rationalisierungs-Schau“ des Buchhandels, die man glatt für einen Ableger der Computermesse „Cebit“ halten könnte. Der Elektronik-Konzern Philips hat dort eine regelrechte „Spielhölle“ eingerichtet, übrigens einer der bestbesuchten Stände der Messe.

Auf der Suche nach einem oder gar dem Trend wird man bei rund 101.000 Neuerscheinungen kaum fündig werden. Natürlich gibt es Saisonware wie etwa die Olympiabücher, doch im Grunde zeigt sich immer deutlicher, daß man schlichtweg alles zwischen zwei Buchdeckel bringen und es dann verkaufen kann, wenn nur das Marketing bis hin zur „Außenhaut“ (sprich Umschlag) des Buches stimmt. Gestaltung wird immer wichtiger, Inhalte kommen erst lange danach.

Nochmals zugenommen haben die langen Reihen der Verlage mit esoterischem Programm, die uns alle möglichen Ersatzgötter und Lebenshilfen andienen. Dagegen wirkt der Bezirk der „linken“ Verlage schon wie ein kleines Reservat.