Psychische Krankheit und Kreativität: Westfälisches Projekt nimmt „Outsider“-Literatur in den Blick

Eher eine Verlegenheitslösung, um das Thema zu bebildern: Szene aus der zum Projekt gehörenden Inszenierung von „Outsider“-Texten durch das theater en face unter dem Titel „Im Strom“. (Foto: Xenia Multmeier/Franziska v. Schmeling)

Zusammenhänge zwischen Künsten und psychischen Erkrankungen, krasser gesagt zwischen Genie und Wahnsinn, sind ein weites Feld. Ist nicht eine gewisse „Verrückt-heit“ gar Antriebskraft jeglicher Kreativität, weil sie ungeahnt neue Perspektiven eröffnen kann? Anders gewendet: Können Künste heilsam oder lindernd wirken? Oder geht dabei schöpferische Energie verloren? Uralte Fragen, die gelegentlich neu gestellt werden müssen. Um all das und noch mehr kreist jetzt ein westfälisches Kulturprojekt, das sich mit etlichen Veranstaltungen bis zum Ende des nächsten Jahres erstreckt.

Logo des „Outsider“-Projekts. (LWL)

Oft gezeigt und teilweise hoch gehandelt wurden Bilder von psychisch kranken oder geistig behinderten Menschen. Nun geht es beim vielteiligen Reigen mit dem etwas sperrigen Titel „outside | inside | outside“ um literarische Äußerungen, die sich weniger offensichtlich, sondern gleichsam diskreter und intimer zeigen. Gleichwohl gehen solche Schöpfungen beim Lesen oftmals „unter die Haut“.

Ein Akzent liegt vor allem auf westfälischen Autorinnen und Autoren, allen voran Annette von Droste-Hülshoff, die keineswegs den gefälligen literarischen Mittelweg beschritten hat. Zeitlich reicht der Rahmen bis zur aktuellen Poetry-Slam-Szene, die zumal im Paderborner Lektora-Verlag eine Heimstatt für gedruckte Texte gefunden hat.

Inklusion als Leitgedanke

Federführend beim gesamten Projekt ist die Literaturkommission des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) unter Leitung von Prof. Walter Gödden. Ein Leitgedanke ist die Inklusion, sprich: Was psychisch erkrankte Menschen schreiben, soll eben nicht als womöglich bizarres Außenseiter-Phänomen behandelt werden, sondern man will diese Literatur möglichst ans Licht und in die Gesellschaft holen – in aller Behutsamkeit, denn die Erfahrung zeigt, dass zwar manche Autorinnen und Autoren sich bereitwillig öffnen, andere sich jedoch behelligt fühlen, wenn eine größere, als zudringlich empfundene Öffentlichkeit ins Spiel kommt.

Die bisherigen Kooperations-Partnerschaften des Projekts konzentrieren sich vor allem am zentralen Standort des LWL, also in Münster. Dabei sind u. a. das Kunsthaus Kannen, die Akademie Franz Hitze Haus, die black box im kuba, das Cinema – und der historische Erbdrostenhof, Schauplatz der Auftakt-Veranstaltung, einem einleitenden Symposium am 25. und 26. März (siehe Programm-Link am Schluss dieses Beitrags).

Beispielhafte Reihe an der LWL-Klinik in Dortmund

Das Ganze versteht sich als „work in progress“, es können jederzeit noch neue Punkte hinzukommen. Neben einschlägigen Lesungen und Fachgesprächen soll es auch Theater- und Performance-Darbietungen sowie Filmvorführungen geben. Im Laufe der Zeit dürften die Veranstaltungen ganz Westfalen erfassen. Tatsächlich wäre zu hoffen, dass man sich noch etwas entschiedener über Münster hinaus bewegt. Immerhin sind schon jetzt u. a. das Netzwerk Literaturland Westfalen (koordiniert vom Westfälischen Literaturbüro in Unna), das Literaturbüro OWL (Detmold) oder auch das Kulturgut Haus Nottbeck (Oelde) mit an Bord. Im Projekt-Flyer werden weitere Kulturträger „herzlich zur Teilnahme eingeladen“. Vielleicht sind im Vorfeld ja noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden.

Bei der Online-Pressekonferenz zum baldigen Projekt-Start meldete sich auch der Psychiater Hans Joachim Thimm zu Wort, der an der LWL-Klinik in Dortmund-Aplerbeck arbeitet und seit Jahren Lesungen mit psychisch Kranken oder zum Themenkreis veranstaltet. Peter Wawerzinek („Rabenliebe“, „Schluckspecht“) war schon da, ebenso Joe Bausch (Gerichtsmediziner in Kölner „Tatort“ und zeitweise wirklicher Gefängnisarzt) oder der Fußballer Uli Borowka, der in dem Buch „Volle Pulle“ seine Alkoholabhängigkeit thematisierte. Erstaunlich der wachsende Zuspruch. Thimm: „Anfangs kamen manchmal nur zwölf oder dreizehn Zuhörerinnen und Zuhörer, inzwischen sind es bis zu 450.“ Man könnte darin einen Vorläufer zum westfälischen Projekt sehen. Eine Zusammenarbeit würde sich jedenfalls anbieten.

Überschneidungen mit der „Hochliteratur“

Überhaupt scheint Dortmund ein weiteres Zentrum des Geschehens zu sein. Das hier ansässige Fritz-Hüser-Institut gehört zu den Projektpartnern. Außerdem fallen im Zusammenhang Autorennamen aus der Stadt, nämlich der des in Hamm geborenen Tobi Katze („Morgen ist leider auch noch ein Tag: irgendwie hatte ich von meiner Depression mehr erwartet“) und der des prominenten Comedians Torsten Sträter, der sich auf seiner Homepage als Autor, Vorleser und Poetry Slammer bezeichnet und seine depressive Erkrankung in den 1990er Jahren öffentlich gemacht hat.

Umschlag der Textsammlung „Traumata“ (© Aisthesis Verlag)

Um den Themenhorizont zu erweitern: Just Walter Gödden von der erwähnten LWL-Literaturkommission hat die Sammlung „Traumata. Psychische Krisen in Texten von Annette von Droste-Hülshoff bis Jan Christoph Zymny“ (Aisthesis Verlag, 24 Euro) herausgegeben, in der rund 40 einschlägige Titel „quer durch die literarischen Gattungen“ vorgestellt werden.

Tatsächlich gibt es immer wieder aufschlussreiche Überschneidungen zwischen arrivierter, kanonischer Literatur und den Werken von „Outsidern“, zu denen hier auch Schreibversuche von Laien oder z. B. von Gefängnisinsassen gezählt werden. Man denke auf dem Gebiet der Hoch-, ja sozusagen Höchstliteratur nur an Genies wie den für Jahrzehnte „umnachteten“ (oder schlichtweg unverstandenen?) Friedrich Hölderlin oder an Robert Walser, der sich selbst in eine psychiatrische Klinik eingewiesen hat. Ein Quantum an geistig-seelischem Außenseitertum gehört wohl zu den meisten großen Oeuvres. Insofern handelt das Projekt nicht von einem randständigen Thema.

„outside | inside | outside – Literatur und Psychiatrie“. Projekt bis Herbst 2023, unterstützt von der Kulturstiftung des LWL und dem Land NRW.

Programm-Übersicht und Buchungsmöglichkeiten:

http://www.literatur-und-psychiatrie.lwl.org

 




Früher war einfach mehr Kneipe!

Schankraum der Gaststätte Lohsträter, Herringen (Hamm), um 1920. (Gustav-Lübcke-Museum/Sammlung Heinz Hilse)

Ach, wo sind sie nur geblieben, die vielen Eckkneipen Westfalens, zumal im Ruhrgebiet? Wo sind die knarzigen, urigen Typen, die dort Abend für Abend gehockt und frei von der (wohl arg strapazierten) Leber weg geredet oder stundenlang schweigend gesüffelt haben?

Früher war’s nicht besser, aber anders. Da gehörten mindestens zwei Dinge zwingend zum Kneipenwesen: eine Jukebox und ein Flipper. Aber halt! Das war ja schon eine Weiterentwicklung für die damals jüngeren Jahrgänge. Noch vorher zählten zum unverbrüchlichen Inventar die gemeinschaftlichen Sparkästen mit nummerierten Fächern – und Soleier im Glas, das möglichst auf der Theke zu stehen hatte. Zuallererst natürlich stets das „Grundnahrungsmittel“: frisch gezapftes Bier, zünftiger noch in Form des „Herrengedecks“, also Bierchen und Schnäpschen in ritueller Abfolge.

Richtige Arbeiterkneipen habe ich kaum noch kennengelernt. Eine Frage des Jahrgangs und des Wohnviertels. Immerhin hat mein Vater mich (es muss wohl 1958 gewesen sein, zur Fußball-WM in Schweden) im Schatten der Dortmunder Zeche Germania als Kind mal zum Fußballgucken in eine solch proletarische Kneipe mitgenommen. Da flackerte einer der frühen Fernsehapparate – und es ging ziemlich hoch her, wenn ich mich recht entsinne.

O grelles frühes Tageslicht!

Die Zeit, als ich öfter in Kneipen gegangen bin, ist auch schon lange her. Die Lokale hatten sich allerdings schon damals verändert. Wir haben uns meist im vormals kleinbürgerlichen Dortmunder Kreuzviertel herumgetrieben, wo sich in den 1970er Jahren allmählich Szenekneipen herausbildeten, also eher studentische Treffs. Ein abendlicher Lebensmittelpunkt war für uns der „Bunker“, tatsächlich ein ehemaliger Weltkriegsbunker, in dem man sich – buchstäblich unterirdisch – ganze Nächte um die Ohren schlug. Frühmorgens gegen vier ließ der Wirt nach all dem Rock-Gedöns unversehens „Guten Morgen Sonnenschein“ von Nana Mouskouri laufen. Ein Schock. Draußen zwitscherten schon die Vögel. O grelles frühes Tageslicht im Sommer!

Wirtin Ingrid Brede in der Hammer Kneipe „Blauer Affe“, 1962. (Gustav-Lübcke-Museum/Sammlung Ludger Moor, Hamm)

An solche harmlosen Eskapaden bin ich jetzt durch eine Ausstellung im Hammer Gustav-Lübcke-Museum erinnert worden: „Treffpunkt Kneipe“ erzählt die Geschichte, die mit allerlei klösterlichen und privaten Braustätten (wenn etwas übrig war, stellte man halt Bänke auf und bat Gäste hinzu) als Kneipen-Vorläufern beginnt. Anno 1719 hat es allein in Hamm rund 50 Braustellen gegeben, mit der Industrialisierung wuchs die Isenbeck-Brauerei, die mittlerweile auch Geschichte ist. Warsteiner hat die Marke gekauft.

Funktionen gewonnen, Funktionen verloren

Die Kneipe, so erfährt man in der Schau, hat im Laufe der Zeit viele Funktionen gewonnen und nach und nach wieder verloren. Ehedem dienten die Lokale als politische Versammlungsstätten, als Vereinsheime, Orte für Gymnastik und Boxsport (im Rahmen der Arbeiterbewegung), Proben- und Auftrittsräume für Chöre oder sonstige Musikensembles. Überhaupt gab’s hier Kultur sämtlicher Sparten. Etliche Kneipen hatten Theaterbühnen oder dienten mangels Museum als Ausstellungsräume. Zeitweise fanden Modenschauen oder Auktionen statt, es wurden bizarre kleine Weltwunder vorgeführt, auch schauten Zahnärzte nebst anderem ambulanten Gewerbe vorbei. Das ganze bunte Leben.

Bergleute der Zeche Radbod beim Umtrunk, 1913. (Gustav-Lübcke-Museum/Sammlung Christa Weniger)

Zwei westfälische Stätten haben sich mir vor Jahren besonders eingeprägt: zum einen das gediegene, urgemütliche Gasthaus Porten Leve in Warendorf – und die ganz anders geartete „Klosterkanne“, ein bahnhofsnaher Schuppen just in Hamm. Heute kann man’s ja freimütig zugeben: In dieser Spelunke sind auch gewisse Lokaljournalisten verschiedener Blätter gelegentlich schon mal untertags „versackt“. Alle Gäste rauchten wie die Teufel, aus der Jukebox plärrten damals Gassenhauer wie „Waterloo“ von Abba und „Sugar Baby Love“ von den Rubettes, wahlweise auch Schunkler wie „Drink doch eine mit“ von den Bläck Fööss oder „Die kleine Kneipe“ von Peter Alexander. Andere Zeiten, andere Songs, andere Sitten.

Wie es wohl weitergehen wird?

All das war nicht annähernd vergleichbar mit dem, was wir zu jener Zeit in Irland erleben durften. Das war eine andere Kneipen- oder eben Pub-Kultur! Wenn zu so manchem „Pint of Guinness“ der ganze proppenvolle Laden zusammen aus voller Brust Folk-Songs anstimmte, wurde es einem auch ums westfälische Herz recht warm.

Inzwischen hat es einigen Niedergang oder jedenfalls Wandel gegeben. Ganze Kneipenquartiere, wie etwa jenes um den Dortmunder Ostwall herum, sind praktisch restlos verschwunden. Ob das Bochumer „Bermuda-Dreieck“ ein Ersatz ist? Nun ja, es ist nicht dasselbe. Ansonsten sind reine Kneipen vielfach Speiselokalen mit internationaler Anmutung gewichen. Statt von Kneipen redet man öfter von Clubs. Im Gefolge der Corona-Pandemie und erst recht seit Aufkommen der Omikron-Mutation ächzt die gesamte Gastronomie nicht nur unter Personalnot.

Wie es weitergehen wird? Hoffentlich bald wieder vital und betriebsam. Darauf heben wir die Gläser und bringen den landesüblichen Trinkspruch aus: „Wohlsein!“

Lokal fokussierte Ausstellung zum Thema: „Treffpunkt Kneipe. Hammer Lokalgeschichten“. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße. Noch bis 20. März. Mehr Infos:

https://www.museum-hamm.de/ausstellungen/aktuell/treffpunkt-kneipe/
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Der Text ist zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ (Münster) erschienen. www.westfalenspiegel.de




Kinder für Kultur gewinnen, Digitalisierung voranbringen – Neues Konzept beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe

LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger führt einen digitalen ZUgang zum archäologischen Fund (Gebeine einer 5300 bis 4500 v. Chr. gestorbenen Bäuerin) vor: Auf dem Tablet-Bildschirm sieht man, wie sich die Bäuerin die Gelenke ruiniert hat. (Foto: Bernd Berke)

LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger führt einen virtuellen Zugang zum archäologischen Fund (Gebeine einer 5300 bis 4500 v. Chr. gestorbenen Frau) vor: Auf dem Tablet-Bildschirm sieht man, wie sich die Bäuerin ihre Gelenke ruiniert hat. (Foto: Bernd Berke)

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) will die Kultureinrichtungen seines weitläufigen Einzugsgebiets mit einem neuen Langzeit-Konzept unterfüttern, das im fertigen Druck rund 150 illustrierte Seiten umfassen wird. Zeitliche Zukunftsperspektive der Planung: die nächsten zehn Jahre. Eine Zwischenbilanz ist nach fünf Jahren vorgesehen. Und was steht drin im Konzept?

LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger schickt voraus, dass es nicht um strikte Richtungsangaben gehe: „Wir verstehen das Konzept als Kompass und nicht als starren Fahrplan.“ Sie hat die wesentlichen Grundzüge heute im Herner Archäologiemuseum vorgestellt – ein Haus, das sie vormals selbst geleitet hat und das jetzt eine gewisse Vorreiterrolle auf dem Parcours der Reformen einnimmt.

Zwei von insgesamt zehn Punkten gelten als besonders wichtig: Wie gewinnt man Kinder und Jugendliche für Museen und sonstige Kultur, wie hält man sie bei der Sache? Und natürlich läuft auch hier, wie allerwärts, eine weitere Leitlinie auf „Digitalisierung“ hinaus. Auf diesem Felde will man zahlreichen kleineren Museen, die über wenig Mittel verfügen, beratend zur Seite stehen. Rüschoff-Parzinger: „Wenn die Schulen digitalisiert werden, müssen auch die Museen mitmachen. Sonst versteht man sich nicht mehr.“ Kinder und Digitalisierung also. Klingt zunächst noch nicht so furchtbar originell.

Fragebogen-Aktion in rund 1200 Schulen der Region

Doch zunächst zum Nachwuchs. Der LWL hat Fragebögen an alle westfälischen Schulen (rund 1200 an der Zahl) verschickt. Rund 1600 Bögen kamen zurück, weil nicht nur ganze Schulen, sondern auch einzelne Klassen teilgenommen haben. Es wurden so grundlegende Fragen gestellt wie die, was nach Auffassung der Schüler(innen) eigentlich mit Kultur zusammenhängt. Hier ragten – kein Witz – Reiz- und Schlüsselwörter wie Schloss (15,3% der Nennungen) und sogar Blaskapelle hervor. Nicht ganz leicht, daran sinnreich anzuknüpfen. Aber es gibt ja auch noch etliche andere Zugänge, die stets „auf Augenhöhe“ mit den Kindern eröffnet werden sollen.

Der genauerer Blick auf die virtuelle Szene mit der Bäuerin vermittelt einen Eindruck von der mühsamen steinzeitlichen Art des Getreidemahlens. (Foto: Puppeteers / Sebastian Heger)

Der genauere Blick auf die virtuelle Szene mit der Bäuerin vermittelt einen Eindruck von der steinzeitlichen Art des Getreidemahlens. (Foto: Puppeteers / Sebastian Heger)

90 Prozent aller Befragten hatten laut LWL-Umfrage schon mal ein Museum besucht, die allermeisten mit der Schulklasse, viele auch mit der Familie, wobei sich hier schichten- und schulformenspezifische Unterschiede abzeichnen. Kinder und Jugendliche wünschen sich weit überwiegend andere, zeitgemäßere Darbietungsformen in den Museen – weniger klassische Führungen und mehr kreative Aktionen, eigene Erfahrungen inbegriffen, etwa beim Herstellen einschlägiger Objekte. Auch sollen die vermittelten Inhalte möglichst mit dem eigenen Leben zu tun haben – und sei’s auf indirekte, aber nachvollziehbare Weise. Dass hier auch digitale Annäherungen ins Spiel kommen, versteht sich beinahe von selbst.

Eintritt frei, Anfahrt kostenlos

Seit 1. April lief die Versuchsphase, in der Kinder und Jugendliche in den 18 LWL-Museen keinen Eintritt mehr bezahlen mussten. Die Besucherzahlen mancher Häuser haben sich seither so rasant nach oben entwickelt, dass die Vergünstigung jetzt dauerhaft sein soll. Manche NRW-Städte haben es ja bereits in ähnlicher Weise vorgemacht. Kaum minder wirksam: Nach unbürokratischem Antrag (Formular auf der LWL-Internetseite) wird eine Klassen-Anfahrt zum gewünschten Museum vom LWL bezahlt – auch schon mal über mittlere Strecken wie von Detmold nach Herne. 300.000 Euro stehen für solche Bustouren vorerst bereit.

Doch der Verzicht auf Eintrittsgeld und die subventionierten Anfahrten genügen nicht. Die Museen müssen halt Attraktionen bieten. Inhalte und Formen der Darstellung sollen zur Zielgruppe passen, Spaß machen, spannend sein.

Original-Exponat plus virtuelle Darstellung

Und die Digitalisierung der Museumslandschaft? Nun, wohin die Reise in den nächsten zehn Jahren geht, kann eigentlich noch niemand genau wissen, denn die Technik entwickelt sich bekanntlich rasend schnell.

Einstweilen steuert man auf Installationen zu, die im Herner Archäologiemuseum auch schon an mehreren Stationen zu besichtigen sind: Ein Original-Vitrinenstück, beispielsweise ein Faustkeil, wird geradezu „geisterhaft“ holographisch ergänzt. Da sieht man im bewegten virtuellen Bild, wie das Stück in der Steinzeit verwendet worden ist. Auch eine in der Vitrine schwebende Textprojektion gehört dazu. Fraglich bleibt, ob und wie rasch sich solche Effekte abnutzen.

Frappierend auch die Möglichkeit, mit dem eigenen Smartphone oder Tablet ein Museums-Exponat wie jene Gebeine einer vor etwa 7000 Jahren gestorbenen Bäuerin anzusteuern und mit einer virtuellen Erscheinung („Augmented Reality“) auf- oder jedenfalls umzuwerten. Da sieht man, mit welchen Dauerbewegungen beim Getreidemahlen sich die Frau damals ihre Gelenke ruiniert hat. Solche technischen Zaubereien in allen Ehren. Ohne die Aura des Originals wären sie jedoch wenig wert.

Aufwertung des ländlichen Raumes

Unterdessen wird auch schon darüber nachgedacht, ob künftige Ausstellungen als virtueller Rundgang gespeichert werden sollen, sprich: Man könnte eine Schau, die längst geschlossen ist, noch Jahre später durchstreifen, beispielsweise auch zu Hause, mit einer Spezialbrille für Virtual Reality (VR) ausgestattet. Man ahnt schon, dass im Zuge einer solchen Entwicklung kiloschwere gedruckte Kataloge an Bedeutung einbüßen könnten.

Weitere gewichtige Zielvorstellung, die im Konzept dargelegt wird: die Stärkung des ländlichen Raumes auch auf kulturellem Gebiet. Außerdem in Planung: der Ausbau der Burg Hülshoff zum (anglo-neudeutsch so benannten) „Center for Literature“ (CfL) sowie die Stärkung von historischen „Erinnerungsorten“ wie dem Kriegsgefangenenlager Stalag 326 in Schloß Holte-Stukenbrock (Kreis Gütersloh).

Politisch schon beschlossene Sache

All dies und ein maßvoll erweiterter Stellenplan sind Kostenfaktoren. Doch es handelt sich beim Konzept nicht um Traumgespinste, sondern um regionalpolitisch bereits einmütig beschlossene Maßnahmen. Barbara Rüschoff-Parzinger erwähnt in diesem Kontext eigens den Dortmunder Stadtdirektor Jörg Stüdemann, der Kulturdezernt und Kämmerer in Personalunion ist und vom neuen LWL-Konzept angetan sei. Und tatsächlich: Stüdemann dürfte qua Doppelamt nicht nur wissen, zu welchem Zweck man Kultur finanziert, sondern auch: woher das Geld kommen könnte.

Wie im gegenwärtigen Kulturmanagement üblich, ist in derlei konzeptuellen Zusammenhängen immer wieder von Bedarfen (in der Mehrzahl), Evaluierung, Vernetzung, Akteuren oder gar „Stakeholdern“ der Kultur die Rede. Man merkt allenthalben, dass Frau Rüschoff-Parzinger, der dieser Jargon nicht fremd ist, die Dinge systematisch und strategisch angeht. Dennoch betont sie, dass manches auch dem Geschick überlassen bleibt, dass wohl nicht alle Experimente gelingen werden. Auch hier gelten eben Bert Brechts legendäre Songzeilen: „Ja, mach nur einen Plan…“




Aufruhr in der Provinz: Das Jahr 1968 in Westfalen

„1968 in Westfalen“: Der Buchtitel lässt aufhorchen, stehen doch Sauer- und Münsterländer ebenso wie Bewohner von Bergmannssiedlungen im Revier nicht gerade in dem Ruf, Rebellionen anzuzetteln. Folglich müsste es doch eigentlich vor 50 Jahren ganz ruhig geblieben sein, als in Frankfurt, Hamburg, München und Berlin Studenten in Scharen mit der Parole „Unter den Talaren Muff aus 1000 Jahren“ auf die Straße gingen.

Der Historiker Thomas Großbölting von der Uni Münster betreibt in dem Band nun eine Spurensuche. Er will rekonstruieren, was das Jahr 68 im Westfalenland nun wirklich ausgemacht hat. Herausgekommen ist dabei weit mehr als eine simple Chronik von Ereignissen, sondern die prägnante und zugleich einordnende Darstellung eines Umbruchjahres mit seinen Folgewirkungen für die Provinz. Großbölting ist übrigens der Ansicht, dass Dortmund oder Münster seinerzeit eher Mittel- als Großstädte gewesen seien.

Vom kurzen und vom langen ’68

Auch in Westfalen riefen die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg und des charismatischen Bürgerrechtlers Martin Luther King, das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke sowie die Massaker der US-amerikanischen Soldaten in Vietnam massive Reaktionen hervor. Die Menschen versammelten sich in großer Zahl zu Gedenk- oder auch Gebetsstunden, auch kam es zu offenen Protesten gegen Rassismus, Diskriminierung und das militärische Vorgehen der USA in Indochina.

Nachdem Großbölting gleich zu Beginn seines Buches erklärt hat, 1968 könne nicht rein als Jahreszahl verstanden werden, sondern sei vielmehr Chiffre für Widerstand, Proteste und Revolte, geht er auf die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge und Entwicklungen jener Zeit ein. Dabei kommt er zu einer aufschlussreichen Unterscheidung. Der Wissenschaftler spricht von dem „kurzen“ und dem „langen“ 1968.

Er meint damit einerseits die eher ereignisorientierte Ebene. Die beginnt für ihn bereits am 2. Juni 1967 mit dem Tod von Benno Ohnesorg, den während der Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs der Polizist Karl-Heinz Kurras erschoss. Diese Phase endet mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze Ende Mai 1968 im Bundestag – gegen alle Widerstände in der Bevölkerung.

Nachhaltige Veränderung der Gesellschaft

Andererseits – und das ist dann die Langversion – hat 1968 zu nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungen geführt. Nach Darstellung des Historikers sind „ökologisches Bewusstsein, Gleichstellung von Mann und Frau, die Akzeptanz verschiedener Formen von Sexualität, Friedensorientierung, Emanzipation und Partizipation“ heute nicht nur Teil des Mainstreams, sondern man definiere damit auch die „Loyalität zum System“.

An diesen Umwälzungen und speziell an dem „kurzen“ 1968 haben traditionelle Unistädte wie Münster mit den Studierenden ihren Anteil, aber ebenso die dazu im Vergleich noch sehr jungen Hochschulen in Ruhrgebiet. Dass es überhaupt zur Gründung der Unis in Dortmund, Bochum oder Bielefeld kam, steht im engen Zusammenhang mit dem Bildungsnotstand, der nicht nur in Deutschland, sondern in der damaligen westlichen Welt in Folge des Sputnik-Schocks ausgemacht wurde. Sputnik hieß der erste Satellit, den die Sowjetunion ins Weltall geschickt und damit im Westen Bedrohungsängste ausgelöst hatte. Mit der Forcierung von Bildung wollten nun die Industriestaaten im Wettlauf mit den Russen deutlich punkten.

Bildungsnotstand als Keim der Kritik

Bildungsnotstand und Kritik am Bildungssystem sollten allerdings auch zum Thema der Studierenden werden. Ihr Aufbegehren in Westfalen entsprang aber vor allem universitären Anlässen, wie beispielsweise in Bochum als Protest gegen eine geplante Univerfassung. Oftmals ging es allerdings auch um politischen Ereignissen, unter anderem bei der wohl größten Aktion in Münster mit über 2000 Beteiligten, die den damaligen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger bei einem Besuch der Stadt mit Sprechchören ob dessen Nazi-Vergangenheit empfingen.

Nun ist das Buch aber nicht nur lesenswert, weil es aufzeigt, dass auch Studierende in Westfalen es verstanden, auf die Straße zu gehen, sondern es beschreibt auch das gesamte Ausmaß von Aufruhr in Westfalen und darüber hinaus. Wenn man so will, blieb kaum eine gesellschaftliche Gruppe verschont, auch die Kirchen nicht. Beim Katholikentag in Essen gab‘s Debatten am laufenden Band und eine bis dahin kaum gekannte Heftigkeit der Kritik an den Kirchenoberen. Schüler und Lehrlinge machten Front gegen zu hohe Busfahrpreise, Jugendliche forderten mehr Jugendzentren. In Bochum oder auch in Münster machten Aktivistinnen von sich reden, die die traditionelle Rolle von Mann und Frau in Frage stellten und damit die Emanzipationsbewegungen nach vorne brachten.

Als Rudi Dutschke mit Johannes Rau diskutierte

Dass es in diesen stürmischen Zeiten auch Momente gab, die von Sachlichkeit geprägt waren, macht der Autor am Beispiel einer Debatte in der Wattenscheider Stadthalle deutlich. Im Februar 1968 diskutierte dort der damalige Fraktionschef der NRW-SPD (und spätere Bundespräsident) Johannes Rau mit Rudi Dutschke, der sich nach Meinung von Beobachtern nicht als radikaler Studentenführer präsentierte, sondern eher als „parteipolitischer Konkurrent der SPD“.

Wer nun wissen möchte, wo denn eigentlich der Protest seinen Ausgang nahm, den nimmt Großbölting mit auf einen Besuch in den USA Mitte der 60er Jahre, als Studierende sich für Redefreiheit auf dem Campus einsetzten, Woodstock zur Legende wurde, Schwule und Lesben, Native Americans sowie Vietnamkriegsgegner Demonstrationen organisierten. Apropos USA: Großbölting nutzt die letzten Zeilen des Buches, um eindringlich darauf hinzuweisen, dass die heutige Liberalität, die zweifellos 68 zuzuschreiben ist, keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellt.

Thomas Großbölting: „1968 in Westfalen. Akteure, Formen und Nachwirkungen einer Protestbewegung“. Ardey Verlag, Münster. 172 Seiten, 13,90 €.




Der ewige Zwiespalt: Gehört die Stadt Dortmund eher zu Westfalen oder zum Ruhrgebiet?

Vor einigen Tagen gab es ein mächtiges Rumoren im Ruhrgebiet. Oder war’s eher ein klägliches Jammern und Jaulen? Thomas Westphal, Chef der Dortmunder Wirtschaftsförderung, hatte es offenbar gewagt, am gelingenden Strukturwandel des Ruhrgebiets zu zweifeln.

Westfalen oder Ruhrgebiet? Impression aus der Dortmunder Innenstadt, rechts die von Mario Botta entworfene Stadt- und Landesbibliothek. (Foto: Bernd Berke)

Westfalen oder Ruhrgebiet? Impression aus der Dortmunder Innenstadt, vorn die von Mario Botta entworfene Stadt- und Landesbibliothek. (Foto: Bernd Berke)

Der übrigens in Lübeck geborene und also des hiesigen Stallgeruchs ermangelnde, jedoch namentlich für Westfalen prädestinierte Westphal belobhudelte (etwas penetrant pro domo) die von ihm mitverantwortete Entwicklung in Dortmund, das er als digitales Zentrum für Westfalen ausschilderte. Laut WAZ fuhr er in diesem distanzierenden Sinne fort: „…obgleich wir öffentlich immer gerne zum Bestandteil des niedergehenden Ruhrgebiets gemacht werden, sind wir in Wirklichkeit ein Motor der westfälischen Boomregion.“

Das böse Wort vom Niedergang

Oha! Niedergehendes Ruhrgebiet. Bei diesen Reizworten bekamen sie beim Regionalverband Ruhr (RVR), der es sich allzeit angelegen sein lässt, das Revier in günstigem Licht darzustellen, Anfälle von Schnappatmung: Und das uns! Und das vom Wirtschaftsförderer der größten Ruhrgebiets-Kommune, der noch dazu vorher selbst beim RVR gearbeitet hat. Roland Mitschke (Bochum), CDU-Fraktionschef im so genannten Ruhrparlament, sprach deshalb von „Mangel an nachlaufender Loyalität“. Eine hübsche Formulierung, fürwahr.

Besonders aus den Reihen der Ruhrgebiets-CDU wurde vom Dortmunder OB Ullrich Sierau (SPD) nicht nur sofortige, „öffentlich sichtbare Distanzierung“ von den garstigen Worten gefordert, sondern gleich auch noch Westphals Amtsverzicht. Kleine Münze wird da halt nicht ausgezahlt.

Der Westen ist nur eine Richtung

Gewiss, Westphals Sätze waren in der Tat unglücklich zugespitzt. Doch nun mal halb lang. Man schaue sich die Lage von Dortmund auf einer handelsüblichen Landkarte an. Im Westen geht die Stadt zwar ins Ruhrgebiet über, jedoch im Süden ins Sauerland, nordwärts in die Ausläufer des Münsterlandes, östlich nach Unna und ins Vorfeld der Soester Börde. An drei Seiten ist also nicht so sehr die industrielle, sondern vornehmlich eine ländliche Umgebung prägend. Das unterscheidet die Stadt sehr wohl von Gemeinden, die in drangvoller Enge mitten im Pott liegen. Und das wiederum hat Einfluss aufs lokale Bewusstsein.

Nicht zuletzt aus Imagegründen ist es daher langjährig geübte Dortmunder Praxis, sich weniger als Revierkommune zu gerieren, sondern in erster Linie als „Westfalenmetropole“, was sich freilich etwas geschwollen anhört. Hätte man gewisse Gebäudeensembles nach dem Krieg nicht abgerissen, so wäre der historische Zusammenhang vielleicht noch sinnfälliger. So aber hat der übliche sozialdemokatische Betonwust der „autogerechten Stadt“ auf hässliche Weise die Oberhand gewonnen. So richtig westfälisch sieht das nicht mehr aus. Auf dem Gebiet sammelt Münster eindeutig mehr Punkte.

Trotzdem: Immer wieder hat sich die vormalige Freie Reichsstadt und Hansestadt Dortmund gern westfälisch bespiegelt. Namen wie die Westfalenhalle, Westfalenstadion oder Westfälische Rundschau (*1946 †2013) und viele andere künden davon. Richtig, andererseits erscheinen in der Stadt die Ruhrnachrichten. Aber die gehören schon zu den Ausnahmen von der Regel.

Absetzbewegungen

Immer mal wieder hat es auch Absetzbewegungen vom Ruhrgebiet gegeben, um 2007/2008 drohte der damalige Dortmunder Oberbürgermeister Gerhard Langemeyer (SPD) gar brüsk mit dem Austritt aus dem Regionalverband Ruhr (RVR). Der Zwiespalt bewegte ihn auch noch im Herbst 2015. Da referierte der Ex-OB gemeinsam mit dem einstigen NRW-Städtebauminister Christoph Zöpel über das Thema „Heimat Dortmund – Großstadt in Westfalen oder Metropole Ruhr?“

Niemals hat man sich in Dortmund so mit dem „Pott“ als Ganzes identifiziert wie etwa in Essen, wo sie zwar weniger Einwohner haben als in Dortmund, sich aber gleichwohl als Revier-Kapitale sehen. Auch die Phantasien von einer künftigen „Ruhrstadt“ fielen in Dortmund am wenigsten auf fruchtbaren Boden.

Anzeichen eines „Niedergangs“ gibt es indessen nicht nur im mittleren und westlichen Revier. Da nützt alle geflissentliche Berufung auf Westfalen nichts: Auch Dortmund hat arge Probleme, die eben nicht mit landsmannschaftlich getönter Symbolpolitik zu bewältigen sind.




Als Nashörner und Elefanten hier lebten – Ausstellung „Wildes Westfalen“ in Herne

Die ältesten Exponate sind rund 465 Millionen Jahre alt. Man kann sie allerdings schwerlich erkennen, jedenfalls nicht mit bloßem Auge.

Es sind drei so genannte Trilobiten, Gliederfüßler, die mit Krebsen und Insekten verwandt sind. Gefunden wurden die winzigen, in Gestein eingeschlossenen Urzeit-Zeugnisse in Herscheid (Märkischer Kreis). Also zählen auch diese unscheinbaren Wesen zur Ausstellung mit dem forciert populären Titel „Wildes Westfalen“ (gemeint: wild lebende Tiere in Westfalen), die im LWL-Museum für Archäologie in Herne einige Zeugnisse aus der zoologischen Vergangenheit dieser Region in Vitrinen präsentiert.

"Wildes Westfalen" - Titelumschlag des Begleitbuchs (© LWL)

„Wildes Westfalen“ – Titelumschlag des Begleitbuchs (© LWL)

In Jahrmillionen haben auch auf dem Gebiet, das heute Westfalen heißt, die unterschiedlichsten klimatischen Bedingungen geherrscht, Eis- und Warmzeiten wechselten einander ab, Vegetation und Landschaftsgestalt wandelten sich desgleichen. So darf es im Prinzip eigentlich gar nicht so sehr verwundern, dass hier zeitweise Flusspferde, Krokodile und Elefanten gelebt haben. Saurier selbstverständlich auch.

Es finden sich ein paar staunenswerte Belegstücke in dieser Ausstellung. Etwa 1,8 bis 2,2 Millionen Jahre alt (auf zwei bis drei Tage kommt es da ja nicht an) ist jener Block mit drei Zähnen eines „Südelefanten“, der damals aus Afrika in die hiesigen Breiten einwanderte und als Vorfahre späterer Mammut-Arten gilt. Man vermutet, dass die Tiere, deren Überreste man am Haarstrang in der Nähe von Soest gefunden hat, bei einer Flutwelle im schmalen Flussbett ertrunken sind.

1,8 bis 2,2 Mio. Jahre alt: Block mit drei Zähnen von Südelefanten, gefunden am Haarstrang bei Soest (Foto: Bernd Berke)

1,8 bis 2,2 Mio. Jahre alt: Block mit drei Zähnen von Südelefanten, gefunden am Haarstrang bei Soest (LWL-Museum für Naturkunde, Münster – Foto: Bernd Berke)

Kaum minder imposant ist der Schädel eines raren Waldnashorns, der in der Dechenhöhle bei Iserlohn zum Vorschein kam. Mit über 200.000 Jahren ist er jedoch vergleichsweise „jung“.

Das zeitliche Spektrum der recht übersichtlichen Ausstellung (90 archäologische Objekte in 17 Vitrinen) reicht bis in die Frühneuzeit. Man bekommt nicht nur Überreste von Tieren zu sehen, sondern auch einzelne menschliche Schöpfungen mit kultischem Charakter oder alltäglichem Gebrauchswert, beispielsweise einen hirschförmigen Kerzenleuchter oder Spielzeug in Pferdegestalt.

Manche Gegenstände zeugen zudem vom sich ändernden Verhältnis der Menschen zu Tieren. So wurden Rinder zunächst vor allem gejagt und hernach allmählich domestiziert. Das prägte natürlich auch Wahrnehmung und Darstellung.

So ganz haben die Museumsleute der alleinigen Aussagekraft der Fundstücke offenbar nicht getraut, auch galt es wohl, den optischen Umfang etwas zu erweitern. Und so hat sich eine halbwegs charmante Notlösung ergeben: Der Zufall wollte es, dass langjährig tätige und also gewiefte Amateurfotografen des örtlichen Naturschutzbundes (NABU) ohnehin Kontakt zu den Fachleuten gesucht hatten. Ihre Aufnahmen, 70 an der Zahl, ergänzen und spiegeln nun die vorzeitliche Tierwelt, machen sie ein bisschen fassbarer und holen sie ans Heute heran; wenn auch in Einzelfällen um den Preis verzeihlicher „Schummelei“.

So tritt im Foto die Kellerassel als Verwandte der eingangs erwähnten Trilobiten auf. Und für die blühenden Phantasien, die sich Menschen früher aus Tieren gemacht haben, mussten eben Bildbearbeitungsprogramme herhalten, mit deren Hilfe täuschend „echt“ wirkende Bilder von Einhorn, Pegasus und Drachen entstanden sind.

Ausstellung und Begleitbuch sind zu gewissen Teilen noch das Werk des 2014 verstorbenen Altertumsforschers Prof. Torsten Capelle. Einige seiner Freunde und Schüler haben die Anregungen des Doyens verwirklicht. So knüpft man Traditionsstränge in der Wissenschaft.

Dennoch, ganz ehrlich: Ein Besuch lohnt eher bei speziellem Interesse, wenn man ohnehin in der Gegend um Herne zu tun hat oder wenn man weitere Abteilungen des Hauses besichtigt. Auch ist es eine Option, sich das Begleitbuch zu besorgen, denn richtig gesetzte Worte erschließen die Objekte womöglich getreulicher, als Fotografien heutiger Tiere.

„Wildes Westfalen“. Tierische Fotos und Funde. 1. November 2015 bis 29. Mai 2016. LWL-Museum für Archäologie, Herne, Europaplatz 1. Tel.: 02323 / 94 628-0. Geöffnet Di, Mi, Fr 9-17, Do 9-19 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr. Freier Eintritt (freiwilliger Obolus kann am Ausgang in ein Sparschwein gesteckt werden). Weitere Infos: www.lwl-landesmuseum-herne.de




DVD-Doku zeigt, wie die Amerikaner im April 1945 nach Westfalen kamen…

Im Frühjahr 1945 endete der Zweite Weltkrieg, weil sowjetische und amerikanische Truppen mit ihren Verbündeten von mehreren Seiten das „Reich“ in die Zange nahmen. Auch in Westfalen durchkämmten US-Soldaten Dorf für Dorf, Stadt für Stadt, um Deutschland von der Naziherrschaft zu befreien. Dabei nahmen sie auch Kamerateams mit, die den Einsatz aus amerikanischer Sicht filmten. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat aus diesen Aufnahmen eine eindrucksvolle DVD über Westfalen zusammengestellt.

Als zum Beispiel der Kulturverein der Stadt Sprockhövel vor einigen Tagen diese neue DVD öffentlich aufführte, war der Saal proppevoll. Die überwiegend älteren Besucher waren bei Kriegsende Kinder oder Jugendliche gewesen und erinnerten sich nur in Details an die Ereignisse rund um Ostern des Jahres 1945. Die Dokumentation auf der Leinwand zeigte ihnen natürlich nur das einseitige Bild der amerikanischen Kameraleute, die ihre Aufnahmen auch für die Kino-Wochenschauen in der Heimat drehten.

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In den Schwarz-Weiß-Filmausschnitten, die der LWL aus acht Stunden Material des National-Archivs Washington zusammengestellt hat, kommen neben Kampfhandlungen und Kriegszerstöungen durch die Bomben auch die Folgen der Grausamenkeiten in den Lagern für Fremdarbeiter und Kriegsgefangene und die Internierung von NS-Funktionären vor. Die Sieger zeigen sich bei Paraden und Trauerfeiern für ihre gefallenen Kameraden, und von den deutschen Menschen sieht man einen erstaunlich schnellen Übergang in die Normalität des Alltagslebens in Friedenszeiten.

Aus Westfalen sind unter anderem Szenen aus folgenden Gemeinden und Städten zu sehen: Altenhundem und Würdinghausen im Kreis Olpe, Bad Salzuflen, Beckum, Bochum, Gelsenkirchen, Haltern, Hamm, Menden, Hemer, Münster, Olpe, Herne, Lügde, Minden, Paderborn, Stuckenbrock, Elspe, Recklinghausen, Dortmund, Schmallenberg, Soest und Siegen, Wehrden, Suttrop bei Warstein und Witten. Die Idee zu dieser Zusammenstellung bisher überwiegend unveröffentlichter Aufnahmen hatte Professor Markus Köster, der Leiter des LWL-Medienzentrums. Dort kann man die DVD auch privat erwerben.

Als die Amerikaner kamen. US-Filmaufnahmen vom Kriegsende 1945 in Westfalen. DVD mit Begleitheft, 14,90Euro. Bezug im LWL-Medienzentrum für Westfalen, Fürstenbergstr. 14, 48147 Münster. E-Mail: medienzentrum@lwl.org.




Auf der Suche nach dem Wesen Westfalens – eine Schau wie aus dem Füllhorn

Was bedeutet heute noch das Wort „westfälisch“, was war und ist sein Wesenskern? Gibt es ein Gemeinschaftsgefühl der Einwohner Westfalens? Mit derlei gewichtigen Fragen hantiert jetzt eine Ausstellung im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte.

Rund 800 Exponate – hie und da kleinteilig gezählt – bietet man für die Schau „200 Jahre Westfalen. Jetzt!“ auf. Die historische Maßzahl leitet sich vom Wiener Kongress her, nach dem Westfalen anno 1815, fast schon exakt in seinen heutigen Grenzen, zum Bestandteil Preußens wurde.

Weitaus älter als das Rheinland

Harry Kurt Voigtsberger, Präsident der Nordrhein-Westfalen-Stiftung, hält dafür, dass es Westfalen sozusagen „schon immer“ (erste Erwähnung im 8. Jahrhundert) gegeben hat, während das Rheinland sich erst ganz allmählich als solches verstanden habe. Auch Dortmunds OB Ullrich Sierau gab sich bei der Pressevorbesichtigung amtsgemäß lokal- und regionalpatriotisch. An die Frage, ob nun Münster oder Dortmund die wahre Westfalenmetropole sei, wurde dabei jedoch nicht gerührt.

Grubenpferd trabt in Richtung Bergmanns-Wohnzimmer, dahinter ein Kleinstwagen aus westfälischer Fabrikation. (Foto: Bernd Berke)

Grubenpferd trabt in Richtung Bergmanns-Wohnzimmer, dahinter ein Kleinstwagen aus westfälischer Fabrikation. (Foto: Bernd Berke)

Es schwirrten jedoch kleine Pfeile in Richtung Düsseldorf und Köln. Die Westfalen, so hieß es, halten, was die Rheinländer versprechen. Fast hätte man denken können, hier ginge es nicht in erster Linie um eine Ausstellung, sondern vor allem um eine regionalpolitische und touristische Maßnahme zur Stützung des manchmal etwas vernachlässigten Teils von NRW. Schirmherrin der Schau ist übrigens NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), die auch zur Eröffnung sprechen wird.

Klischees und ihre Kehrseite

Es ist wohl nur folgerichtig, dass die Ausstellung gleich zu Beginn die Klischees aufgreift, die über Westfalen seit langer Zeit in Umlauf sind. Demnach sind die hiesigen Landsleute bodenständig, verwurzelt, stur, manchmal auch ein wenig rückständig und provinziell. Das alles kann man natürlich auch positiv wenden. Hier, so die wohlwollende Lesart, macht man eben kein überflüssiges Tamtam, man ist traditions- und kostenbewusst, während man am Rhein immer gleich loslegen will, koste es, was es wolle.

Auch eine Dortmunder Kneipe im Stil der 50er Jahre zählt zum Inventar der Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Auch eine Dortmunder Kneipe im Stil der 50er Jahre zählt zum Inventar der Ausstellung. (Foto: Bernd Berke)

Was aber bekommt man in Dortmund zu sehen? Nun, lauter angehäufte Schauwerte, überwiegend dicht an dicht. Hier steht ein Pferd, dort ein Kleinstwagen, dazwischen sieht man das Wohnzimmer eines Bergmanns und seine noch von Kohlenstaub geschwärzte Berufskleidung. In diesem Ambiente dürfen die Besucher sich auch vors alte Röhrenfernsehgerät setzen und betagte Broschüren durchblättern, wobei ihnen besagtes Pferd über die Schulter schaut und nicht etwa das Westfalenross darstellt, sondern ein Grubenpferd, das sein Gnadenbrot bekommt.

Hin und her durch die Zeiten

Einige Schritte weiter ist eine Dortmunder Kneipe der 1950er Jahre aufgebaut, nebenan prangen Dampfmaschinen- und Eisenbahnmodelle, die für die Zeit der Industrialisierung stehen. Eine mit Original-Mobiliar nachempfundene Amtsstube soll uns derweil in die Zeit des Freiherrn vom Stein zurückversetzen, der als preußischer Reformer auch die frühen Geschicke Westfalens bestimmte.

Noch ein Zeitsprung: Zwei Jungs aus Waltrop haben ihr heimisches Zimmer ins Museum gegeben – mitsamt jeweiliger Fan-Bettwäsche. Der eine steht auf den BVB, der andere auf Schalke. So dicht beieinander, wirkt das schwarzgelb-blauweiße Farbenspiel schon beinahe schockierend. Aber gut. Man ist ja tolerant. Beides gehört zu Westfalen.

Es ließen sich noch etliche, mehr oder weniger kuriose Exponate aufzählen, beispielsweise ein als zoologische Rarität präsentiertes Mischwesen („Gänseziege“), das allerdings auf einen Scherz des einstigen Münsteraner Zoodirektors Hermann Landois zurückgeht, der mit seinem bizarren Einfall Besucher anlocken wollte. Hübsche Anekdote. Landleben, Schützenfeste, Karneval und manches andere Thema werden gleichfalls gestreift.

Und. Und. Und. Kurzum: Man fühlt sich insgesamt ein wenig hin- und hergezogen und wähnt sich manchmal gar in einem Labyrinth.

Freihändige Leihgaben der Heimatvereine

Nun war zur Pressekonferenz noch keine Beschriftung der Ausstellungsstücke vorhanden, die Veranstalter haben terminlich „auf Kante genäht“. Somit bleibt zunächst der Eindruck eines Füllhorns, ja eines Wunderkammer-Sammelsuriums, das zuweilen reichlich assoziativ arrangiert worden ist. Mag sein, dass sich all dies im fertigen Zustand besser erschließt. Auch dürfte man sich dann besser in gewisse Einzelheiten vertiefen können. Ein Motto der Ausstellung lautet jedenfalls „Mach dir dein eigenes Bild“. Ja, diese Freiheit wird man sich wohl nehmen müssen.

Zu den 136 Leihgebern zählen zahlreiche westfälische Heimatvereine, deren Dachverband heuer sein hundertjähriges Jubiläum begeht. Die Vereine durften Stücke nach Gusto einreichen, das vielköpfige Ausstellungsteam (Kuratorinnen: Dr. Brigitte Buberl, Carina Berndt) musste dann halt zusehen, ob sie im Konzept unterzubringen waren. Keine leichtes Unterfangen, fürwahr.

Wandelbares Territorium

Die Schau ist in sechs Hauptbereiche gegliedert, welche da heißen: Prolog, Gewächshaus, Siedlung, Horizont, Archiv und Territorium. Klingt nach knirschender Kopfarbeit. Das „Territorium“ wird sich im Laufe der Ausstellungsdauer zweimal grundlegend verändern und vorherige Bestände ins Archiv auslagern. Anfangs steht der Aufbruch in die Moderne im Fokus, hernach wird es ab November u. a. um Wasser als Triebkraft gehen (Talsperren, Kanäle etc.) und schließlich ab Januar 2016 um Einwanderung und Integration in Westfalen. Man hat dies wohl aus nahe liegenden Gründen als Pflichtprogramm verstanden.

Nun verraten wir noch, was es mit dem genannten Kleinstwagen auf sich hat. Es ist ein Kleinschnittger-Cabrio aus den 50er Jahren, hergestellt im westfälischen Arnsberg. Das heute niedlich wirkende Fahrzeug hatte keinen Rückwärtsgang. Und was lernen wir daraus? In Westfalen blickt man nicht nur zurück, sondern oft auch ganz entschieden nach vorn.

„200 Jahre Westfalen. Jetzt!“ 28. August 2015 bis 28. Februar 2016 im Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund, Hansastraße 3. Tel.: 0231/2 55 22. www.mkk.dortmund.de in Kooperation mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und dem Westfälischen Heimatbund.

Geöffnet Di, Mi, Fr, So 10-17, Do 10-20, Sa 12-17 Uhr. Eintritt 6 Euro, ermäßigt 3 Euro. Katalog 19,90 Euro. Umfangreiches Begleitprogramm, außerdem Aktionen wie Westfälische Büffets und „Selfie“-Fotos an bestimmten Punkten der Ausstellung.

Die Schau wandert – in verkleinerter Form – ab Mai 2016 in neun weitere westfälische Orte: Wadersloh, Brilon, Höxter-Corvey, Lüdenscheid, Lüdinghausen, Bünde, Gescher, Minden und Paderborn.




„Westfälischer Droste-Sommer 2013“ – und der Eintritt ist durchgehend frei

„Süße Ruh’, süßer Taumel im Gras…“ Unter diesem Titel kann man ab Samstag, 15. Juni, an drei verschiedenen Orten für jeweils vier bis fünf Wochen den „Westfälischen Droste-Sommer 2013“ erleben. Natürlich ist das Motto ein Zitat aus dem lyrischen Werk der berühmten Dichterin aus dem Münsterland.

Annette von Droste-Hülshoff auf der Briefmarke

Annette von Droste-Hülshoff auf der Briefmarke

Die Annette von Droste-Gesellschaft hat zusammen mit der Literaturkommission des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) einen mobilen, multi-medialen Museums-Pavillon erstellen lassen, in dem man nicht nur Literatur sehen und hören kann, sondern auch erleben soll.

Es geht los am kommenden Samstag um 16 Uhr mit dem Literaturfest auf der Burg Hülshoff in Havixbeck – dort, wo Annette geboren wurde. Als besonderer Gast wird die bekannte Schauspielerin Martina Gedeck eine Auswahl von Droste-Texten rezitieren. Außerdem kann man zur Eröffnung in Havixbeck und an den beiden anderen Orten moderne Droste-Vertonungen des Jazz-Musikers Jan Klare hören, und die drei Schriftsteller Frank Klötgen, Fabian Navarro und Rene Sydow tragen moderne Lyrik mit Droste-Bezug vor. Auf Hülshoff bleibt der Pavillon bis zum 14. Juli.

Die zweite Etappe des Sommerfestes ist ab 20. Juli die Abtei Marienmünster im Weserbergland (bis 25. August), die dritte Etappe kann man ab 31. August bis zum 29. September im Haus Rüschhaus in Münster-Nienberge erleben, wo Annette lange gelebt hat. Die Eröffnungsveranstaltung beginnt an den genannten Samstagen jeweils um 16 Uhr. Der Eintritt zu den Veranstaltungen und zu der Ausstellung ist jeweils frei.

Infos: www.droste-gesellschaft.de




Museum für westfälische Literatur: Haus Nottbeck im Münsterland lohnt einen Besuch

Man kann ja bei diesem Wetter kaum ins Freibad gehen, und das Herumtollen auf Wiesen macht bei dem knochenharten Boden auch keinen Spaß. Da bietet sich ja eher etwas Kulturelles am – zum Beispiel das Haus Nottbeck im südlichen Münsterland. „Kulturgut“ nennt sich das westfälische Wasserschloss offiziell, und es ist wirklich einen Ausflug wert.

Das Haupthaus mit dem Museum.Foto: LWL

Das Haupthaus mit dem Museum.
Foto: LWL

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat sich vor Jahren zusammen mit dem Kreis Warendorf des alten Herrensitzes im Oelder Stadtteil Stromberg angenommen. Entstanden sind nicht nur ein Tagungszentrum und ein „Kultur-Café“, sondern als Kernstück findet man im Haupthaus das Museum für westfälische Literatur. Von den Anfängen der Lesekultur bis in die Gegenwart wird hier das Leben und Werk von Schriftstellern und Schriftstellerinnen aus Westfalen liebevoll dargestellt, mit Dokumenten und Original-Gegenständen, aber auch mit Hör- und Video-Beispielen und mit ausführlichen Lebensläufen und Werkbeschreibungen. Dabei kamen nicht nur in Westfalen geborene Dichter ins Programm, sondern auch Literaten, die nur zeitweise in Westfalen oder Lippe gelebt und Spuren hinterlassen haben.

Das Kulturgut bietet aber auch ein wechselndes Programm. Zum Beispiel am 13. April Poetry-Slam unter dem Titel „Dead or Alive Poetry-Slam: Die besten Slam-Poeten gegen Legenden der Literatur“ oder (bis zum 12. Mai) eine Ausstellung des Graphikers und Buchkünstlers H. D. Gölzenleuchter. Am Sonntag, 7. April, kann man den Künstler im Museum in seinem „offenen Atelier“ besuchen.

Das Haus Nottbeck besticht auch durch seine beschauliche Lage im dort leicht hügeligen Südmünsterland. Im Park des Kulturguts kann man sich in der Nähe von drei „Hör-Inseln“ entspannen.

Kulturgut Haus Nottbeck. Museum für Westfälische Literatur. Landrat-Predeick-Allee 1, 59302 Oelde, Tel: 02529 / 94 55 90. www.kulturgut-nottbeck.de. Öffnungszeiten Literaturmuseum: Dienstag bis Freitag 14 bis 18 Uhr, samstags, sonntags und an Feiertagen 11 bis 18 Uhr. Freier Eintritt.




„Goldene Pracht“: 300 Objekte mittelalterlicher Goldschmiedekunst ab Februar in Münster

Es geht nicht nur um Reiz und Glanz des Edelmetalls: Die Ausstellung „Goldene Pracht“ in Münster will als interdisziplinäres Kooperationsprojekt das theologische, historische und soziale Umfeld beleuchten, im dem kostbare Werke mittelalterlicher Schatzkunst entstanden sind. Gemeinsam mit dem Landesmuseum des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) und dem Bistum Münster ist der Forschungsverbund „Religion und Politik“ an der Universität Münster an dem Projekt beteiligt.

Nach Aussage des Münsteraner Historikers Prof. Gerd Althoff würdigt die Ausstellung erstmals die Pracht westfälischer Goldschmiedekunst, die lange im Verborgenen schlummerte: „Im Vergleich mit den internationalen Spitzenwerken wird sich dem Publikum ihr hohes Niveau erschließen.“

Ab 26. Februar zeigt die Ausstellung auf 1500 Quadratmetern im Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte und in der Domkammer rund 300 Exponate aus dem 10. bis 16. Jahrhundert. Von den 240 Leihgaben kommen 220 aus Deutschland, 180 davon aus westfälischen Kirchen, Klöstern, Archiven und Museen. Der Rest stammt aus Belgien, Großbritannien, Finnland, Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz. Das LWL-Landesmuseum und die Domkammer steuern selbst 60 Exponate bei.

Herausragende Stücke aus dem Ausland sind zum Beispiel die Thronende Muttergottes von Walcourt/Belgien, die weltweit älteste Monstranz aus der belgischen Abtei Herkenrode oder der Sifridus-Kelch aus dem finnischen Borga, der im 30-jährigen Krieg (1618-1648) aus dem Osnabrücker Schatz verschwand. Die Goldschmiedekunst wird in der Ausstellung ergänzt durch Skulpturen, Tafelbilder, Buchmalerei und liturgische Gewänder. Neben schriftlichen Dokumenten veranschaulichen sie den künstlerischen Rang, die Symbolik und die vielschichtige Bedeutung der Goldschmiedewerke.

Kennzeichen der Ausstellung ist der Vergleich westfälischer Goldschmiedekunst mit internationalen Arbeiten. So lassen sich nicht nur internationale künstlerische Einflüsse auf die westfälische Kunst entdecken, sondern auch die hohe Qualität der Objekte, meint der Kurator des Bistums Münster, Holger Kempkens: „Der Beckumer Prudentia-Schrein, in heimischer Goldschmiedeproduktion entstanden, wird neben dem berühmten Marienschrein aus Tournai erstrahlen, der aus der berühmten Werkstatt des Nikolas von Verdun stammt, dem Erbauer des Dreikönigsschreins im Kölner Dom.“

Reliquien-Statuette des Heiligen Laurentius, aus Senden (um 1390). (LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster / Foto: Sabine Ahlbrand-Dornseif)

Reliquien-Statuette des Heiligen Laurentius, aus Senden (um 1390). (LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster / Foto: Sabine Ahlbrand-Dornseif)

Nach Ansicht von Prof. Gerd Althoff vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ schreibe die Ausstellung ein Stück westfälischer Geschichte neu. „Das Spätmittelalter stellt sich hier nicht als Zeitalter des Niedergangs dar, sondern als kulturelle Blütezeit: Ein selbstbewusstes Bürgertum stiftete aus tiefer Frömmigkeit hochwertige Kreuze, Kelche oder Schreine. Einige Klischees über die Provinzialität der Westfalen lassen sich im Licht der ‚Goldenen Pracht‘ über Bord werfen.“

Wichtigste Produktionsstätten in Westfalen waren zunächst die Bischofssitze Münster, Paderborn und Osnabrück sowie das Benediktinerkloster Corvey und das Frauenstift Essen, wie die Schau nach den Worten von Kurator Kempkens verdeutlichen wird. Ab dem 13. Jahrhundert entstanden die Werke zunehmend in den erblühenden Hansestädten Soest und Dortmund. Historiker Althoff: „Die Entstehung dieser goldenen Pracht stellt einen wesentlichen, bislang kaum erschlossenen Aspekt der Geschichte Westfalens dar und kann die historische Identität der Region genauso stärken wie die Erinnerung an den Sieg über die Römer und an den Westfälischen Frieden.“

Von der Kunstfertigkeit der Goldschmiede zeugen in der Ausstellung Schätze wie der Cappenberger Barbarossa-Kopf, das wohl erste Porträt des Mittelalters, das Borghorster Reliquienkreuz oder einzigartige Silberstatuetten wie die der Heiligen Agnes aus dem Münsterischen Domschatz. „Viele Stücke holen wir erstmals aus dem Verborgenen“, sagt Bistums-Kurator Kempkens. „So werden die Apostelfiguren vom Hochaltar des Münsterischen Doms nach Jahrzehnten zum ersten Mal wieder öffentlich zu sehen sein.“ Die Schau zeigt aber auch weltliche Kostbarkeiten wie das Osnabrücker Ratssilber.

Die Ausstellung „Goldene Pracht“ wird vom 26. Februar bis 28. Mai im LWL-Landesmuseum für Kunst und Kultur und in der Domkammer in Münster gezeigt. Ein „Goldener Pavillon“ mit der Nachbildung einer mittelalterlichen Goldschmiedewerkstatt verbindet beide Ausstellungsorte. Das Museum hat täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, donnerstags bis 21 Uhr geöffnet. Im Hirmer Verlag erscheint ein 480-seitiger Katalog, der in der Ausstellung 29 Euro kosten wird.

Info-Telefon: (02 51) 59 07-201. Internet: www.goldene-pracht.de




„Der Seiltänzer“: Ein Priester in Westfalen

Die Abschaffung des Zölibats und Konsequenzen aus den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche – das sind die Kernforderungen einer Aufsehen erregenden Predigt, die der Priester Andreas Wingert in seiner Gemeinde hält. Wochen später sieht er sich selbst mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert und steht unvermutet vor einem Scherbenhaufen. Klugen Rat und Hilfe erhofft er sich – wie so oft in seinem Leben – von seinem besten Freund Thomas. Doch dieser liegt ausgerechnet jetzt mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus.

Nach einem Besuch bei Thomas begibt sich Andreas auf eine Autofahrt kreuz und quer durch Westfalen, von Münster bis ins tiefste Sauerland. Diese Fahrtwird insgesamt 5 Stunden dauern. In diesen 5 Stunden erinnert sich Andreas: An eine Kindheit und Jugend in der westfälischen Provinz, an die seitdem bestehende Lebensfreundschaft mit Thomas, an die gemeinsamen Erlebnisse ihrer Studienjahre in Berlin, Köln und Bonn, Wales und München. Danach schlagen die Freunde sehr unterschiedliche Wege ein. Thomas heiratet, gründet in Münster eine Familie und macht als Geisteswissenschaftler Karriere. Andreas hingegen geht ins Paderborner Priesterseminar und wählt die Kirche als Lebenspartnerin, „viel zickiger, viel strenger, viel unberechenbarer“, als ein Ehepartner sein könnte, wohl wissend „dass es kein ungefährlicher Bund für ihn“ ist. Schon immer fasziniert von den Ritualen der katholischen Kirche, ist er sich sicher, dass der Glaube sein Sicherheitsnetz sein kann, „über dem das Seil aufgespannt ist“.

Mit „Der Seiltänzer“ legt Michael Göring ein mutiges Buch zu einem brandaktuellen Thema vor. Auf zwei Zeitebenen vermittelt er in einer klaren, fast nüchternen Sprache ein  eindringliches Bild der Probleme und Anfechtungen, welche in unserer Zeit ungut in das Leben einzelner als auch der Gemeinschaft eingreifen. Die Missbrauchsvorwürfe sind zwar das vordergründige Thema, doch Michael Göring zeigt anhand des Konfliktes anschaulich, zu welch vergifteter Atmosphäre und zu welch verhärteten Fronten übereifriges Denunziantentum, Kollektivschuld-Vermutung und Generalverdacht führen können. Göring selbst betont, dass er einen Entwicklungsroman habe schreiben wollen und keine theologische Streitschrift. Dennoch erzählt er eben nicht nur von Wendepunkten und Anfechtungen des Alltags, sondern auch von religiöser Berufung und der Gratwanderung eines Priesters. Nicht zuletzt die Deutschland-Visite des Papstes hat gezeigt, wie viele Menschen sich nach religiöser Orientierung sehnen, sich aber auch an den Dogmen der katholischen Kirche reiben. Schon deshalb ist diesem Buch nicht nur Erfolg, sondern auch Diskussion zu wünschen.

Als Dreingabe neben all diesen „schweren“ Themen macht der Autor sich aber auch noch um etwas anderes verdient. Auch wenn die Hauptschauplätze des Romans fiktive Namen tragen, Göring zeichnet mit wenigen Worten ein Bild der alten BRD und fängt die Atmosphäre des zweigeteilten Landes unverfälscht ein. Vor allem die in Westfalen und im Sauerland spielenden Passagen werden auch für viele Revierbürger einen hohen Wiedererkennungswert haben.

Zum Schluss verliert der Roman etwas von seinem Schwung, nicht nur die Dialoge wirken auf einmal zu bemüht. Um es westfälisch zu sagen, das Ende war mir zu verschwurbelt und passte nicht zur klaren Sprache des Buches.

INFO:

Der Autor Michael Göring leitet als Vorsitzender des Vorstandes die ZEIT Stiftung Ebelin und Bucerius in Hamburg. Darüber hinaus ist er Honorarprofessor am Institut für Kultur und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Der Mitte September erschienene Seiltänzer ist – nach vielen Fachpublikationen – sein erster Roman.

Michael Göring: „Der Seiltänzer“. Verlag Hoffmann und Campe, 352 Seiten, 19,99 Euro.

Verlagsseite zum Buch: http://www.hoffmann-und-campe.de/go/der-seiltaenzer

 

 




Eine Frau gräbt sich durch Westfalen

Ein wahrhaft tiefschürfender Beruf: Rund 34 Jahre lang hat Dr. Gabriele Isenberg (65) als Archäologin den geschichtlichen Untergrund Westfalens eingehend erforscht. Ihre Arbeit hat viel mit der Identität der Region zu tun.

Hunderte von Grabungen im gesamten Landesteil hat sie selbst mitgemacht oder angeregt. Isenberg: „Wir waren ein westfälischer Wanderzirkus.” Sie und ihre Mitarbeiter förderten Schätze zutage, die bis heute den jeweiligen Historien-Stolz der Orte beflügeln.

Die Frau, die jetzt in den Ruhestand gegangen ist, weiß viel zu erzählen. In den letzten Jahren hat sie als Chef-Archäologin des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) die Geschicke mehr vom Schreibtisch aus geleitet. Zuvor aber war sie mindestens zehn Monate im Jahr durch Westfalen unterwegs – Tag für Tag, bei fast jedem Wetter. Unten in den Gra-bungsstätten, so versichert sie, sei es im Sommer ungleich heißer und im Winter kälter als an der Erdoberfläche.

Nette „Kiebitze”,
aufmerksame Bürger

Entschädigt werde man jedoch doppelt: „Es gibt immer etwas Neues”. Und die Passanten zeigen oft reges Interesse: „Viele Leute kommen jeden Tag am Bauzaun vorbei, erkundigen sich nach Fortschritten und bringen auch schon mal Getränke oder Kuchen mit.” Nette, neugierige „Kiebitze” also. Manchmal auch mehr: Nicht selten alarmieren aufmerksame Bürger die Behörden, wenn durch Bauarbeiten etwaige Fundorte bedroht zu sein scheinen.

Gabriele Isenberg ist Mittelalter-Spezialistin (Epochen-Beginn um 800 n. Chr.), doch ihre Forschungen reichen bis weit ins 20. Jahrhundert. Als eine der ersten Wissenschaftlerinnen überhaupt hat sie „KZ-Archäologie” betrieben. In Witten-Annen, wo sich ein Außenlager des KZ Buchenwald befand, barg sie aus einem Löschteich Trinkgefäße und andere Gegenstände, die von elenden Haftbedingungen zeugen – Funde von erschreckender Wahrhaftigkeit. Auch der Bombenschutt des Zweiten Weltkriegs enthält erschütternde Zeugnisse – bis zur verkohlten Spielpuppe eines kleinen Mädchens.

Was aber macht Westfalen im Mittelalter aus? Isenberg: „Unsere Vorfahren kamen spät zum Christentum, dann aber ungemein schnell.” Es habe in diesen Breiten einen regelrechten Kulturbruch gegeben, der mit neuen Siedlungsstrukturen einherging. Im Rheinland verlief alles gemächlicher. Just in jener Zeit haben sich wohl auch Frühformen eines westfälischen Selbstbewusstseins entwickelt – in Abgrenzung zu benachbarten Landstrichen.

Beispiele: Erstaunliche Funde, die den wachen Geist hiesiger adeliger Stiftsdamen belegen, konnten in Meschede (St. Walburga) gesichert werden, der Ursprungsbau entstand um das Jahr 900. Gabriele Isenberg schwärmt geradezu von den Schalltöpfen im Mauerwerk, die mit hallverkürzender Wirkung für hervorragende Akustik bei liturgischen Gesängen sorgten.

Gute Nachrichten
für Lokalpatrioten

In Dortmund hatten Isenbergs Grabungen im Zuge des U-Bahn-Baus konkrete Folgen. Als ihr Team die Grundfesten des Adlerturms (Teil der mittelalterlichen Stadtmauer) freilegte, entstand die Idee, den Turm wieder aufzurichten – und so geschah es. Ein Wahrzeichen aus zweiter Hand, doch immerhin mit historischer Anmutung.

Manches war durch die Grabungen nachweisbar: Die Plettenberger Christuskirche, so stellte sich heraus, ähnelt der seinerzeit in Köln üblichen Bauform. Bei der Vitus-Kirche in Hilchenbach spielen wiederum Einflüsse aus Corvey hinein. Überall werden also datierbare Einflusslinien sichtbar, aus denen man Schlüsse über Reise- und Handelswege ziehen kann.

Wenn irgendwo Neubaumaßnahmen anstehen, können Archäologen nach neuerer Rechtslage leichter einen vorübergehenden Stopp verfügen als früher. Daher sind sie anfangs „oft nicht gern gesehen” (Isenberg). Doch sobald markante Funde auftauchen, werden Bürger und Stadtwerbung aufmerksam. Erst recht wächst der Lokalstolz in eingemeindeten Stadtteilen. Isenberg: „Die Wellinghofer freuen sich, wenn sie den Dortmundern etwas voraus haben, und die Wattenscheider wollen es den Bochumern mal zeigen.”

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INFOS:

  • Als Gabriele Isenberg anfing, wurden Fundstellen noch häufig von Hand skizziert. Heute sind Digitalfotografie und Computersimulationen Standard.
  • Immer neue Methoden bringen zudem die Funde „zum Sprechen”:
  • Mit DNA-Analysen lässt sich beispielsweise feststellen, ob Blutsverwandte gemeinsam bestattet worden sind.
  • Per Strontium-Isotopie kann man anhand von Knochenfunden bestimmen, welche Sorte Wasser (und welche Mineralien) der betreffende Mensch als Kind zu sich genommen hat. Da sich diese Zusammensetzung früher regional stark unterschied, lässt dies Aussagen über die Herkunft zu.
  • Paläopathologen finden in Skeletten Hinweise auf Krankheiten und Ernährungsgewohnheiten unsererer frühen Vorfahren.

BUCHTIPP

  • Zum Thema neu auf dem Buchmarkt: „Archäologieführer Westfalen-Lippe”. Theiss-Verlag, 216 Seiten, 16.90 Euro.



Westfalen – das Land der wenigen Dichter

Seien wir ehrlich: Eine literarische Traditionslandschaft von hohem Rang ist Westfalen leider nicht. Zum Vergleich: Schwaben kann mit Wieland, Schiller, Hölderlin, Mörike, Hegel und etlichen anderen prunken – und wen haben „wir”?

Seit kurzem gibt es eine neue, umfangreiche Internetseite zur westfälischen Literatur – und selbst da muss man sehr intensiv suchen, um aufs Feld ganz großer Dichtung zu gelangen. Über 2000 Autoren sind verzeichnet, doch selbst Fachleute dürften die allermeisten kaum kennen.

Vielleicht liegt’s, wie Goethe gesagt hätte, am Fehlen von „Basalten und Schlössern”. In klassischen Zeiten blühte die Literatur vor allem im Umfeld des Adels. Westfälische Autorenschaft entwickelte sich hingegen vor allem in Kirchen- und Juristen-Kreisen. Vielfach lief es freilich auf Heimatdichtung mit engerem Horizont hinaus. Nach der Industrialisierung kamen entschieden linke Positionen hinzu – bis zum zeitweise wirksamen Dortmunder Werkkreis Literatur der Arbeitswelt (ab 1961).

Ein Kritiker, ein
Sozialist und ein
erschlagener Bischof

Doch in der NS-Zeit neigten manche Schriftsteller auch zu schrecklichen Blut- und Boden-Ergüssen; allen voran Josefa Berens-Totenohl, die in Meschede-Grevenstein aufwuchs.

Es ist lehrreich, auf www. literaturportal-westfalen.de die Funktion „Schauplätze” aufzurufen. Hier kann man – Ort für Ort – erfahren, wo Autoren gelebt und wo Dichtungen gespielt haben. Beispiele:

In Altena wurde 1893 Friedhelm Sieburg geboren, der als „Großkritiker” der FAZ von sich reden machte. Er war sozusagen der Reich-Ranicki der 50er und frühen 60er Jahre.

Der Romantiker Karl Leberecht Immermann hat sich über Arnsberg so geäußert: „…die Gegend um Arnsberg ist die schönste, die ich je gesehen habe…” Später wurde vor allem der von hier stammende Sozialist Wilhelm Hasenclever (1837-1889) bekannt, der für die Rechte der Arbeiter kämpfte und schrieb.

Dortmund könnte sich rühmen, dass der kürzlich verstorbene Peter Rühmkorf 1929 hier geboren wurde. Doch der große Lyriker wurde Hamburger aus Passion. Immerhin: Der Dadaist Richard Huelsenbeck (1892-1974) hat in Dortmund seine Jugend verbracht und liegt hier begraben. Nicht zu vergessen Max von der Grün („Irrlicht und Feuer”), Inbegriff engagierter Arbeiterdichtung in der Nachkriegszeit.

In Gevelsberg haben keine großen Autoren gelebt, aber hier wurde anno 1225 Engelbert I. (Kölner Erzbischof) durch den Grafen Friedrich von Isenburg ermordet. Dieser ungeheuerliche Vorfall war ein nachwirkendes literarisches Motiv – für den mittelhochdeutschen Dichter Walther von der Vogelweide wie für die Vorzeige-Westfälin Annette von Droste-Hülshoff.

Größter literarischer Sohn von Hagen war der Lyriker Ernst Meister (geboren 1911 in Haspe, gestorben 1979 in Hagen), eine prägende Gestalt deutscher Dichtung.

Das doch recht kleine Hilchenbach wächst auf der literarischen Landkarte zur veritablen Größe heran – wegen Johann Heinrich Jung-Stilling (1740-1817). Goethe war es, der (nach einem Treffen in Elberfeld) ein Manuskript von Jung-Stilling unter dem Titel „Heinrich Stillings Jugend” herausbrachte. Der Hilchenbacher beschreibt darin das einfache, schlichte Leben Siegerländer Bauern, Eisenschmelzer und Schmiede.

Auf Schloss Cappenberg, wo der preußische Reformer Freiherr vom Stein lebte, fand sich häufig der romantisch-patriotische Dichter Ernst Moritz Arndt ein. Zudem spielt eine Ballade von Annette von Droste-Hülshoff („Die Stiftung Cappenbergs”) dort.

Unna steht in den literarischen Annalen wegen Philipp Nicolai (1556-1608), der hier ein paar Jahre Stadtpfarrer war und berühmte Kirchenlieder wie „Wachet auf, ruft uns die Stimme” schuf. Vor allem aber verdankt Unna Heinrich Heine einigen Ruhm. In „Deutschland. Ein Wintermärchen” (1841) fügte Heine die unsterblichen Zeilen: „Dicht hinter Hagen ward es Nacht . . . / Ich konnte mich erst / Zu Unna im Wirtshaus erwärmen . . .”

Einem Studiengenossen aus Westfalen schrieb Heine Verse ins Stammbuch, die auf ein literarisches Defizit der Region hindeuten könnten:

„Mein Fritz lebt im Vaterland der Schinken, / Im Zauberland, wo Schweinebohnen blühen, / Im dunklen Ofen Pumpernickel glühen, / Wo Dichtergeist erlahmt und Verse hinken . . .”

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INFO:

  • http://www.literaturportal-westfalen.de/
  • Der Netz-Auftritt steht unter Regie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) und wurde maßgeblich von der Stiftung Westfalen-Initiative finanziert.
  • Angeblich gibt es für keine andere deutsche Region eine ähnliche Netz-Präsenz.
  • Man kann auf einer Zeitleiste suchen, aber auch nach Autoren- oder Orts-Alphabet („Schauplätze”).
  • Außerdem lässt sich nach Verlagen, Archiven usw. fahnden.
  • Anmerkung: Münsterland, Bielefeld/Ostwestfalen und Lippe-Detmold fallen in diesem Beitrag unter den Tisch. Einfach mal so.



Jetzt mehr Geld in den Westen lenken – In die neuen Länder sind viele Renovierungsmittel geflossen / Bei uns wurde manches vernachlässigt

Von Bernd Berke

Seit der „Wende“ sind im Osten viele bedeutende Baudenkmäler, ja komplette historische Ensembles renoviert worden. Jetzt aber müsse man den Blick wieder verstärkt nach Westen richten, wo unterdessen so manches vernachlässigt worden sei. Das sagt Prof. Gottfried Kiesow, Vorsitzender der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, im Gespräch mit der WR.

Kiesow, der unter anderem als „Retter“ von Görlitz gilt, hat in den neuen Bundesländern selbst vieles bewirkt. Doch jetzt sieht er erhöhten Handlungsbedarf – beispielsweise in Nordrhein-Westfalen. Ein konkreter Schritt: In NRW erzielte Stiftungseinnahmen aus Lotterien sollen ab sofort überwiegend für den hiesigen Denkmalschutz verwendet werden. Sprich: Es fließen nicht mehr so hohe Beträge in die neuen Länder ab.

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Blickpunkt Denkmalschutz

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Der prominente Denkmalschützer Kiesow findet es betrüblich, dass in den westlichen Bundesländern die öffentlichen Mittel für diesen Bereich vehement gekürzt worden sind: „In NRW waren es zuletzt 20 Prozent weniger, anderswo sieht es noch schlimmer aus.“ Auch Kommunen und Landschaftsverbände hätten ihren finanziellen Einsatz für Denkmalschütz vielerorts reduziert.

Schlimmer noch die Langzeit-Entwicklung. Laut Auskunft aus dem zuständigen NRW-Ministerium für Bauen und Verkehr stand dem Land Anfang der 90er Jahre noch das Dreifache für den Denkmalschütz zur Verfügung. Heute sind es jährlich nur noch 8,9 Millionen Euro – und das für für rund 77 500 erfasste Baudenkmäler.

Mehr Substanz in Westfalen als im Rheinland

Reichlich vorhandene Mittel, wenn sie in „falschen“ Händen liegen, können auch Schaden anrichten: „Geld kann Städte zerstören“, betont Gottfried Kiesow – und denkt vor allem an die Jahre des „Wirtschaftswunders“ in den frühen 1960ern, als dem Boom überall historische Bauten geopfert wurden. Doch auch in den letzten 30 Jahren ist – teilweise fast unbemerkt – ungemein viel Substanz zerstört worden.

Wo hapert es hier und heute besonders? Kiesow nennt für NRW vor allem verfallene Kirchen. Auch müsse man ein Augenmerk auf die vielen westfälischen Wasserschlösser haben, wie denn überhaupt-Westfalen an wertvollen Baudenkmälern letztlich mehr zu bieten (und zu schützen) habe als das Rheinland. Hinzu kommen Zeugnisse der Industriegeschichte und Gründerzeithäuser. Für die Erhaltung schmucker Jugendstilbauten hat Kiesow z. B. in Leipzig gefochten – nur teilweise mit Erfolg. Eine prekäre Gesetzeslage machte zeitweise den Abriss solcher Kleinode finanziell verlockender als die Sanierung; obwohl Sanierungskosten steuerlich absetzbar sind.

Städte mit „Gesicht“ bevorzugt

Umstrittene Maßnahmen wie der geplante Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses haben Kiesow zufolge nichts mit Denkmalschutz zu tun: „Das wäre vielmehr ein Neubau von heute – aus nostalgischen Beweggründen. Das Schloss müsste ja von Grund auf neu errichtet werden.“ Denkmalschutz aber setze voraus, dass noch irgend etwas von der Substanz übrig ist, die man bewahren will. Eigentlich logisch.

Mit historischen Stadtbildern können Kommunen im Wettbewerb um zufriedene Bewohner und um Firmenansiedlungen punkten. Diese Konkurrenz werde noch zunehmen, glaubt Kiesow. Bürger könnten sich eben eher mit einer Stadt identifizieren, die ein „Gesicht“ habe.

Insgesamt sei die Lage des Denkmalschutzes in Deutschland relativ glimpflich. In Westeuropa gelte man sogar als „Musterland“. Aber; „Die Polen identifizieren sich noch viel mehr mit ihrer Baukultur. Dort stehen auch noch die alten Handwerkstechniken in Blüte.“

Hat Kiesow eine Lieblingsstadt? „Ach, das ist ja, als solle man die schönste Frau wählen. Doch er nennt Görlitz, Stralsund, Wismar, Quedlinburg. Und in Westfalen schätzt er besonders Soest.

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HINTERGRUND

Nur jeder siebte Förderantrag hat Erfolg

  • Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz wurde 1985 gegründet.
  • Die grundlegenden Finanzmittel stammten aus Kreisen der Wirtschaft.
  • Weitere Erträge kommen aus Lotterie-Einnahmen, Spenden und gerichtlich verhängten Bußgeldern.
  • Prof. Gottfried Kiesow ist Mitgründer und Vorstandsvorsitzender der Stiftung.
  • Nur etwa jedem siebten Förderantrag kann die Stiftung nachkommen.
  • Zum „Tag des offenen Denkmals“ (9. Sept.) kamen 2006 bundesweit 4,5 Mio. Besucher.

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Mit Investoren muss man rücksichtsvoll verhandeln –

Kommunaler Denkmalschutz am Beispiel Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Wie bilden sich Probleme und Chancen des Denkmalschutzes in einer Stadt ab? Beispiel Dortmund. Die WR sprach mit Michael Holtkötter von der örtlichen Denkmalbehörde.

Auch auf kommunaler Ebene, so der Fachmann, hat man erhebliche Mittelkürzungen zu spüren bekommen. Das „Gießkannen-Prinzip“ habe aber alle Ressorts betroffen. „Wir sind eben keine Insel der Glückseligen.“

Immerhin habe Dortmund in den letzten 20 Jahren stets jene Landesmittel abgerufen, die es nur dann gibt, wenn die Stadt ihren gleich großen Eigenanteil leistet. 2006 schien es allerdings prekär zu werden. Zunächst sagte das Land nur einen kläglichen Betrag 3000 Euro zu. Holtkötter scherzt: „Davon hätten wir eine nette kleine Feier mit den Denkmal-Eigentümern veranstalten und sagen können: Schön war’s…“ Dann aber kam man mit großer Kraftanstrengung doch noch auf einen Gesamtbetrag von rund 40000 Euro. Nicht gerade immens viel, aber wenn man es wirksam einsetzt, mag’s noch angehen.

Manchmal lasse sich fehlendes Geld durch Ideen und Verhandlungsgeschick aufwiegen, meint Holtkötter unverdrossen. Generell sei die Arbeit der Denkmalschützer anspruchsvoller geworden. Man müsse Rücksicht auf Investoren nehmen, die sich mit dem Erwerb eines denkmalgeschützten Gebäudes natürlich keine ruinösen Folgekosten einhandeln wollen. Holtkötter stellt klar: „Was in der Denkmalschutzliste steht, ist dadurch nicht für alle Zeit vor dem Abriss geschützt.“

Trotz aller Mittelknappheit gibt es Erfolgsgeschichten: So etwa die umfassende Restaurierung des Wasserschlosses Haus Rodenberg in Dortmund-Aplerbeck. Oder neuerdings die stilgerechte Herrichtung des Südbades, eines typischen Sportbaus der späten 1950er Jahre. In der Schwebe ist noch dieser Dortmunder Fall: Ein Architekturstudent entdeckte unverhofft das Kleinod eines namhaften Bauschöpfers und informierte sogleich die Denkmalbehörde. Just am selben Tag flatterte dort der Abrissantrag des neuen Eigentümers auf den Tisch. Da ist guter Rat teuer.

Ein Großprojekt für die nächste Zeit könnte das Dortmunder „U“ sein, der markante ehemalige Brauereiturm, der nach dem Willen der Stadtspitze zur Museums-Attraktion für die Kulturhauptstadt Ruhrgebiet 2010 umgebaut werden soll – wenn denn entsprechende Landesmittel fließen. Holtkötter gibt sich zuversichtlich: Die Bausubstanz des „U“ sei „sehr solide“. Und im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs kann er sich gut vorstellen, dass finanziell Bewegung in die Sache kommt.

Überhaupt sind Industriedenkmäler ein vorrangiges Thema in Dortmund, dessen Denkmalliste immerhin rund 1200 Positionen aus diversen Epochen umfasst. Holtkötter: „Das macht die Arbeit in dieser Stadt so spannend. Es gibt die ganze Bandbreite – bis hin zum Ziegenstall des Bergmanns. Anderswo versucht man, ein Barockhaus nach dem anderen zu retten.“ Probleme, die man vielleicht dennoch manchmal gerne hätte. Denn, das räumt auch Holtkötter ein: „Romantische Denkmäler fürs Herz, die gibt’s in Dortmund kaum.“

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FAKTEN

Begrenzter Zuschuss

  • Die Städte sind zuständig für Denkmäler im privaten und städtischen Besitz. Um die Kirchen kümmert sich vorwiegend das Land.
  • Private Baudenkmalbesitzer werden mit bis zu einem Drittel der anfallenden Kosten gefördert. Die Kosten-Obergrenze beträgt 15 000 €, die Fördergrenze also 5000 €.
  • Es besteht kein Rechtsanspruch auf direkte Förderung, wohl aber auf Steuerabzug.
  • In Dortmund wurden die Mittel für Denkmalschutz seit Anfang der 90er von 150 000 auf etwa 40 000 Euro gekappt.
  • Insgesamt hat die Stadt von 1984 bis 2002 fast 2 Mio. Euro für Denkmalschutz ausgegeben.

 

 




Mit Herzblut für die wahre Freiheit – Einer unserer allergrößten Dichter: Vor 150 Jahren ist Heinrich Heine in Paris gestorben

Von Bernd Berke

Vielleicht treffen sie sich jetzt dort droben: Wolfgang Amadeus Mozart und Heinrich Heine. Falls ja, dann können der Komponist und der Dichter einander Hochachtung, aber auch wechselseitiges Mitleid bekunden. Allenthalben werden sie rituell gefeiert, weil sich biographische Daten „runden“. Heute vor 150 Jahren starb Heine nach langjährigen Leiden in seiner Pariser „Matratzengruft“.

Wie überaus betrüblich: Einer, der dem göttlich guten Leben im Diesseits derart zugetan war, musste so elendiglich enden. Nur zu verständlich, dass Heine zuletzt allen atheistischen Anwandlungen abschwor und um Gottgläubigkeit rang. Nur ahnungslose Schandmäuler können ihm dies verübeln.

Seine Werke gehören unverbrüchlich zur Weltliteratur. In Frankreich zählen die Bücher von „Henri“ ebenso zum ehernen Bestand wie bei uns – und mancher Japaner oder Russe kann wahrscheinlich das „Loreley“-Gedicht im deutschen Original aufsagen.

Sein Witz war kühn und treffsicher

Das berühmte „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ konnten nicht einmal die Nazis verschweigen. Allerdings schrieben sie die Zeilen einem „unbekannten Dichter“ zu.

Heine war Rheinländer jüdischen Glaubens, als junger Mann ließ er sich allerdings christlich taufen, denn: „Der Taufzettel ist das Entréebillet zur europäischen Kultur.“ Antijüdische Vorurteile gegen Heine steigerten sich schon bei einigen seiner Zeitgenossen zu erschreckenden Hasstiraden. Die üblen Klischees des 19. Jahrhunderts führten letztlich auch zur Bücherverbrennung von 1933.

Der Heißsporn Heine hat sich zu seiner Zeit mit nicht lauteren Mitteln gewehrt: Als der Dichter August Graf von Platen ihn mit antisemitischen Untertönen angriff, machte sich Heine öffentlich über dessen Homosexualität lustig – damals ein ungeheurer Skandal und wohl der schlimmste deutsche Dichterstreit überhaupt.

Nachwirkung zwischen Karl Kraus und Nietzsche

Heines Nachwirkung ist stets eine Streitfrage gewesen. Selbst ein ungemein kluger, doch hitziger Kopf wie Karl Kraus hat Heine als Vorläufer eines unverbindlich plaudernden Stils missverstehen wollen. Kraus-Zitat: „Ohne Heine kein Feuilleton. Das ist die Franzosenkrankheit, die er uns eingeschleppt hat.“ Heine habe „der deutschenSprache so sehr das Mieder gelockert (…), dass heute alle (…) an ihren Brüsten fingern können.“ Friedrich Nietzsche bezog die Gegenposition: „Man wird einmal sagen, dass Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind …“

Die Vaterstadt Düsseldorf hat sich mit Heine schwer getan. Schier endlos währte das Gezerre darum, ob die Uni seinen Namen tragen sollte 1989 war es so weit. Ehrenbürger ist er bis heute nicht.

Mit Herzblut hat Heine einige der schönsten romantischen Gedichte geschrieben. Doch sein flackernder, treffsicherer Witz und seine oft kühnen Formulierungen (er reimte schon mal „ästhetisch“ auf „Teetisch“) ließen wehe Idyllen und Schauermärchen der Romantik weit, weit hinter sich.

Gemischte Gefühle fürs aufkommende Proletariat

Er hat nicht nur höchst sprach- und formbewusste, sondern aufsässige Texte geschrieben – mit satirischer Stoßrichtung gegen schläfriges Biedermeier, starres Preußentum und aggressiv dumpfen Nationalismus (nationale Einigung ja, aber bitte unter freiheitlichen Vorzeichen). Ach, wüsste man doch, was der Erz-Journalist Heine zum jetzt so akuten Streit um Karikaturen und Pressefreiheit gesagt hätte!

Mit gemischten Gefühlen sah Heine das Proletariat heraufkommen. Er begriff die Notwendigkeit dieser Entwicklung, fürchtete aber auch die Barbarei der neuen Klasse – eine Schreckensvision, die im Realsozialismus grässliche Gestalt annahm. Im Grunde blieb Heine Monarchist, freilich ein aufgeklärtes Königtum, das per Verfassung alle (bürgerlichen) Menschenrechte wahren sollte.

Mit Potentaten und Zensoren in Berlin hatte er ebenso Probleme wie mit kaufmännischen „Pfeffersäcken“ in Hamburg, wo sein reicher Bankiers-Onkel Salomon und sein Verleger Campe lebten – zwei Menschen, mit denen er oft um Geld gestritten hat.

Welch eine Befreiung muss Paris bedeutet haben, damals die konkurrenzlose Weltmetropole mit rauschendem Kultur- und Gesellschaftsleben, an dem Heine ausgiebig teilnahm. Hier traf er prägende Gestalten jener Zeit – von Richard Wagner bis Karl Marx, von Hector Berlioz bis Balzac und George Sand.

„Dicht hinter Hagen ward es Nacht.. .“

Seinen Büchern kann man entnehmen, dass er trotz alledem wehmütig an seiner Heimat gehangen hat. Er hatte „das Vaterland an den Sohlen“ – wären es doch nur befreite Lande gewesen! „Denk ich an Deutschland in der Nacht…“

Der Rheinländer Heine hat die geradlinige westfälische Wesensart sehr geschätzt. In Göttingen sang und trank er mit Studienfreunden aus hiesigen Breiten.

Die Zeilen, die jeden Westfalen rühren, stammen aus der ansonsten eminent politischen Dichtung „Deutschland. Ein Wintermärchen“ und schildern Heines Reise nach Hamburg (1843), die durch Westfalen führte:

„Dicht hinter Hagen ward es Nacht, / Und ich fühlte in den Gedärmen / Ein seltsames Frösteln. Ich konnte mich erst / Zu Unna, im Wirtshaus, erwärmen…/ Den lispelnd westfälischen Akzent / Vernahm ich mit Wollust wieder.“

Und nun kommt’s:

„Ich habe sie Immer so lieb gehabt, / Die lieben, guten Westfalen, / Ein Volk so fest, so sicher, so treu, / Ganz ohne Gleißen und Prahlen (…) / Sie fechten gut, sie trinken gut, / und wenn sie die Hand dir reichen, / Zum Freundschaftsbündnis, dann weinen sie; / Sind sentimentale Eichen.“

Beileibe nicht nur wegen dieser Verse: Der Weltbürger Heine verdient unbedingt auch die westfälische Ehrenbürgerschaft.

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LEBENSDATEN

Kaufmannslehre und Romantik

  • Heinrich Heine (Bild) wird am 13. Dezember 1797 in Düsseldorf geboren.
  • Er erwirbt kein Reifezeugnis, sondern wechselt zur Handelsschule.
  • Ab 1815 Kaufmännische Lehrzeit in Frankfurt und Hamburg.
  • 1816 Unglückliche Liebe zur Cousine Amalie.
  • 1817 Erste Gedichte unter Pseudonym.
  • Ab 1819 Jura-Studium in Bonn, Göttingen, Berlin. Auch philosophische Vorlesungen, u. a. bei Hegel.
  • 1825 Examen, Promotion, protestantische Taufe.
  • 1826 Erster Teil der „Reisebilder“ (u.a. „Die Harzreise“, „Die Nordsee“).
  • 1827 „Buch der Lieder“ (zu Lebzeiten 13 Auflagen). Reise nach England.
  • 1828Norditalien-Reise
  • 1829 Umzug nach Berlin
  • 1837 Heine zieht nach Paris, berichtet von dort für deutsche Zeitungen.-•1835 Verbot der Schriften Heines im Dt. Bund.
  • 1836 „Die romantische Schule“
  • 1840 Streitschrift gegen Ludwig Börne (Folge: Duell mit einem Börne-Fan).
  • 1 841 Heirat mit der 18 Jahre jüngeren Mathilde, die er 1834 kennen gelernt hatte. Heine schrieb: „Sie hat einen sehr schwachen Kopf, aber ein ganz vortreffliches Herz.“
  • 1843 und 1844 Reisen nach Hamburg.
  • 1844 „Deutschland. Ein Wintermärchen“.
  • 1847 „Atta Troll“
  • 1848 Feb./März: Bürgerliche Revolution in Frankreich und Deutschland. Heine ist ab Mai für den Rest seines Lebens durch Krankheit ans Bett gefesselt („Matratzengruft“).
  • 1851 „Romanzero“
  • 1854 „Geständnisse“
  • 1856 (17. Februar): Heinrich Heine stirbt in Paris.



Was in Westfalens Museumskellern verrottet – Soest ist nur ein Beispiel von vielen

Von Bernd Berke

Soest. In den Kellern westfälischer Museen verrotten angeblich Hunderte, wenn nicht Tausende von Kunstwerken. Mit einer Ausstellung beschädigter, gefährdeter aber auch gerade noch rechtzeitig restaurierter Bilder will man jetzt in Soest auf die misslichen Zustände aufmerksam machen – ein Anstoß auch für andere Städte?

Was man im Soester Wilhelm-Morgner-Haus zu sehen bekommt, ist vielfach betrüblich. Bei einer einst unsachgemäß gerahmten Gouache von Emil Schumacher presst das „Schutz“-Glas die Farben flach. Ein Bild vom Namensgeber des Hauses, dem Expressionisten Wilhelm Morgner, wellt sich bedenklich. Es hat offenkundig unter falschen Klima-Bedingungen gelitten. Ein erst kürzlich im Soester Depot wiederentdecktes Werk von Josef Albers (aus der Serie „Hommage to the Square“ / Huldigung ans Rechteck) zeigt deutliche Spuren der Verschmutzung. Andere Gemälde werden bereits von Schimmel angegriffen. Und so kläglich weiter, und so grässlich fort. Der doppelsinnige Ausstellungs-Titel („Bilder, die aus dem Rahmen fallen“) bringt die Misere so ziemlich auf den Begriff.

LWL-Restaurator drängt zur Eile

Restauratoren könnten hier und andernorts eine Menge bewirken, sie könnten den Verfall zumindest stoppen. Doch dafür fehlt bekanntlich das öffentliche Geld. Also will man jetzt (gleichsam im Testlauf für ganz Westfalen) mit der Ausstellung um Bürgerspenden werben. Dafür macht sich der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) stark, der auch Zuschüsse in Aussicht stellt.

Klaus Kösters vom LWL-Museumsamt mag keine einzelnen Städte mit ähnlichen Problemen nennen. Spielraum für düstere Ahnungen lässt aber sein Satz: „Soest ist kein Einzelfall. Es gibt keine westfälische Stadt, die man hier nicht erwähnen könnte.“ Ergo: Wohl alle Kommunen sind mehr oder weniger betroffen. LWL-Restaurator Eckehard von Schierstaedt drängt zur Eile: „Jahr für Jahr verfallen sonst große Werte.“

Fundus nur verwaltet, nicht gepflegt

Die Restaurierung eines einzigen Bildes kann mehrere tausend Euro kosten, oft geht’s aber preiswerter. Klaus Kösters beziffert den finanziellen Gesamtbedarf allein für Soest auf einen sechsstelligen Euro-Betrag, allerdings im unteren Bereich der somit denkbaren Skala. Rund 3400 Werke stehen insgesamt auf den Besitz-Listen der Stadt, davon etwa 1400 von „höherem Wert“, was immer das heißen mag. Noch ist gar nicht genau ausgemacht, welcher Anteil der Bestände restauriert werden muss.

Nun sind freilich in Soest auch besondere Sünden an der Kunst begangen worden. Hier, wo man bislang keine richtige Kunsthalle (erst seit kurzem fungiert das Morgner-Haus als solche) und dementsprechend kaum kundiges Personal hatte, ist so manches Bild in nicht museumstauglichen Kellern vergammelt. Der Fundus wurde bestenfalls „verwaltet“, jedoch nicht gepflegt. Schlimmer noch: Etliche Bilder, die in Amtsstuben hingen, sind gar spurlos verschwanden. Bis dato hat sich niemand darum gekümmert.

„Bilder, die aus dem Rahmen fallen“. Wilhelm-Morgner-Haus, Soest, Thomaestraße 2: Ab Freitag, 21. Januar (bis 27. Februar). Geöffnet Di-Sa 10-12 und 15-17 Uhr, So 10.30-12.30 Uhr. Eintritt frei.




Westfalen und die Leselust – Neues Museum „Haus Nottbeck“ in Oelde unternimmt Streifzüge durch die regionale Literatur

Von Bernd Berke

Oelde. Anfangs ließ sich die Liaison der Buchdruckerkunst mit dem westfälischen Menschenschlag noch gut an: 1478, recht bald nach Gutenbergs weltbewegender Erfindung, erschien hier eine niederdeutsche Bibel. Um 1490 druckten dann Sauerländer allerorten: Es florierte der Baseler Buchdruck des aus Olpe stammenden Humanisten Johannes Bergmann, während Peter Attendorn in Straßburg schöne Bücher herstellte.

Mehr noch: Münster mauserte sich bald zum kulturellen Zentrum. Doch später ging’s phasenweise arg bergab. Da hatte die Literatur in Westfalen kaum noch eine Heimstatt. Schaudernd erfährt man’s im neuen Westfälischen Literaturmuseum zu Oelde: Von 1800 bis 1840 erschien in Unseren Landstrichen kein einziger (!) Roman, es fehlten belletristische Verlage in der Region.

Auch das Lesebedürfnis hielt sich seinerzeit in Grenzen. Anno 1854 gab es in ganz Deutschland rund 4000 Leihbibliotheken, davon siedelten nur 38 in Westfalen. Es dürfte für die „rote Laterne“ des Letztplatzierten gereicht haben. Hatte Voltaire, der sich im „Candide“ speziell über die kulturlosen Westfalen mokiert hatte, also Recht behalten? Trostreicher Kontrast im Bestand: das „Buch vom Lobe Westfalens“.

Sofern man ein wenig Muße mitbringt, stößt man in dem Museum auf etliche spannende Geschichten. Denn in dem schmuck hergerichteten ehemaligen Gutshof („Haus Nottbeck“), der sich in wunderschöner Landschaft erhebt, singt man nicht nur das abertausendste Loblied auf Westfalens berühmte Dichterköpfe.

Gewiss: Droste-Hülshoff, Freiligrath, Grabbe oder auch der Dadaist Huelsenbeck kommen zum Zuge, desgleichen unsere Zeitgenossen von Ernst Meister (Hagen) bis Max von der Grün (Dortmund). Doch man lernt auch einiges über das breite Fundament aus Heimatliteratur, deren uralte Refrains hier freilich nicht nur anheimelnd klingen.

Fragwürdige Formen der Heimatdichtung

Bisweilen geriet diese Basis zum trüben Bodensatz. Ein Extra-Raum beweist es: NS-Ideologen konnten sich auch hier zu Lande auf heimattümelndes Schrifttum stützen, die Übergänge zur braunen Propaganda waren fließend. So gab es etwa in Olpe eine Dame, deren Elaborate den Nazis besonders gefielen und die damals hohe Auflagen erzielte. Im „Schmallenberger Dichterstreit“, der gleichfalls knapp dokumentiert wird, diskutierte man nach dem Krieg heftig über derart in Verruf geratenes Heimatschrifttum.

Natürlich werden auch linke Traditionen regionalen Schreibens aufgegriffen – vom Arbeiterroman der 1920er Jahre bis zum Schwelmer Polit-Barden Franz Josef Degenhardt oder Rockgruppen wie Franz K. aus Witten. Experimentelle Schöpfungen (Karl Riha, Siegen), Seitenblicke aufs Theater (Bochum, Ruhrfestspiele, WLT) und kabarettistische Einsprengsel (Jürgen von Manger & Co.) markieren weitere Wendungen westfälischer Wortkunst. Und wer hätte gedacht, dass die einst religiös so eifernde Wiedertäufer-Literatur Westfalens einen trivialen Heftchen-Nachzügler („WiedertäuferVampire“) angeregt hat?

Da kommt einem die Dortmunder Bierdeckel-Lyrik vergleichsweise klassisch vor. Apropos: Geheimrat Goethe war 1792 kurz in Münster. Auch derlei Schmankerl lässt sich das Haus des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) nicht entgehen. Die vom Designer Robert Ward griffig gestaltete Schau erstreckt sich über 400 Quadratmeter, bietet auch einen lauschigen Märchenkeller für Kinder und wird sich alle paar Monate wandeln, denn viele Exponate sind Leihgaben.

Eine eigene Sammlung soll entstehen, zudem werden weitere Flügel des früheren Gutshofes aus dem 14. Jahrhundert (Teile eines Wassergrabens sind erhalten) zum Musik-und Veranstaltungs-Zentrum ausgebaut. Schon jetzt lockt das Ambiente zum sommerlichen Ausflug mit Bildungsvergnügen. Damit wir literarisch nicht wieder auf dem Abstiegsplatz landen.

Museum für Westfälische Literatur. Oelde-Stromberg, Landrat-Predeick-Allee 1 (Autobahn A 2, Abfahrt Oelde, Richtung Stromberg, dann Richtung Wiedenbrück – nun den Schildern zum „Kulturgut Haus Nottbeck“ folgen). Tel.: 02529/94 94 57. Geöffnet Mi bis So 11-17 Uhr.




Westfalens Weltdichterin: Annette von Droste-Hülshoffs Gesamtwerk liegt jetzt in 28 Bänden vor

Von Bernd Berke

Münster. Um Westfalens große Dichterin Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848) sind häufig politische Scharmützel ausgefochten worden. Im „Kulturkampf“ (um 1875) wollten Bismarcks Preußen ihr Werk als nationales Sprachdenkmal für ihre Zwecke vereinnahmen. Die katholischen Widersacher hielten dagegen und betonten konservativ-religiöse Aspekte ihrer Lyrik und Prosa.

Heute haben feministisch inspirierte Deutungen die Oberhand gewonnen, die im Erdenwallen der Droste ein exemplarisch unterdrücktes Frauenleben erkennen wollen, das sich auch zwischen den Zeilen mitteile. Tatsächlich hat die patriarchalische Familie der Dichterin zeitlebens manche Schwierigkeiten bereitet und der Droste 1845 sogar ein striktes Schreibverbot erteilt.

Sie war nicht nur ein braves Fräulein

Gestern wurde, nach über 20 Jahren Detail-Arbeit, in Münster ein Mammut-Unternehmen der Literaturwissenschaft präsentiert: Die 28 Bände der historisch-kritischen Droste-Ausgabe sind komplett fertig!

Jetzt kann also auf festerer Basis über ihr Leben und Wirken spekuliert werden. Denn nun liegen ihre Texte endlich in weitgehend authentischer Gestalt vor. Der machtvolle Grundstein für viele weitere Forschungen ist damit gelegt. Herausgeber Prof. Winfried Woesler (Uni Osnabrück) glaubt, dass sich das Bild der Droste im Lichte der Neuausgabe anders darstellt als bisher: „Bisher hat man sie oft als biedermeierliches westfälisches Adelsfräulein oder gar als Spökenkiekerin gesehen.“

„Quitschern im Kiesgeschrill“

Die Autorin der weltweit übersetzten „Judenbuche“ sei jedoch eine weltoffene, durchaus belesene Frau gewesen. Ihre Texte seien teilweise unerhört modern. Wenn sie etwa ,in einem Gedicht über eine Kutschfahrt lautmalerisch vom „Quitschern im Kiesgeschrill“ spricht, so deutet dies auf expressionistische Sprachschöpfungen voraus.

Und der westfälische Aspekt? Nun, der ist im Laufe der Zeit zumindest neu gewichtet worden. Drostes innige Schilderungen aus der Region seien, so die jetzige Lesart, Welterkenntnis im Gewände der „Provinz“. Also denn: Weltdichtung aus Westfalen. Klingt doch gut.

Eine solche Edition, deren Resultate künftig auch in preiswerte Studien- und Volksausgaben einfließen werden, entsteht nicht von heute auf morgen. Band eins erschien bereits 1978. Seither haben etliche Germanisten an dem papiernen Monument „mitgemeißelt“. Rund 5,5 Millionen DM hat die Unternehmung gekostet. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, das Land NRW und andere steuerten Mittel bei.

Viele alte Fehler wurden korrigiert

Man hat alle erreichbaren Original-Handschriften der Droste (die oft winzig und kaum entzifferbar gekritzelt hat) penibel untersucht. Viele Fehler bisheriger Ausgaben konnten dabei korrigiert werden. Sogar ein Band mit eher holprigen musikalischen Versuchen (Liedvertonungen, Opern-Entwurf) der Droste gehört zum Lieferumfang.

Eine erstaunliche Fehlzuschreibung entdeckten die Herausgeber auch. Niemand hatte bis dato bemerkt, dass das Gedicht „Entzauberung“ gar nicht von ihr stammt, sondern von Grillparzer. Weil sie’s schön fand, hat sie es abgeschrieben – und nur ein einziges Wörtchen verändert.

Annette von Droste-Hülshoff. Historisch-kritische Ausgabe (Werke / Briefwechsel). Max Niemeyer Verlag, Tübingen. 28 Bände, zusammen 5505 DM, auch Einzelbände erhältlich.




Kirchenkunst: Gottes Bild wurde immer menschlicher – Prunkvolle Ausstellung „Imagination des Unsichtbaren“ in Münster

Von Bernd Berke

Münster. „Du sollt dir kein Bildnis machen.“ Ein ehernes Gebot aus früher Christenzeit. Wie prunkend sich später die Katholische Kirche darüber hinweggesetzt und der menschlichen Bilderlust nachgegeben hat, zeigt die Ausstellung „Imagination des Unsichtbaren“ in Münster.

Anlaß der durch Fülle und Pracht überwältigenden Schau ist das 1200-jährige Stadtjubiläum Münsters. Präsentiert werden rund 700 religiöse Kunstwerke, die seit der Zeit des ersten Münsteraner Bischofs Liudger (Amtsübernahme im Jahr 805) für das Bistum entstanden sind. Vielfach handelt es sich um sonst unzugängliche Leihgaben aus den Schätzen westfälischer Pfarreien. Doch das wohl kostbarste Exponat, das Stundenbuch der Katharina von Kleve (um 1440), kommt aus New York.

Aus dem religiösen Kontext gelöst, wird alles Augenschmaus: Kreuze aus purem Golde, wundervolle Altarbilder und Heiligen-Statuen, reich verzierte Handschriften, liturgische Gerätschaften, Monstranzen, Reliquien-Behältnisse und allerlei sonstiges Ornat.

Gleichsam im Zeitraffer läßt sich der Wandel des Gottesbildes in der Kunst nachvollziehen. In der Romanik wurde Christus noch als unnahbarer Weltenrichter dargestellt, in der Gotik betonte man seine Leidensgeschichte, wodurch auch irdisch-menschliches Mitgefühl ins Spiel kam. Im Barock ging es dann vollends sinnlich zu. Viele Künstler sahen Jesus nun als schönen, ja athletischen Mann, was zugleich als Ausdruck geistiger Vollkommenheit galt. War die Vorstellung von Gott bis dahin allgemeingültig, so wich sie in späteren Jahrhunderten einem bunten Pluralismus. Gott sah so aus, wie das Individuum es wollte.

Man findet in dieser Ausstellung nicht nur Kunst aus Westfalen. Auch auswärtige Künstler, etwa aus Augsburg oder Nürnberg, bekamen kirchliche Aufträge aus dem Bistum Münster. Die Westfalen wiederum nahmen Einflüsse aus Flandern oder Brabant auf. Wo so reger Austausch herrscht, stellen sich Phasen der Kunstblüte ein. Ausstellungsleiter Dr. Géza Jászai ist überzeugt, daß Westfalen sich in Sachen religiöser Kunst nicht hinter Zentren wie Prag oder Salzburg verbergen muß.

Wer zählt die Stücke, nennt die Namen? Man sollte keine Hierarchie der Werke aufstellen, es kommt hier vornehmlich auf ihr Zusammenwirken an. Regionalgeschichtlich ist sicher die Muttergottes aus Lünen (St. Marien-Kirche, um 1250) interessante, aber wer wollte sie einem Borghorster Kreuzreliquiar (um 1050), einem kunstvoll ornamentierten Münsteraner Taufbecken (um 1345) oder Heinrich Brabenders letzter Skulptur (Apostel Petrus und Paulus) vorziehen?

Selbst Atheisten dürfte hier so etwas wie Andacht anwandeln. Und auch wer nur noch in Zahlen denken kann, mag sich immerhin klarmachen, daß christliche Werte zumindest in materieller Hinsicht nicht geschwunden sind.

„Imagination des Unsichtbaren“ – 1200 Jahre Kunst im Bistum Münster. Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster (Domplatz). 13. Juni bis 31. Oktober. Tägl. außer montags 10-18 Uhr. Eintritt 6 DM, zweibändiger Katalog 60 DM.




Westfälische Ortsansichten sogar in New York gefunden – Alte Stadtsilhouetten erscheinen in zehn Bänden

Von Bernd Berke

Im Westen. Im Museum von Växjo (Mittelschweden) gibt es ein Bild, das einen „Bärentanz“ zeigt. Im Hintergrund, kaum zu glauben, machten Kundige das Rathaus von Minden/Westfalen aus. Auf solch entlegene Fundstücke kann man stoßen, wenn man seit 1976 landauf, landab nach alten westfälischen Stadtansichten gefahndet hat, wie im Auftrag des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) geschehen und nun mit einem ersten Band (Olpe/Hochsauerlandkreis) zur Veröffentlichungsreife gebracht.

Allein in Westfalens Gefilden mußte das kleine Team unter Leitung von Dr. Jochen Luckhardt 70 000 km an Dienstreisen absolvieren, um den Bildern „detektivisch“ auf die Spur zu kommen. 340 einschlägig bestückte Sammlungen wurden für „Westfalia Picta“ (Projektname) aufgetan, darunter viele (bis dato gar nicht erschlossene) Privat-Kollektionen. Nicht nur innerhalb der Landesgrenzen wurde man fündig, sondern z. B. auch in New York und Lissabon.

Rund 7500 westfälische Stadtansichten aus der Zeit zwischen dem 15. Jahrhundert und dem Jahr 1900 sind zusammengekommen. Sie werden 10 üppige Bände füllen, die nach und nach im Bielefelder Westfalen-Verlag erscheinen (je Band 98 DM). Nur Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein können bislang ähnliche Fleißarbeiten aufweisen.

Strikte Regel bei der Forschungsarbeit war es, möglichst immer an die Originale heranzukommen, um besser die Spreu von Weizen trennen zu können (und beispielsweise verfälschende Nachzeichnungen auszusondern).

Dortmund gehört zu den Städten, die am frühesten (um 1470) im Ansichtsbild festgehalten wurden – kein Wunder bei einer traditionsreichen ehemaligen Freien Reichsstadt. Von anderen Revierstädten wie etwa Gelsenkirchen gibt es hingegen erst nach 1800 Darstellungen. Vorher war Gelsenkirchen nur ein Dorf und seine Silhouette galt als nicht „bildwürdig“. Südwestfälische Ortschaften reizten die Künstler vergleichsweise früh zur Darstellung.

Neben zahllosen Gemälden, Stichen, Aquarellen und Graphiken gab es auch kuriose Ortsansichten, so etwa einen dreidimensionalen, im Vordergrund mit echten Baumblättern gefüllten Guckkasten mit dem Stadtbild von Hamm oder – typische, nirgendwo sonst vorgefundene Eigenart – Drahtgeflechte (Raumteiler) aus Hohenlimburg, in die auf kunstvolle Weise Ansichten der Stadt eingearbeitet wurden. Pfeifenköpfe, Porzellan, Gläser, Vasen – kaum ein Gegenstand, auf dem westfälische Städte nicht verewigt wurden.

Und so geht’s – nach der gestrigen Buchpremiere über Olpe und das Hochsauerland – weiter: 1987 erscheinen die Bände über den Ennepe-RuhrKreis, den Märkischen Kreis und Hagen (Band 2), über den Kreis Siegen-Wittgenstein (Band 3), über Unna und Hamm (Band 4). Es folgen Ostwestfalen und das Münsterland. Ganz zum Schluß, anno 1991, sind mit Band 10 die Revierstädte an der Reihe. Die Reihenfolge hat ihren Grund: Projektleiter Luckhardt stammt aus Gevelsberg und wollte mit Südwestfalen beginnen, weil er sich dort am besten auskennt.




Zeugnisse aus grauer Vorzeit: Auch Höhlen im Sauerland sind ergiebige Fundorte

Von Bernd Berke

Münster. Das seit 1980 gültige Denkmalschutzgesetz hat enorme Erleichterungen für die Wissenschaftler mit sich gebracht: Nicht nur historische Bauten, sondern auch zahlreiche Zeugnisse pflanzlichen und tierischen Lebens aus der Vorzeit konnten seither besser erhalten und ausgewertet werden. Diese Bilanz zog gestern in Münster der für ganz Westfalen zuständige Paläontologe des Westfälischen Museums für Archäologie, Dr. Jörg Niemeyer.

Seit 1980 gelten wichtige erdgeschichtliche Funde nämlich als „Bodendenkmäler“. So wird beispielsweise Fossilien-Findern eine Anmeldepflicht auferlegt. Wird sie eingehalten, so können sich Dr. Niemeyer und seine Mitarbeiter sofort auf den Weg „vor Ort“ machen. Sie könnten dort in dringenden Fällen sogar die Unterbrechung von Bauarbeiten veranlassen – gegen entsprechende Entschädigung. Zu diesem drastischen Mittel wurde bisher allerdings noch nie gegriffen, denn, so Niemeyer: „Damit würden wir mögliche Informanten abschrecken“.

Vor allem die zahlreichen Sand- und Kiesgruben in Westfalen gaben seit Bestehen des Gesetzes mehr her als je zuvor. Gerade Kiesgruben „konservieren“ aufgrund ihrer geologisehen Beschaffenheit prähistorisches Material außerordentlich gut. Schon mancher Grubenarbeiter lieferte wissenschaftlich interessante „Nebenprodukte“ vom Fließband weg an die Experten.

Dr. Niemeyer konnte gestern einige eindrucksvolle Kiesgruben-Funde präsentieren, darunter kapitale Mammutknochen, die Zahnreihe eines prähistorischen Riesenhirschen, das Skelettstück eines Bibers, der sich in grauer Vorzeit im damals noch feucht-sumpfigen Westfalen offenbar sehr wohl gefühlt hat. Auch Überbleibsel eines Fellnashorns kamen ans Tageslicht.

Das Alter dieser Funde schwankt zwischen 20 000 und 100 000 Jahren. Zur groben Orientierung: Vor 10 000 Jahren ging für Mitteleuropa die letzte Eiszeit zu Ende. Weitaus jüngeren Datums, vielleicht sogar erst mittelalterlich, sind jene menschlichen Schädel, die aus zwei benachbarten Kiesgruben bei Minden stammen. Einer weist einen Spalt auf, der vielleicht von einem derben Schwerthieb herrührt. All diese Funde werden demnächst ins Naturkundemuseum zu Münster wandern.

Nicht nur die (meist im Raum Minden gelegenen) Kiesgruben, sondern auch die sauerländischen Höhlen tauchen nicht selten als Fundorte in den Chroniken der Münsteraner Wissenschaftler auf. Kürzlich sind die sauerländischen Höhlen komplett aufgelistet worden. Man kam auf rund 600. Kein Wunder also, daß hier vor allem Reste von Höhlenbären gefunden wurden. Aber auch Menschenknochen, Werkzeuge und Mammut-Skelette wurden gesichert. Großes Problem Im Sauerland: Selbsternannte Höhlenforscher“, die sogar Stahltüren an den Höhleneingängen aufschweißen, um an vorzeitliche Relikte heranzukommen.




„Guten Abend aus Dortmund“ – neues Regionalfenster im Fernsehen

„Regionalfenster“ in der Aktuellen Stunde (WDF, 19.35 bis 19.50 Uhr)

Wenn auch Kanalsalat und sonstige Empfangsprobleme noch nicht alle am Genuß teilhaben lassen – im Prinzip haben wir jetzt die Fernseh-„Fenster“, die den Bildschirmblick vor die Haustür gestatten. „Guten Abend aus Dortmund“ hieß es gestern um 19.35 Uhr, und das Team in der Westfalenmetropole gab sich lobenswerte Mühe, dabei auch das Sieger- und Sauerland nicht aus den Augen zu verlieren.

Thematisch war man gestern freilich noch durch die Nachwehen der Kommunalwahlen festgelegt, um nicht zu sagen eingeschränkt. Viel mehr, als bereits in den Zeitungen stand, konnte man durchs TV-„Fenster“ nicht erspähen.

Eine grundsätzlich gute Idee ist der Laien-Kommentar, der gestern von Schülerzeitungsredakteuren aus Witten vorgetragen wurde. Die jungen Leute gaben sich jedoch überhaupt nicht spontan, sondern verlasen ein strohtrockenes Thesenpapier. Damit wurde die Chance der Unmittelbarkeit leider verschenkt.

Der Bericht über das Iserlohner Bildhauertreffen wirkte ebenfalls etwas dozierend, auch war das Thema nicht gerade taufrisch.

Vorläufiges und hoffnungsvolles Fazit trotz aller Anfangsschwächen: Die TV-„Fenster“ steigern keinesfalls nur die Wahrscheinlichkeit, einmal Nachbarn und Bekannte auf dem Bildschirm zu sehen, sondern sie können sich zu einer wertvollen Bereicherung der Berichterstattung über unsere Region entwickeln.

                                                                                                          Bernd Berke

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Erschienen am 2. Oktober 1984 auf der allerersten Fernsehseite der Westfälischen Rundschau.




Westfalens Gesellschaft zur Goethezeit – auf Bildern von Johann Christoph Rincklake

Von Bernd Berke

Münster. Westfalens Adel ging um das Jahr 1800 mit der Zeit. Man hatte schließlich „seinen“ Rousseau gelesen und kehrte auch dann „zurück zur Natur“, wenn man sich porträtieren ließ: Nun getrauten sich auch Damen von Stand, inmitten ihrer Kinderschar oder gar im „Zustand der Hoffnung“ vor den Maler zu treten.

Es war aber zugleich die Ära, in der das Selbstbewußtsein des westfälischen Bürgertums wuchs. Nur: Statt der Wappen, die die adeligen Herrschaften vorweisen konnten, staffierten sich Bürgersleute fürs Konterfei mit Signalen für erbrachte „Leistung“ aus. Ein wissenschaftliches Buch für den Herrn, ein Strickstrumpf für die Dame – und schon war die Heraldik wirksam ersetzt.

Westfalens wohl bester Porträtmaler zur „Goethezeit“ hieß Johann Christoph Rincklake (1764-1813). Sein Werk wird jetzt in einer Ausstellung des Westfälischen Landesmuseums fur Kunst und Kulturgeschichte dokumentiert (23.9. bis 4.11.). 150 Bilder sind zu sehen, darunter 100 bisher unbekannte Werke, die sich zu 90 Prozent noch in Privatbesitz (meist Nachfahren der Porträtierten) befinden. Die Bilder ergeben ein Panorama der westfälischen Gesellschaft – von Ansichten derer zu Romberg, Westerholt oder Heeremann bis hin zur Wirtstochter und zur Dortmunder Kaufmannsfrau.

Obwohl Rincklake eine Akademieausbildung (Lehr- und Wanderjahre in Dresden, Düsseldorf, Wien) vorweisen konnte, sind die Exponate weniger unter künstlerischen als unter regionalgeschichtlichen Aspekten aufschlußreich. Gesellschaftliche Umbrüche nach der Französisehen Revolution, neue Rituale der Trauer um Verstorbene oder auch das Geschlechterverhältnis jener Zeit können oft anhand unscheinbarer Details nachvollzogen werden. Beispiel: Selbst Schriftstellerinnen wurden damals nicht etwa mit Symbolen intellektueller Betätigung wie Feder und Tintenfaß abgebildet, sondern bestenfalls mit einer Leier.

Pünktlich zur Ausstellung ist ein Buch über Rincklake erschienen (Verfasserin: Hildegard Westhoff-Krummacher; Preis des Bands 98 DM, ab 1985 etwa 120 DM). Der Ausstellungskatalog in Münster kostet 15 DM.