Suche nach dem sicheren Ort: „Maxim“ von „Stücke“-Gewinnerin Anne Lepper für Kinder ab 9 in Dortmund

Das Bett ist zum Expreßballon geworden. Szene mit (von links) Philip Pelzer, Ann-Kathrin Hinz, Andreas Ksienzyk und Rainer Kleinespel (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Das Stück heißt „Maxim“ und ist jetzt im Dortmunder Kinder- und Jugendtheater uraufgeführt worden. Geschrieben hat es Anne Lepper, und weil sie im letzten Jahr in Mülheim mit ihrem („Erwachsenen“)-Stück „Mädchen in Not“ den Stücke-Wettbewerb gewonnen hat, war von Interesse, wie nun ihr erstes Kinderstück (für Kinder ab 9 Jahre) geworden ist.

Mobbing und Anderssein

Mehrere Zeitungs- und Rundfunkkritiker hatten sich eingefunden, und überhaupt saßen mehr Erwachsene als Kinder im Zuschauerraum – ein Umstand, der im Kinder- und Jugendtheater nachdenklich stimmt. Möglicherweise waren besonders viele Lehrer zugegen, die prüfen wollten, ob das Stück für ihre Klassen geeignet sein könnte. Man sollte gelegentlich mal nachfragen.

Das Stück dreht sich, ganz grob beschrieben, um Mobbing und Anderssein, um Autonomie und Akzeptanz, um die Macht der Phantasie. Handlungsgang, Bezüge und Personen sind, für die pädagogische Arbeit wohl, stark und eindeutig gezeichnet, das Geschehen schreitet forsch voran, Langeweile kommt in den rund 70 Minuten Spielzeit nicht auf.

Sie sind die Mondelfen: Bettina Zobel, Bianka Lammert und Johanna Weißert (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Mit Fußtritten

Die Dortmunder Inszenierung des Hausherrn Andreas Gruhn kommt brutal zur Sache. Auf dem Schulhof wird Mary-Lou (Ann-Kathrin Hinz) von den anderen mit Fußtritten malträtiert, selbst noch, als sie schon auf dem Boden liegt. Es ist nicht das erste Mal. Mary-Lou ist angeblich zu dick und gehört deshalb nicht dazu.

Auch Max (Philip Pelzer) gehört nicht dazu, weil er immer noch mit Puppen spielt. Die anderen wenden sich von ihm ab, trotz seiner leckeren Salamibrote. Max beschließt die Flucht zum Mond, im Expreßballon, zusammen mit Bär und Hund (Andreas Ksienzyk und Rainer Kleinespel). Denn der Mond ist angeblich repressionsfrei. Auch Mary-Lou kommt mit, doch muß sie zunächst einmal die Vorurteile der drei anderen gegen dicke Mädchen niederkämpfen („Dicke Mädchen wollen immer Blumen geschenkt haben“).

Mond ist auch keine Lösung

Auf dem Mond verheißen die Mondelfen (Bianka Lammert, Johanna Weißert, und Bettina Zobel) völlige Freiheit, doch die Mondpolizei (Thorsten Schmidt) trachtet den Neuankömmlingen nach dem Leben, weshalb sie im letzten Augenblick zur Sonne flüchten. Die ist aber auch nicht begeistert und außerdem sehr, sehr heiß. In letzter Konsequenz bleibt nichts als die gute alte Erde, wo jeder Mensch das Recht hat, so zu sein, wie er eben ist. „Was wir bräuchten, wäre Liebe“,sagt der weise Bär.

Das magische Bühnengeschehen ist sinnhaft mit Pop-Musik von David Bowie („Space Oddity“, „Starman“), Hubert Kah (Sternenhimmel“) und anderen angereichert worden, die die Stimmungen und Sehnsüchte der Personen spiegelt und verstärkt. Bemerkenswert ist der selbstverständliche Einsatz englischer Song-Texte, die unübersetzt bleiben. Können die Kinder in dem Alter schon so viel Englisch? Vielleicht die falsche Frage.

Mary-Lou tanzt; Szene mit (von links) Rainer Kleinespel, Philip Pelzer, Ann-Kathrin Hinz, Andreas Ksienzyk, Bianka Lammert, Johanna Weißert, Bettina Zobel (Foto: Edi Szekely/Theater Dortmund)

Mäßig originell

Alles im grünen Bereich; höchstens hätte man von einer „Stücke“-Preisträgerin etwas mehr Originalität erwartet, als hier an der Dortmunder Sckellstraße sichtbar wird. Auf einen neuen Stoff nach Art Wolfgang Herrndorfs hatten manche gehofft, eine Geschichte à la „Tschick“ für die etwas Jüngeren. Das wäre einfach schön gewesen, auch wenn dieser kritische Einwurf letztlich unzulässig ist, weil „Maxim“ für Kinder geschrieben wurde und sich deren Problemen mit großer Redlichkeit nähert. Sei’s drum.

Tanz ist Freiheit

Es wird viel getanzt auf der Bühne mit ihren drei großen Ballons und der anspruchsvollen Videoprojektion (Ausstattung: Oliver Kostecka, Video und Sound: Peter Kirschke, Choreographie: Joeri Burger). Tanz ist Freiheit, wer tanzt, ist bei sich selbst, eine Botschaft, die wohl auch über den recht konkreten Rahmen dieses Stücks hinausgeht. Und wenn Hund und Bär mit ihren ungelenken Stofftier-Riesenfüßen herumstapfen, ist das auch ausgesprochen lustig.

Bemerkenswert schließlich ist der Programmzettel, der in einigen Stichworten auf das Stück eingeht und auch noch ein kleines Glossar mit möglicherweise nicht bekannten Begriffen liefert, „Epidemie“, „zivilisiert“, „Regression“… . Sogar die „Heteronomie“ hat es bis auf die Liste geschafft, als Gegensatz zur Autonomie. Ganz schön anspruchsvoll, für Kinder ab 9.

Der lange, kräftige Schlußapplaus galt nicht zuletzt den acht Darstellerinnen und Darstellern, die in bis zu drei Rollen auf der Bühne standen, spielten, tanzten. Konzentration und eine im besten Sinne angemessene Ernsthaftigkeit prägten ihrer aller Spiel ebenso wie eine geradezu ansteckende Spielfreude.

  • Nächste Termine: 2., 3., 6. Mai, 4., 5. Juli.
  • https://www.theaterdo.de/detail/event/18822/

 




Flüchtlingsthema ungeahnt lustig – Mülheimer Stücketage suchen besten Theatertext

Foto: Ute Langkafel/Maifoto/Stücke2016

Szene aus „Situation“ (Foto: Ute Langkafel/Maifoto/Stücke2016)

Dass das Gegenwartstheater unpolitisch sei, kann man eigentlich nicht behaupten. Vor allem nicht, wenn es um das Thema Flüchtlinge oder Migration geht.

In der letzten Zeit habe ich einige Inszenierungen gesehen, die sich künstlerisch mit der Einwanderung nach Europa auseinandergesetzt haben. Nun eröffneten auch die Mülheimer Theatertage „Stücke“, die bereits zum 41. Mal auf der Suche nach dem besten Theatertext des Jahres sind, mit Yael Ronens „Situation“ vom Maxim-Gorki-Theater in Berlin.

Was soll ich sagen? Das war mit Abstand das lustigste Stück zum Thema Einwanderung, das mir bisher untergekommen ist. Politisch, natürlich, aber dazu noch witzig, ironisch, leicht und ein wenig anarchistisch. Ohne oberflächlich zu sein, nimmt die israelische Regisseuren Ronen die kulturellen Kuriositäten, Vorurteile und Marotten der verschiedenen Nationalitäten auf die Schippe – einschließlich der deutschen. Dabei bedient sich die Inszenierung vielfältiger Sprachen, wovon Deutsch nur eine ist.

Die Teilnehmer eines Deutschkurses sprechen hebräisch, arabisch und ganz viel englisch und kommen aus Palästina, Israel, Syrien und Kasachstan. Sie alle sollen deutsche Kultur und Sprache lernen, dafür kämpft zumindest Stefan, der Lehrer. Und verstrickt sich gleich zu Beginn in eine heillose Diskussion um deutsche Schuld, die Nazizeit, die israelische Politik und die Gemengelage im Nahen Osten.

Nun sind sie aber alle in Berlin-Neukölln und genießen neue Freiheiten. Auch wenn Karim nicht ganz einsehen kann, warum in seinem Rap die Textzeile „Die Zionisten sollen brennen“ nicht vorkommen darf. Deutschlehrer Stefan schlägt stattdessen etwas über Analsex vor, das kann Karim wiederum nicht fassen. Ist das nicht tausendmal schlimmer? Auch Amir, der israelische Araber, freut sich, endlich in Berlin in der Falafel-Bude mal locker arabisch sprechen zu können, was in seinem Heimatland nicht so entspannt funktioniert. Doch wehe, sein kleiner Sohn bedankt sich auf Hebräisch…

Bis zum 26. Mai sind sieben hochkarätige Inszenierungen zeitgenössischer Stücke in Mülheim an der Ruhr zu sehen, dazu kommen fünf Texte für Kinder. Eine Jury wählt alljährlich in einer öffentlichen, manchmal bis tief in die Nacht dauernden Diskussion den besten Text aus und dessen Autor gewinnt einen Preis. Das hat inzwischen Kultstatus und führt Theatermacher aus der ganzen Republik an die Ruhr.

In diesem Jahr gehen Fritz Kater, Sibylle Berg, Wolfram Höll, Felicia Zeller, Ferdinand Schmalz und Thomas Melle ins Rennen. Es lohnt sich also, mal in Mülheim vorbeizuschauen, wenn man sehen will, was im Theater der Republik gerade so angesagt ist. Unter www.kultiversum.de findet sich außerdem ein Blog von Studenten, die das Festival medial begleiten.

Karten und Termine: www.stuecke.de

 




Großes Unbehagen: Jelineks „Schutzbefohlene“ bei den Mülheimer Stücketagen

Foto: Michael Kneffel/www.stuecke.de

Foto: Michael Kneffel/www.stuecke.de

Das Unbehagen ist groß, wir winden uns auf unseren Theatersesseln in der Mülheimer Stadthalle. Im Mittelmeer ertrinken die Menschen und wir laborieren an unseren Luxusproblemen. Dabei stehen „Die Schutzbefohlenen“, so der Titel des Stückes von Elfriede Jelinek, direkt vor uns auf der Bühne.

Sie kommen aus dem Iran, aus Eritrea, aus Syrien, aus Afghanistan und erzählen die Geschichte ihrer Herkunft und ihrer Flucht. Regisseur Nicolas Stemann hat sie in einem Projekt mit dem Hamburger Thalia Theater und dem Theater der Welt mit Schauspielern zusammengebracht. Gemeinsam arbeiten sie sich ab an dem Theatertext der Österreicherin Elfriede Jelinek. Die Inszenierung wurde in diesem Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen und ging nun in den Wettbewerb der Mülheimer „Stücke“.

Im realen Leben suchten die „Schutzbefohlenen“ Asyl in einer Hamburger Kirche, hier auf der Bühne sind sie immer wieder hinter Stacheldrahtrollen verbannt, deren symbolisches Muster auf ihren T-Shirts wiederkehrt. Und sie stellen Forderungen: nach Gerechtigkeit und Freiheit für alle Menschen – und nicht nur für die Europäer; nach Chancengleichheit für alle, nicht nur für die, die innerhalb des europäischen Rechtssystems stehen; nach der Aufhebung der Unterscheidung zwischen legal und illegal. Im Hintergrund schwappt das Mittelmeer über die Videoleinwand.

Eine aktuellere Inszenierung gibt es wohl zurzeit kaum. Sie macht das Dilemma in aller Schärfe greifbar, zeigt Ursachen wie Kolonialismus, Krieg, Kapitalismus und Globalisierung auf und spricht nicht nur über die Betroffenen, sondern lässt sie für sich selbst sprechen. Und doch macht sie gleichzeitig schmerzlich bewusst, wie schwierig eine Lösung ist. Es wird auch hier keine gefunden. Vielleicht ist das von einer Theaterinszenierung aber auch zu viel verlangt: Wenn schon Politiker nicht recht wissen, was sie tun können oder wollen…

Wir, die wir hier schuldbewusst in unseren Theatersesseln sitzen, sind nicht so leicht bereit, unseren Wohlstand zu hinterfragen. Ihn zu teilen, ja darüber könnte man reden – doch wo ist hier die Grenze? Wo ist deine persönliche Grenze? Was bist du bereit zu geben, wo möchtest du helfen, wo schaust du lieber weg? „Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm“, hat Bertolt Brecht einst in der Dreigroschenoper geschrieben. Der Wunsch, sicher und gut zu leben, etwas aus sich und seinen Möglichkeiten zu machen, verbindet alle Menschen. „Doch die einen stehen im Dunkeln und die anderen stehn im Licht; und man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“

Unser Reichtum ist ein Magnet, unser Rechtssystem mit allen seinen behördlichen Auswüchsen ist ein besserer Garant für Freiheit als viele andere Systeme. Deswegen sind wir ein Fluchtpunkt, ein Ziel. Das macht uns stolz, das macht uns Angst. Das weckt die hässlichen Seiten in uns: Den Wunsch, sich abzugrenzen, sich an seinen Besitz zu klammern. Wenn in Hamburg Pöseldorf Bürger skeptisch gegen ein Flüchtlingsheim sind und sagen: „Die Leute könnten hier ja nicht mal einen Kaffee trinken, das wäre für sie doch viel zu teuer“, dann zeigt Stemanns Inszenierung die zynischen Seiten des Phänomens.

Und Elfriede Jelineks Text? Manchmal wirkt er zu glatt, zu wortspielerisch, der existenziellen Schärfe des Themas nicht angemessen. Auf jeden Fall klingt dieser Abend noch lange nach, er geht über die bloße Kunst hinaus.

Die Mülheimer „Stücke“ laufen noch bis zum 4. Juni:
Karten und Termine:
www.stuecke.de