Kreativ aus der Krise: Eine ziemlich verrückte Theatertour durch Ruhrstadt

2014-09-13 11.29.37Vier Jahre nach Ende der Kulturhauptstadt reflektieren vier Künstlergruppen, was nach RUHR.2010 geworden ist. Der gemeinsame, sechseinhalbstündige Abend heißt „54. Stadt“, spielt in Mülheim und Oberhausen, und er gerät zu einer General-Abrechnung mit dem Konzept der Kulturhauptstadt, die Kreativwirtschaft als Identitätslückenfüller zu installieren. Produziert wurde die Tour von „Urbane Künste Ruhr“ – also ausgerechnet jener Organisation, die das Erbe von RUHR.2010 pflegen und die Kreativwirtschaft weiter befeuern soll.

So weit, so subversiv – und nicht nur das. Es ist ein ziemlich verrückter Abend, eine gezielte und produktive Überforderung der Zuschauer. Ich habe mit fremden Menschen getanzt, einen „Transgender-Cocktail“ kreiert, in einer Privatwohnung Dehnungsübungen absolviert, phasenweise nur einsilbig gesprochen, mir einen Schnurrbart malen lassen und in einem Waschsalon über mein Verhältnis zu Eigentum und Besitz diskutiert. Es ist ein Abend ohne lineare Erzählstruktur oder Abfolge; jeder Teilnehmer erlebt zwangsläufig etwas anderes.

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Diskussion über Eigentum und Besitz im Waschsalon. Foto: Katrin Pinetzki

Der Beginn versetzt zunächst alle in die gleiche Ausgangslage: Wir befinden uns im Jahr 2044, lauschen im Mülheimer Ringlokschuppen einem Live-Konzert der Frauenband „Die Planung“. Vor 30 Jahren, 2014, seien sie zum letzten Mal aufgetreten. Dann schaltet sich eine Nachrichtensprecherin zu. Offenbar gibt es Unruhen da draußen. Nach und nach wird klar: Im Jahr 2014 wurde aus den 53 Städten des Ruhrgebiets die „Ruhrstadt“, die 54. Stadt, eine zentral verwaltete Metropole des Kreativsozialismus. Jeder musste plötzlich Künstler sein, und jede Stadt eine Sparte: Dortmund wurde Modestadt, in Wesel lebten nun Literaten, in Oberhausen Transvestiten. Doch jetzt haben die Menschen genug. Es brodelt, Anarchie bricht aus.

Den ersten Teil des Abends konzipierte „kainkollektiv“ (Fabian Lettow, Mirjam Schmuck). Sie inszenierten eine „performative Installation“, eine von Chor- und Soprangesang (Kerstin Pohle) begleitete Reflexion übers Fallen, Verfallen, Zerbrechen: Häufig offenbart sich erst im Moment des Verlustes der Wert. „Was, wenn das Beste an den Dingen die Reste wären?“ In der Ruhrstadt leben wir, „wo die Reste sich versammeln“. Aber: „Alles, was gut ist, kommt wieder – und alles, was gut vermarktbar ist, kommt immer immer immer wieder.“ Heute sind die Körper der Kreativen die Ressource, die abgebaut wird wie früher die Kohle, so die These – Bewältigung der Krise mit Kreativität? Oder nur auf Kosten der Kreativen?

Einige Denkanstöße für die Besucher, die sich im Saal des Ringlokschuppens frei bewegen und das multimediale Geschehen aus Foto und Film, Performance, Gesang und Percussion-Klängen verfolgen, mit den Augen ständig verwirrt nach Halt suchend.

Doch wie geht es weiter? Wie wollen wir in Zukunft leben? Darüber nachzudenken werden die Teilnehmer an „54. Stadt“ nicht nur aufgefordert, sie werden selbst zu Anarchisten, die auf den Straße und in den Häusern um die Zukunft der Stadt kämpfen müssen. Darum geht es im zweiten Teil. Man entscheidet vorab, ob man mit der Gruppe „LIGNA“ in Mülheim einen „Audiowalk“ unternehmen oder mit „Invisible Playground“ an einem interaktiven Spiel in Oberhausen teilnehmen will.

Wer nach Oberhausen fährt, sucht sich vier anarchische Mitstreiter, bekommt eine Spielkarte, Energieriegel und die Aufgabe, die fünf „Säulen der Demokratie“ zu retten. Dazu müssen die Anarchisten wie bei einer Schnitzeljagd (oder einem Computerspiel?) skurrile Aufgaben in Wohnungen, Bars und, Geschäften erledigen, während herumlungernde Banden versuchen, sie daran zu hindern. Ein großer Spaß, der die Sicht auf die Stadt erweitert und einen eigenen Abend verdient und getragen hätte.

Einweisung in den Anarchismus. Foto: Katrin Pinetzki

Einweisung in den Anarchismus. Foto: Katrin Pinetzki

Doch es ging noch weiter, zum Finale im kooperierenden Theater Oberhausen. Dort zeigten „copy & waste“, eine Gruppe um Autor Jörg Albrecht und Regisseur Steffen Klewar mit dem Oberhausener Ensemble, den Showdown zwischen Kreativarbeitern und „echten Menschen“ ganz konventionell auf der Bühne, erzählt als Liebesgeschichte, verpackt in eine schrille Reality Show: Julieta und Rick wurden schon als Kinder im Namen der Kreativität missbraucht, wollen gemeinsam aus Ruhrstadt fliehen und setzen dabei auf Authentizität.

Jörg Albrechts gerade erschienener Roman „Anarchie in Ruhrstadt“ liefert die gemeinsame Erzählung, die Matrix für alle vier Produktionen. So gibt es zwar ein erkennbares Konzept, doch den roten Faden müssen die Zuschauer immer wieder selbst suchen. Das  ist anstrengend, an- und aufregend.

Der Text entstand für den Westfälischen Anzeiger, Hamm




Das Testament

Erinnern Sie sich an die Kulturhauptstadt?

Es ist erst ein Jahr her, als die letzten Veranstaltungen in den Schnee gesetzt wurden. Eitel Sonnenschein war es nicht, aber für viele Eingeborene im Tal der 53 Kommunen waren die Gipfel der Metropolenträume durch den seichten Nebel immerhin sichtbar. Die Leuchttürme blinkten Zuversicht. Man feierte und  pappte sich Buttons ans Revers, besetzte die A40 und schickte gelbe Luftballons ins All, die Kunde tun sollten von der Überwindung der post-industriellen Depression. Die Beauftragten standen an den Fenstern ihrer Verwaltungs-zentren und malten ein wolkiges „Wir“ an die angehauchten Scheiben.

Day of Song

Ein Jahr ist es erst her, das Ende des Jahres der Erbauung, der singenden Massen, der lokalen Helden, der Umarmungen von Vergangenheit mit der Gegenwart. Die Touristen kamen, um das Ruhrmärchen zu erleben. Jetzt kommen sie, um Spuren der Nachhaltigkeit zu entdecken. Sie kommen auch, um den BVB zu sehen oder zu hören, wie es klingt, wenn 50.000 „Raaauuul“ rufen.

Das Fell des Bären

Das Fell des abgehalfterten Ruhr-Bären ist ein paar Millionen wert und man machte sich daran, es zu verteilen, um wiederaufzunehmen und zu erhalten, was der Masse Spaß gemacht hat. Inzwischen ist klar, dass die Taube doch das Leittier der Region ist, da sie als einziges Wesen am Turm des Dortmunder „U“ würdevoll hinter den Verwaltungsgebäuden wacht. Das Gebäude musste Federn lassen, ist weder langfristig bezahlbar, noch wirklich mit aufregendem Inhalt gefüllt. Nicht Menschen hat das Jahr hervorgebracht, sondern
Gebäudeerinnerungen.

Erinnerungen an einen Auftritt

Veranstaltungssaal in Oer-ERkenschwick

7. Dezember vor einem Jahr. Draußen herrscht alpineske Stimmung. Blitzeis, Schneeverwehungen, unschuldige weiße Landschaften. Abends sind die Abschieds-veranstaltungen angekündigt. Ich fahre wie auf Kufen nach Oer-Erkenschwick, um mein Bühnenprogramm über das vergangene Kulturhaupt-stadtjahr zum Besten zu geben. Die Schulaula liegt ein wenig seitwärts des Zentrums. Fünf Zuschauer sind gekommen. Auf der Bühne steht auch ein Weihnachtsbaum. Ein paar Häuser weiter läuft ein Adventskonzert. An den Abschlussparty-Orten tobt der Abschiedsbär, hier machen wir uns einen schönen intimen Abend. Illusion und Wahrheit in Gleichzeitigkeit – Oer-Erkenschwick gegen Duisburg, Essen,Dortmund, Gelsenkirchen.

Der Clan der Erben

Man traf sich am Montag auf PACT Zollverein und es war, als gelte es, etwas zu eröffnen. Voll besetzt und fast alle haben ohne Zettel gesprochen, denn es ist alles ja schon zigmal gesagt worden. Dass der Aufsichtsratsvorsitzende Wulf Bernotat einen Zettel braucht, liegt
daran, dass Kunst und Kultur nicht seine Metiers sind. Ein launiger Pleitgen führt sicher im Wechsel mit Oliver Scheytt durch die Talkrunden. Als Ehemaliger kann man schon mal nachfragen. Jetzt werden sich also eine Reihe anderer um das Erbe kümmern. Ruhr2010 hat das Volk über ein paar Veranstaltungen mitgenommen und es hat sich gefreut. Jetzt geht die neue Familie gemeinsam in die Leuchttürme und schaut, wie das Land unter ihnen beleuchtet wird. Ohne Dunkelheit sieht man den Leuchtturm nicht.

Die Erben übernehmen den Staffelstab

Winkender Mann (c) dman

„Die Kultur Ruhr GmbH wird um die eigenständige Programmsäule „Künste im urbanen Raum“ erweitert, um die Zusammenarbeit von Kultureinrichtungen zu unterstützen und Exzellenz-projekte zu initiieren.“ So heißt es nun.  Erstmals wird der RVR, zusammen mit dem Land, ab 2012 eine programmatische „Kulturkonferenz Ruhr“ organisieren. Regionaldirektorin Karola Geiß-Netthöfel: Wir wollen, dass die Metropole Ruhr weiter so bunt, vielfältig und vital bleibt, wie sie es im Kulturhauptstadtjahr gewesen ist.“

Urbane Kunst – damit ist zunächst die Bildende gemeint, die nicht nur hier inzwischen zur freien Szene zählt wie fast alles – von Popmusik über Handtaschenherstellung  bis hin zu
Karnevalsveranstaltungen. Als frei  galt eine Zeitlang der, der unabhängig von Institutionen arbeitet, ohne Haus – nämlich genau im Gegensatz oder als Alternative zu jenen in den behördlichenTheatern.

Und man wünscht sich für die Zukunft einen interdisziplinären Dialog. Dieser Dialog ist sowas von überholt und längst keine Rede mehr wert – in der europäischen und internationalen Wildnis der Kunst.

KRITISIEREN OHNE ZU NÖRGELN – oder kreatives Nörgeln

Wir müssen also wieder abwarten, was sich entwickelt in den Zentren der Nachfolge. Wollen wir also nicht nörgeln, was ja schwer genug ist, aber als Kreativer kann man das ja eben kreativ tun.  Und immer an alles denken, bevor der Hammer rausgeholt wird.  „Man muss ein Gefühl für die Gesamtlandschaft entwickeln“, wurde gesagt. Dies geschieht bisher über Begriffe wie „Metropole“. Man muss sich nur oft genug „Ich liebe Dich“ sagen.
Irgendwann ist es dann soweit.

Lokale Helden sollen wieder leuchten

local hero (c) dman

Das Local-Hero-Projekt war ein ausgezeichneter Gedanke, der auch hier und da wunderbar funktionierte. So kann man Heimat kennenlernen und künstlerische und überhaupt kulturelle Statements abgeben. Aber dass manche Verwaltungsleute aus irgendwelchen Bereichen dafür als Beauftragte eingesetzt wurden, die sich hier und da bemühten, nicht entdeckt zu werden, zeigte, dass die Unternehmung mit der Nähe zu Kunst und Kultur zunächst nichts zu tun hatte. Kulturhauptstadt ist eben eine kulturpolitische Veranstaltung, deren Geist man nicht per Dekret an handelnde Personen vermitteln kann.  Jetzt will man sie wieder aus dem Schrank zerren, damit sie sich kümmern! Möge die Übung gelingen! Kraftschöpfung also aus der Dezentralität.

Der Markt

Eigentlich geht es um den Erfolg am Markt, wie fast überall heute. Die Exzellenzen werden es schon bringen. Es gibt Bereiche, da ist der Markt das Todesurteil für freies Tun und Denken, aber eine große Fläche für Manipulation – siehe die Gesundheitsindustrie, die uns jeden Tag neue Krankheiten verordnet. Aber schweifen wir nicht ab. Wir müssen uns halt nur vernetzen, dann tritt Wirkung ein.

Der Künstler soll sich vertreten lassen. Man wird in Netzwerke und Institutionen gedrängt. Der Funktionär ist maßgeblich. Der Vermittler, der Agent, der Vertreter ist wichtiger geworden als der Künstler selbst, aber vielleicht war das schon immer so. Und hier regt sich nur einer künstlich auf.




Der RVR und die koordinierte Kultur

Heute verscherze ich’s mir mal mit – nun? – dem Regionalverband Ruhr (RVR). Und zwar so:

Der RVR-Presseservice (idr = Informationsdienst Ruhr) hat heute eine nichtssagend gravitätische Mitteilung versandt, die besagt, dass das „Erbe“ der Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr (Ruhr 2010) nunmehr gesichert sei.

Da möchte man doch auftamen.

Dann freilich liest man, dass just der RVR den (Zitat) „Staffelstab“ übernehmen wird, um die „nachhaltige Entwicklung von Netzwerken und Projekten“ der gewesenen Kulturhauptstadt sicherzustellen.

Auch ist die gestanzte Rede von der neuen Programmsäule namens „Künste im urbanen Raum“, die vor allem auch Exzellenzprojekte anstoßen soll.

Eingebunden sind die Kultur Ruhr GmbH, die Ruhr Tourismus GmbH und das European Center für Creative Economy (ECCE). Hört sich gewaltig an, wenn man’s nur nicht hinterfragt.

Der von mir eigenmächtig hinzugefügte Fettsatz zeigt an: Da haben wir es mal wieder, das verwaltungsgemäße, mit leerlaufenden Floskeln durchsetzte „Kreativ“-Sprech, das meist nur mit bürokratischen Verfahrensweisen, aber nicht mit wirklichen Ideen jongliert. Wer so redet, lässt ahnen, dass Kultur nur abermals der Anlass ist für aufgeplusterte Strukturen. Den vermeintlichen Erfolg wird man später gewiss herbeireden.

4,8 Millionen Euro werden jährlich aufgerufen, zur Hälfte vom Land NRW und vom RVR beigesteuert. Kein immenser Betrag, wenn man ihn aufs ganze Revier verteilt. Doch natürlich wird dieses schöne Geld nicht einfach so versickern. Schon 2012 wird beispielsweise eine „Kulturkonferenz Ruhr“ einberufen, welche die „profilbildenden Projekte“ diskutieren und Zukunftsstrategien entwerfen soll.

Im Tunnel (Bild: Bernd Berke)

Im Tunnel (Bild: Bernd Berke)

Schon dem dürren Jargon ist abzulauschen, dass da viel heiße Luft in die Gegend geblasen wird. Bereits jetzt sind etliche Impulse der Kulturhauptstadt, sofern es sie überhaupt je gegeben hat, kläglich erloschen. Längst wieder eingekehrt ist der kulturelle Alltag mit Finanzsorgen an allen Ecken und Enden.

Kulturjournalisten des Ruhrgebiets werden wissen, wovon ich rede: Pressekonferenzen des RVR (vormals KVR), die kulturell wirklich spannend gewesen wären, wird man selbst mit der Lupe vergebens suchen. Ich kann mich an Termine erinnern, bei denen nach meinem Eindruck mehr Vertreter des RVR anwesend waren als Pressemenschen. Viele von ihnen hatten offenkundig keinerlei Funktion beim jeweiligen „Meeting“. Sie standen zinslos herum. Doch es gab gelegentlich Sekt und Häppchen. Gern wurden derlei Treffs am Freitag anberaumt, wenn man anschließend rasch ins Wochenende aufbrechen konnte.

Bitte, bitte, ich lasse mich gern eines Besseren belehren. Vielleicht weht ja beim RVR jetzt und demnächst ein frischer Wind, der alles Gestrige hinwegfegt.

Doch mal ehrlich. Auch dieser Satz klingt beim ersten Hinhören nicht wie eine Verheißung, sondern eher wie eine sanfte Drohung:

„Der Regionalverband Ruhr koordiniert mit einer neuen Stabsstelle künftig die Entwicklung der Kultur in der Metropole Ruhr.“

Hat da jemand „Stillgestanden!“ ge…flüstert?




„Still-Leben“ auf der A 40: Utopie, Leute!

Man sage, was man will – übers „Still-Leben“ auf der A 40, an dem heute einige Hunderttausend Revierbewohner und ihre Gäste teilgenommen haben. Angeblich sollen es sogar fast 3 Millionen gewesen sein. Doch die genaue Zahl ist fast egal. Weitaus wichtiger ist dies: Es hatte durchaus mehr als nur einen Hauch von Utopie.

Das gesamte Spektrum der Bevölkerung war dabei, wenn auch vielleicht nicht im exakten demographischen Mischungsverhältnis, so doch in ganzer Tiefe und Breite.

Wie all diese Menschen für einen halben Tag den Straßenraum eingenommen haben, der sonst dem dröhnenden (oder gestauten) Motorverkehr vorbehalten ist! Und wie friedlich dies alles war! Wie viele Formen des Schöpferischen da zum Tragen kamen! Wie viele Leute da gesungen, gesummt, gelacht oder stillvergnügt gelächelt haben. Wie sich das zu wirklicher, wirksamer Kultur summiert hat.

War das denn etwa nicht, um in Anlehnung an den Hoffnungs-Philosophen Ernst Bloch zu reden, der Vorschein eines anderen, eines besseren Lebens?




Kulturhauptstadt Ruhr 2010: Im Dickicht der Projekte

Essen. Rund um die Kulturhauptstadt Ruhr 2010 scheint sich eine eigene Designer-Sprache zu entwickeln. Bei einer Programmvorstellung war von „Hochpunkten” (nicht Höhepunkten), „kreativen Erlebnisraum-Arealen” sowie „Adern und Passagen” des Verkehrs die Rede. Es soll wohl dynamisch klingen.

Auch mit Slogans geizt man nicht: „Wo das geht, geht alles!” lautet ein Merkspruch der Macher, der die Fülle der Kultur als Zukunftsmotor des Ruhrgebiets preist. Eine weitere Sentenz geht so: „ So haben Sie Ihre Metropole noch nie gesehen.” Man will also manches umpflügen – mit sage und schreibe rund 1500 Veranstaltungen im Kulturhauptstadt-Jahr 2010. Da soll noch einer durchblicken.

Seit Montag gibt’s ein erstes, 150 Seiten starkes Programmbuch, das Schneisen durchs Dickicht schlagen soll, doch für sich genommen schon prall wirkt. Zwei weitere Leitfäden sollen folgen. Und überhaupt: Die eigentliche Publikums- und Tourismus-Werbung wird erst 2009 einsetzen. Die Ruhr2010-Geschäftsführer Fritz Pleitgen und Oliver Scheytt werden mithin noch etliche Stufen der Rakete zünden. Am Montag ließen sie den vier künstlerischen Spartenleitern den Vortritt. Die schickten sich allen Ernstes an, binnen 90 Minuten erste Grundzüge von rund 150 Projekten zu skizzieren. Das war selbst im Parforceritt kaum zu schaffen.

Die meisten Punkte waren ja auch bereits bekannt. Gestern wurden sie atemlos addiert, so dass es mächtig Eindruck machen sollte. Hier Kernprojekte der vier Sparten:

Prof. Karl-Heinz Petzinka skizzierte die übergreifenden Vorhaben in Sachen Verkehr und Architektur (Schlagwort „Stadt der Möglichkeiten”). Die Sperrung der Autobahn A 40 (18. Juli 2010) für ein gigantisches Kulturvolksfest gehört ebenso hierher wie ein breites Band der Lichtkunst zwischen Duisburg und Unna/Schwerte. Eine neue „Route der Wohnkultur” soll Lebensformen des Reviers erschließen. Außerdem zählen Bauvorhaben zu dieser Sparte; auch solche, die keine reinen Kulturhauptstadt-Gewächse sind: so etwa das „Dortmunder U” (Ex-Brauerei als Museum und Kreativzentrum), das Hagener Schumacher-Museum, ein künftiges Landesarchiv im Duisburger Hafen und sogar die neue Moschee in Duisburg-Marxloh.

Die Deutsch-Türkin Asli Sevindim betreut Projekte des sozialen Zusammenhalts (Losung: „Stadt der Kulturen”). Das Spektrum reicht hier vom bereits etablierten „Melez”-Festival der multikulturellen Mischformen über jugendliche Straßenkunst (Graffiti, Breakdance & Co.) einschließlich der kurzerhand eingemeindeten „Loveparade” bis zur großen Reihe, die das Erbe der Aufklärung beleuchten soll.

Prof. Dieter Gorny ist zuständig für Varianten der Musik- und Kreativwirtschaft. Dabei geht es speziell um die freie Szene. Gornys Vortrag sprudelte geradezu vor digitalen Zukunftslaboren, Kreativ-Quartieren (wiederum mit „Dortmunder U”), internationaler Medienkunst und Kompetenz-Zentren für Computerspiel-Entwickler. Diverse Pop- und Jazz-Festivals bilden (mit neuer Förderstruktur) ein weiteres Gerüst. Uff!

Schließlich noch Steven Sloane als Koordinator der vielfältigen Musik- und Theateraufführungen. Er kündigte unter anderem einen „Day of Song” (Tag des Gesangs) für den 5. Juni 2010 an. Dann soll landauf landab im ganzen Revier gesungen werden – an welchem Ort auch immer. Das Ganze kulminiert abends mit einem 65.000 Stimmen starken Chor in der Arena „auf Schalke”. Just dort und auf der Essener Zeche Zollverein wird das Kulturhauptstadt-Jahr am 9. Januar 2010 festlich eröffnet.

Ist damit alles gesagt? Nein. Bestenfalls ein Bruchteil. Doch manches ist auch noch nicht ganz spruchreif oder erweist sich als knifflige Kostenfrage. Klare Faustregel: Je mehr Sponsoren, umso mehr kann man stemmen. Bliebe zu hoffen, dass keine Finanzkrise in die Quere kommt.

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Rasanter Image-Film

  • Auch ein neuer Image-Film über die Kulturhauptstadt Ruhrgebiet wurde in Essen präsentiert. Er beginnt mit fulminanten Zahlen: 120 Theater, 200 Museen – weltstadtwürdig!
  • Das äußerst flott und dicht geschnittene Werk überblendet alte und neue Kultur(en) im Revier. Gern verwendete Kulisse sind dramatische Wolkengebirge hinter Zechentürmen.
  • Rasante Bildwechsel: Auf den Bergmannschor („Glückauf”) folgt direkt eine HipHop-Passage, auf ein Tor von Borussia Dortmund unmittelbar der Schalker (!) Jubelschrei.
  • Gedreht hat den Film die Firma „Zeitsprung”, die auch Adolf Winkelmanns „Contergan”-Zweiteiler produzierte.
  • Es gibt den Streifen in verschiedenen Fassungen und Längen.
  • Die Deutsche Welle und die Goethe-Institute sollen die Werbung weltweit verbreiten.

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KOMMENTAR:

Es klang schon imposant, was die Kulturhauptstadt-Macher gestern in Essen vorlegten. Im rasenden Stakkato, ja geradezu in einem Rausch der Vorfreude nannten sie Projekt um Projekt, Vorhaben um Vorhaben für 2010. Und das soll noch längst nicht alles gewesen sein. 1500 kulturträchtige Veranstaltungen stehen in einem einzigen Jahr zu Buche. Beinahe schon beängstigend.

Es ist der lang ersehnte Griff nach den Sternen. Endlich will es das Ruhrgebiet allen zeigen: Wir sind eine Metropole, wir sind eine Weltstadt – nicht zuletzt in Sachen Kultur.

Doch halt! Die Euphorie mag bereits hie und da berechtigt sein und als Antrieb zu weiteren Großtaten taugen. Aber es sind noch etliche Aufgaben zu erledigen – und Gemüter zu besänftigen.

Nur ein Beispiel: Das erzürnte Echo der Sponsoren auf die Entlassung des Essener Philharmonie-Chefs Michael Kaufmann sollte ein Warnzeichen sein. Die doch so dringend benötigten Geldgeber möchten sich nirgendwo düpieren lassen. Sonst müsste „Ruhr 2010“ vielleicht einige stolz verkündete Projekte wieder streichen.

Bernd Berke




Was darf uns die Kultur denn kosten? – Debatte um die Finanzen der Kulturhauptstadt

Alter Streit, der sich immer mal wieder entzündet: Wieviel Geld sollen „wir” für Kultur ausgeben? Genügt das, was die öffentliche Hand bezahlt – oder sollten Bürger, die es sich leisten können, freiwillig etwas drauflegen? Derzeit rankt sich die Debatte um die Finanzen der Kulturhauptstadt Ruhr 2010.

Als neulich in Düsseldorf die Förderbescheide des Landes NRW fürs „Dortmunder U” (Ex-Brauereiturm, künftig Museum und Zentrum der Kreativwirtschaft) überreicht wurden, gab’s neben aller Freude auch viele kritische Stimmen, so etwa im Internetportal http://www.derwesten.de/. Grundzug so mancher Äußerungen: Lieber Straßenbau, Schulen, Kindergärten und Schwimmbäder finanzieren – oder Hartz IV aufstocken . . .

„Hände weg
von meiner
Geldbörse!”

Gegen solch dringlichen Alltagsbedarf befindet sich Kultur seit jeher in der Defensive. Stets muss sie ihre finanziellen Ansprüche gut begründen und legitimieren, was ja völlig in Ordnung ist. Doch etliche Politiker sind auf diesem Ohr fast gänzlich taub. Denn massenhaft Wählerstimmen kann man mit den schönen Künsten nicht einheimsen. Eine kurzsichtige Art der Betrachtung.

Und so erntete denn auch Essens Stadtkämmerer Marius Nieland beileibe nicht nur Beifall, als er kürzlich vorschlug, jeder Bewohner des Reviers möge aus freien Stücken je einen Euro für die Kulturhauptstadt Ruhr spenden, deren Kassen bislang eher spärlich gefüllt sind. Die Reaktionen glichen im Großen und Ganzen jenen aufs „Dortmunder U”. Motto: Hände weg von meiner Geldbörse! Ja, es ist eine schwierige Gemengelage.

Nielands Idee ist ja an und für sich sympathisch, sie könnte Phantasien beflügeln. Aber ist sie nicht auch ein Blütentraum? Selbst Amtskollegen aus anderen Revierstädten bleiben skeptisch. Wie, bitte, soll das funktionieren? Per Überweisung? Mit Sammelbüchse an der Haustür? Mit Sparschweinen, die in den Rathäusern aufgestellt werden? Und: Ein Euro ist „gefühlt” nicht gleich ein Euro. Manche nehmen ihn aus der Portokasse, andere müssen ihn sich absparen.

Zudem kalkuliert Nieland ohne weiteres mit 5,4 Millionen Bewohnern (bzw. Euro) – vom Neugeborenen bis zur Hundertjährigen; von „kulturferneren” Menschen gar nicht zu reden. Größere Familien würden demnach rein rechnerisch mehr berappen, denn pro Kopf wäre ja ein Euro fällig. Wäre das gerecht?

Schnellere und stärkere Wirkung ließe sich erzielen, wenn sich mehr potente Sponsoren aus der Wirtschaft fänden. Fritz Pleitgen und Oliver Scheytt, die Geschäftsführer der Ruhr 2010 GmbH, arbeiten daran. Man kann ihnen nur Erfolg wünschen.

Mit Steuern und Abgaben finanzieren die Bürger ohnehin schon die Kulturhaushalte. Freilich: Die gesamten Kulturausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden machen nicht einmal 0,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus – rund 8 Milliarden Euro stehen jährlich zu Buche. Man darf schon fragen, ob dies für eine Kulturnation nicht beschämend geringe Werte sind.

Doch auch da gibt’s wieder Gegenpositionen, die sich untermauern lassen: Es gibt wohl kein anderes Land auf Erden, das eine so dichte kulturelle Infrastruktur hat wie Deutschland. Ungefähr jedes siebte Opernhaus weltweit steht bei uns. Kulturschaffende haben sich vielfach an namhafte Subventionen gewöhnt. Jede Kürzungsabsicht zieht daher einen Aufschrei („Kahlschlag!”) nach sich.

An dieser Stelle folgt in Debatten rasch der Ausruf: Und das alles für eine betuchte Minderheit? Nun, das wäre zu engstirnig gedacht. Man stelle sich die Städte ohne Theater, Opern, Museen und Bibliotheken vor. Es wären öde Kommerz-Wüsten. Ausgaben für Kultur erweisen sich in aller Regel als sinnvolle Investitionen. Viele Euros fließen in die Städte und Gemeinden zurück. Es kommen mehr Touristen und Tagesgäste, die Geld ausgeben – nicht nur an der Theaterkasse. Und schließlich konkurrieren Betriebe und Behörden in allen Städten um gut ausgebildete, qualifizierte Mitarbeiter. Viele von ihnen lassen sich vor allem durch kulturelle Angebotsfülle locken.

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INFO:

  • Die derzeitige Finanzlage der Kulturhauptstadt Ruhrgebiet 2010:
  • Insgesamt stehen jetzt rund 52 Millionen Euro zur Verfügung. Das Geld kommt aus folgenden Quellen:
  • Der Regionalverband Ruhr (RVR) steuert 12 Millionen Euro bei.
  • Vom Land Nordrhein-Westfalen kommen 12 Millionen Euro.
  • Der Bund schießt 12 Millionen Euro zu.
  • Die Stadt Essen ist mit 6 Millionen Euro dabei.
  • Die Europäische Union (EU) stellt 1,5 Millionen Euro bereit.
  • Private Sponsorenmittel (bisher zugesagt): 8,5 Millionen Euro.
  • Was können die einzelnen Städte beitragen? Vor allem die Revier-Gemeinden, die unter Sparzwängen stehen, könnten eine Aufstockung ihrer Eigenmittel bestens gebrauchen.