„Blauer Engel“, „Verräterin“ und vergessene Kriegsheldin: Marlene Dietrich starb im Mai vor 20 Jahren

Ich hockte vor meinem altersreifen TV-Gerät, zappte vor mich hin und meine Augen wurden unversehens an den Bildschirm gefesselt. Und meine Augen begannen zu tränen, weil mein Gehör dafür sorgte, dass ich keine Kontrolle mehr hatte über den Tränenfluss.

Marlene Dietrich, mondän-divenhaft in Weiß gewandet, sang Pete Seegers „Where Have All The Flowers Gone“ mit deutschem Text. Als sie zur Textstelle „Wo sind die Soldaten hin …“ gelangte, wurde sie wütend-laut, ruckte ihre Körperspannung sichtbar und änderte sich ihre Mimik von traurig in zornig, gab sie in ihrer Emotionalität vor dem Publikum offen zu, dass sie aktive Kriegsteilnehmerin war, dass sie beinahe in deutsche Gefangenschaft geraten war, dass sie auf ihre Weise gekämpft hatte, Hitler und Hitlers Deutschland zu besiegen. Nicht das Deutschland, in dem sie zur Welt gekommen war, sondern das Deutschland, das sie zwang es zu verlassen, damit sie aufrecht bleiben konnte.

Eher beiläufig erfuhr ich, dass sie vor 20 Jahren am 6. Mai starb, woran ich mich zwar blass erinnere, woran ich im Mai allerdings von niemandem so nachhaltig erinnert wurde, dass ich mich daran erinnern könnte, obwohl ich ja eigentlich recht aufmerksam durchs Leben gehe. Und was lehrt mich das? Es lehrt mich, dass Marlene (eigentlich Marie Magdalene) Dietrich dem Deutschland, in dem sie zur Welt kam und das sie in seiner dunkelsten Zeit regelrecht ausspie, dass sie diesem Deutschland auch heute noch nicht recht geheuer ist. Dass unterschwellig vielleicht doch noch die Haltung im Innersten mancher Vaterländler wabert, die sie als Verräterin schimpften und ihr in Gestalt eines jungen Mädchens vor einem Auftritt während ihrer Europatournee 1960 in Düsseldorf gar ins Gesicht spuckten.

„Die Dietrich, das ist doch gar keine Deutsche mehr“, maulte meine Mutter einst. Teile meiner Verwandtschaft fanden drastischere Ausdrücke für diese menschliche Ikone, die dem deutschen Film ebenso wie der Hollywood-Fabrik fabelhafte Höhepunkte gab. Und Teile meiner Verwandtschaft zeigten sich vollkommen unversöhnlich, weil die Dietrich dem Vaterland aller Vaterländer den Rücken kehrte und eine neue Staatsbürgerschaft annahm, die der Vereinigten Staaten von Amerika. Und noch unversöhnlicher wurden alle die, die „stets von nichts gewusst hatten“, wenn sie über Marlenes Kriegseinsatz sprachen, weil sie und nicht Lale Andersen wehrkraftzersetzend „Lilli Marlen“ über alliierte Wellen sang und nachdenklichere Deutsche vor dem Rundfunkgerät hocken ließ als den Nazis lieb war.

Marlene Dietrich wurde in den Staaten hingegen von ihren „Boys“ geliebt, weil sie den frontnahen Einsatz suchte, auf dass sie helfen konnte, diesen „Boys“ ein wenig Erholung vom täglichen Grauen zu bescheren. Sie liebten sie, weil sie durch Lazarette krauchte und die oft kraftlosen Hände geschundener Soldaten hielt. Sie liebten sie so nachhaltig, dass sie noch als Veteranen zu Hunderten nach Las Vegas tourten, um ihre Marlene (begleitet von Burt Bacharach) singen zu hören und vielleicht einen ihrer begehrten Händedrücke zu erhaschen, die sie fröhlich ihren „Boys“ anbot. Und die USA vergaßen auch nicht, welchen persönlichen Einsatz sie gezeigt hatte, als sie half, ein Deutschland zu bezwingen, das nie mehr ihres wurde. Sie erhielt die „Medal of Freedom“, die höchste zivile Auszeichnung, die die USA zu vergeben haben.

Es wundert nicht, dass Spencer Tracy ihr im persönlichen Gespräch sagte, nur sie könne diesen Satz aussprechen, glaubhaft aussprechen: „Wir haben von nichts gewusst.“ Sie tat es als Frau Berthold, Generalswitwe gegenüber Richter Haywood (Spencer Tracy) in ihrem letzten großen Film „Das Urteil von Nürnberg“. Wie sehr müssen ihr diese Wörter zuwider gewesen sein.

Mir schwollen noch einmal die Augen, bis sie überliefen. Da stand Marlene, wieder in Weiß, zart und stark auf der Bühne des Warschauer Kongresszentrums und sprach brüchiger Stimme in Französisch das Publikum an, beschrieb ihre unendliche Bewunderung für Polen und seine Menschen und endete mit einem kaum mehr hörbaren „Je vous aime!“ Wie schlecht muss man sich fühlen, wenn man daran mitgewirkt hat, dass ihr lange und hartnäckig Ehrungen in ihrem Geburtsland verweigert wurden, sich auch Prominente öffentlich über ihre Lebensleistung herablassend äußern konnten, ihr erst 2002 posthum die Berliner Ehrenbürgerschaft verliehen werden durfte.