Grandiose Deutung: „Don Giovanni“ an der Rheinoper

Wer – oder was – ist Don Juan? Die Frage hat die geistige Welt schon umgetrieben, als Tirso de Molina sein barockes Spiel vom bestraften Wüstling verfasst und auf die Bühne gestellt hat. Seither hat Don Juan eine Weltkarriere gemacht: Es gibt tausende von literarischen Werken, Dutzende von Opern und hunderte von Büchern über die Gestalt, deren historisches Werden ebenso im Dunkel liegt wie die inneren Schichten seiner Seele.

Spätestens seit Wolfgang Amadé Mozart, seit E.T.A. Hoffmann und Søren Kierkegaard ist der Don-Juan-Stoff mit Musik verbunden. Don Giovanni ist ein idealer Opernheld, denn seine Uneindeutigkeit und sein wesenloses Sein, seine symbolische Kraft und seine sinnliche Existenz lassen sich in und mit Musik – zumal, wenn ein Mozart am Werke ist – am sinnenfälligsten einkreisen. Kein Wunder also, dass sich die geistige Auseinandersetzung mit dem unsterblichen Mythos Don Juan immer wieder an Mozarts und da Pontes Oper entzündet und zu ihr zurückführt.

Kein Wunder auch, dass die Welt der Oper nicht müde wird, die Geschichte von dem Mann mit den tausendunddrei spanischen Geliebten in immer neuen Inszenierungen auf seine Relevanz für das Heute zu befragen. Das geschieht nicht selten in ratlos erzählender Kapitulation vor dem gewaltigen Stoff, nicht selten auch in hysterischer, fundamentloser Zuspitzung, hin und wieder – wie jetzt in Duisburg – aber auch in einer grandios gekonnten, auf der Grenze zum Abgründigen balancierenden Deutung.

Dabei muss man Karoline Grubers gedanklichen Ansätzen nicht in allem folgen: Don Giovanni ist nämlich keineswegs, wie die Regisseurin im Interview des Programmhefts meint, ein Prinzip der Freiheit, sondern eher das Gegenteil. Er ist – zumindest bei Mozart – kein Träger einer lustvoll-erotischen Anarchie, die den moralischen oder kirchlichen Autoritäten so lange amüsante Schnippchen schlägt, bis ihn endlich der Teufel (oder bloß die Theater-Hölle) holt. Dazu finden wir in der Oper zu viele Personen, die an Don Giovanni einfach nur leiden. Aber die Regisseurin, die der Deutschen Oper am Rhein endlich einmal einen klugen und eminent theatralischen Don Giovanni geschenkt hat, weist in ihrer Durchdringung des Mythos auf eines der entscheidenden Elemente hin: Don Giovanni ist Träger einer unbedingten erotischen Energie. Sie setzt in allen Menschen, die mit ihr in Kontakt kommen, unwiderstehliche, anarchische Kräfte frei.

Ihr bisheriges Dasein zwischen den Polen einer beherrschten, gesellschaftlich eingebundenen Sexualität und den von sozialer Zuordnung und moralischen Prinzipien geregelten Lebensformen wird gesprengt. Die Wucht ist ungeheuer und entwurzelt die Menschen: Donna Anna wird von der dunklen erotischen Kraft Giovannis auf ewig verwundet und zu einer „geregelten“ Liebesbeziehung nicht mehr fähig sein; Donna Elvira wird ihren heroischen Kampf, der Existenz Don Giovannis humane Züge zu geben, im Kloster beenden, sich also von der Welt ab und Gott zuwenden. Zerlina und Masetto werden vielleicht äußerlich unversehrt, aber innerlich gebrochen in ihr Bauern-Dasein zurückkehren. Und für Don Ottavio gilt: Wie er war zu aller Zeit, so bleibt er in Ewigkeit; eine Figur, die sich jedem Wandel in unerschütterlicher Resistenz entzieht. Ein starres Gegenbild zu Don Giovannis ewig geschmeidiger Wendigkeit, das ebenso erschreckende Züge trägt.

Gruber realisiert das magnetische Prinzip von Anziehung und Abstoßung in einem Bühnenbild von Roy Spahn, das sich konsequent durchgeformt jedem opulenten Dekorationswillen entzieht. Arnold Böcklins Bild „Odysseus und Kalypso“ als – immer wiederkehrendes – Element signalisiert, dass mythische Bezüge und seelische Abgründe in dieser Inszenierung ihren Platz finden. Hinter Türen, die an Blaubarts Kammern erinnern, hausen Gespenster: weiße Frauen, bleiche Bräute, von Don Giovanni ihres Lebens beraubt – ein kluger Hinweis auf die Verschränkung von Sex, Tod und Teufel, wie wir sie etwa in Heinrich Marschners „Der Vampyr“, einer Schlüsseloper der Romantik, wiederfinden.

Unverzichtbar für Grubers tiefgründige Arbeit am „Don Giovanni“ erweisen sich die bedeutungsvollen Kostüme Mechthild Seipels. Endlich einmal keine Kostümbildnerin, die sich in Designer-Klamotten oder Disco-Fetzchen flüchtet, sondern Epochen und Stile in den Dienst einer Deutung stellt. Donna Annas Robe erinnert an Madame Bovary oder Anna Karenina; Donna Elvira trägt den – stellenweise anzüglich geschürzten – barocken Aufwand einer Heroine zur Schau; Don Ottavio tritt in blauem Morgenmantel als getreue Kopie des ermordeten Komturs, später mit dem unauffälligen Anzug der Arrivierten und der Mütze einer Burschenschaft auf. Leporello verweist mit zerbrochenen Handschellen auf eine spezielle Beziehung zu seinem Herrn; Masetto und Zerlina sind in der Gegenwart verortet: Sommerkleidchen und Handtasche, Hornbrille und Karo-Pullover. Vielsagende Kostüme also, die mit der Dynamik oder Statik der Figuren im Verlauf des Stücks korrespondieren.

Dass der Komtur am Ende mit einer angedeuteten Mitra und einer monströs verunstalteten Gesichtshälfte wiederkehrt, wird der Figur gerecht: Er ist Vertreter der Hölle ebenso wie Symbolfigur für die göttliche Ordnung der Welt. Dass der finale Übergriff Don Giovannis – die Herausforderung des Göttlichen – seinen Untergang auslöst, spielt in Grubers Lesart freilich kaum eine Rolle; der blasphemische Zug der Figur Don Giovannis wird nur einmal in einer Parodie des geneigten Hauptes Jesu am Kreuz angedeutet.

Gruber zeigt die Personen des Stücks im Bannkreis eines Don Giovanni, der seinerseits seltsam ungreifbar bleibt – und damit bildet die Regisseurin den Charakter des Bühnenhelden präzis ab. Mozart hat ihm keine selbstreflektierende Musik gegeben, nur einen musikalischen Rausch, ein „perpetuum mobile“, und ein verlogenes Ständchen. Zutreffend beschreibt Dramaturg Alexander Meier-Dörzenbach im lesenswerten Programmheft Don Giovanni als „seelisches Sinnbild“, das vor allem ex negativo in den anderen Figuren zu finden ist. Don Giovanni als Nicht-Existenz, als Kraftfeld, als Chimäre – die perfekte Chiffre des Bösen.

Auf diesen „Don Giovanni“ sich einzulassen, lohnt sich; er ist auch der verästelten Inszenierung Stefan Herheims in Essen überlegen, weil Karoline Gruber die Bild- und Bewegungswelt bündelt statt sie assoziativ schweifen zu lassen. Auch musikalisch beschert diese – für die Nikikai Opera Foundation in Tokio entstandene und an die Deutsche Oper übernommene – Produktion viel Mozart-Glück. Friedemann Layer, ans Pult der Duisburger Philharmoniker zurückgekehrt, durchschwimmt zwar das Adagio der Ouvertüre eher, bekommt aber schnell Boden unter die Füße und entfaltet einen kernigen, nervigen, klarsichtigen Mozart-Sound. Die Tempi sind nicht übertrieben; das Cello lässt in der Begleitung der Rezitative aparte Farben zu.

In der Sängerliste überwiegen Namen aus dem Osten; entsprechend hört man eine gesangliche Stilistik, die mit Mozarts Eleganz wenig anzufangen weiß. Roman Polisadov orgelt sich durch die paar Sätze des Komturs; Olesya Golovneva bringt zwar die dramatische Substanz für die Donna Anna mit, findet aber erst in der – dann aber meisterlich gestalteten – Arie „Non mi dir, bell‘ idol mio“ zu ausgeglichenem Singen und einer flüssigen Tonproduktion. Nataliya Kovalova müht sich mit flach hupenden Tönen um die Donna Elvira, ohne für eine ihrer Arien die technische Façon zu gewinnen. Alma Sadé treibt zwar den einen oder anderen Ton ohne Leichtigkeit in die Höhe, versteht sich aber auf gut phrasiertes Singen mit unverkrampften Linien. Darin tut es ihr Torben Jürgens als Masetto gleich: ein musikalisch erfreuliches Paar. Corby Welch scheint nicht seinen besten Abend gehabt zu haben; sein Tenor ist zwar präsent und treffend timbriert, bleibt aber seltsam schwammig in der Tonemission, als fehle ihm die rechte Fokussierung.

Laimonas Pautienius verfügt über einen flexiblen Bariton, fast immer leicht ansprechend und schlank geführt, beweglich im Rezitativ: ein überzeugender Don Giovanni, der die Farben der Ironie und der Willensstärke ebenso hat wie einen träumerischen voix mixte – Klang für das Ständchen („Deh, vieni alla finestra“). Nur in seiner Arie kommt er an die Grenze seines Atems. Den vokalen Glanzpunkt des Abends setzt Adam Palka als Leporello mit einer sicher positionierten, im Klang fülligen, konturscharfen Stimme, die nicht nur sauber artikulierend, sondern auch rhetorisch brillant und charakterisierend eingesetzt wird.

Der „Don Giovanni“ ist wieder ab 7. Dezember in Düsseldorf zu erleben. Hingehen!