Doppelte Urangst des Schriftstellers – Schrecken der Leere und der Überfülle in Paul Austers „Die Erfindung der Einsamkeit“

Von Bernd Berke

Es ist ein Standardthema der Literatur: Wenn die Eltern sterben, treibt es Schriftsteller in die Krise, drängt es sie zur Selbstschau: Wie bin ich geworden, was ich bin? Der Weg führt dann durch (Un-)Tiefen der Kindheit.

Der US-Autor Paul Auster findet in seiner Erinnerung einen Vater, der sich allen entzogen hat, der gar kein Innenleben zu haben schien, bei dem man ihn hätte „packen“ können. Einen Menschen, der immer fühllos abwesend zu sein schien: „Die Welt ist für ihn wohl ein ferner Ort gewesen, ein Ort, den er nie richtig hat betreten können…“

Das Unterfangen, sich auf die Spuren eines solch undeutlichen Menschen zu setzen, scheint von vornherein zum Scheitern verdammt. Gewiß, Auster (bzw. der Ich-Erzähler) kann ein paar Eigenschaften oder Verhaltensweisen benennen: des Vaters jüdische Herkunft, seine Emigration aus Österreich, seinen Immobilien-Job im Clan-Verbund mit den Brüdern, seine Arbeits- und Sparwut usw. Doch all das fügt sich nicht zum Bilde. Es erwacht eine Urangst des Schriftstellers: Versagt die Sprache vor dem Leben? „Porträts eines Unsichtbaren“ heißt dieser erste Teil des Buches. Das Bedürfnis, den verstorbenen Vater schreibend herbeizubeschwören, führt zur Resignation. Zitat: „… der leere Wahn, irgend etwas über irgend jemanden sagen zu wollen.“

Der zweite Teil heißt „Das Buch der Erinnerung“. Wir sehen den Autor in erbärmlicher Schreib-Einsamkeit, unbehaust in einer kalten Bruchbude in New York. Da setzt wiederum einer, dessen Vater gestorben und dessen Ehe gescheitert ist, das Puzzle seines Lebens zusammen. Je mehr der Erinnerungsstrom fließt, desto mehr häufen sich „Zufälle“, unterschwellige Anklänge: Alles reimt sich aufeinander, alles hängt zusammen, jedes Geschehen scheint eine Anspielung auf ein anderes Geschehen (gewesen) zu sein. Ist das tröstlich oder bedrohlich?

Die Phantasie bevölkert das einsame Zimmer bis zur Überfülle mit persönlichen Erinnerungen und Zitaten aus der Geistesgeschichte. Doch auch diese beinahe wahllose Fülle von Gedächtnis führt, wie anfangs die Leere angesichts des Vater-Porträts, in die Resignation des Schreibenden: „Nie wird die Feder sich schnell genug bewegen können, um jedes Wort aufzuschreiben, das im Raum der Erinnerung entdeckt wurde. Manches ist für immer verloren… Und über nichts davon kann man irgend sicher sein.“ Vergeblichkeit, wohin man blickt!

Entstanden in den späten 70er Jahren und 1982 in den USA erschienen, wird das Buch hierzulande an jene „nachgereicht“, die von Austers Romanen wie „Im Land der letzten Dinge“ angetan waren. Der Autor hat wohl versucht, eine Lebens- und Schreibkrise zu überwinden. Diese Selbsttherapie wird für den Leser jedoch nie penetrant. Und sie bildet das Fundament seiner Romane.

Paul Auster: „Die Erfindung der Einsamkeit“. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt. 256 S., 36DM.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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