Leselust und triste Texte: Bekenntnisse eines angeschlagenen Jurors

In den Jahren, in denen ich im sogenannten Literaturbetrieb mitwirkte, habe ich nicht wenigen Jurys angehört – immer als Ehrenamtler ohne oder mit geringer Aufwandsentschädigung. Als Ausgleich  durfte ich über Wettbewerbe um Preise und Stipendien meisterhaften Autorinnen begegnen, vielen Begabungen und Texten, die mich tief beeindruckten. Zugleich aber traf ich unvermeidlich auf Subventionspoeten, Sinnsimulanten und Dichterdarsteller, also auf die vielen Geduckten und Gedrückten, die sich als Gedruckte endlich Erlösung erhofften.

Zwei Juroren unter der Literaturzirkuskuppel: ratlos.   (Foto © Jörg Briese)

Heute, im Dezember 2019, sind es die durch zu viele schlechte Texte hervorgerufene Müdigkeit sowie ein starkes Mitgefühl mit wirklichen Könnern der schreibenden Zunft, die zum Entschluss führten, nie wieder einer Jury angehören zu wollen.

Die Dosis macht das Gift

Zuletzt bin ich 2017 gefragt worden, ob ich für drei Jahre helfen könnte, jene internationalen Stipendien zu vergeben, die es Schriftstellern ermöglichen, für einige Monate im inspirierenden Künstlerdorf Schöppingen zu leben und zu arbeiten. Im Herbst 2019 habe ich zum dritten und letzten Mal für das Künstlerdorf umfangreiche Bewerbungen mit Lebensläufen, Projektvorhaben, Exposés und Textproben gelesen und bewertet, 63 an der Zahl, dazu viele Texte aus den Bewerber-Pools dreier Kolleginnen und Kollegen.

Es waren wohl 3000 Seiten, die aufmerksam zu sichten waren, und eines wurde dabei immer deutlicher: Ja, ganz sicher, es liegt auch an mir! Mir persönlich nämlich fällt es trotz aller Routine zunehmend schwerer, in kurzer Zeit zu oft und zu lange in die mehr oder minder gut gemachten literarischen Fantasien ambitionierter Literaten einzutauchen.

Und dabei waren es in Schöppingen immer ausnehmend viele gute Texte, die ich zu lesen bekam. Doch nach etlichen Jahren und Jurys gilt auch: Ich werde ungeduldiger und  schneller ärgerlich, wenn man mir polit-literarisch zu kurz Gebratenes, abgestanden Sturzbetroffenes, dekorative Pseudo-Avantgarde auftischt oder angestrengt Hermetisches und edel-verblasenen Metaphernsalat.

Da, wo offensichtlich kaum intellektuelle und artistische Anstrengung beim Entstehen investiert wurde, sträube auch ich mich, mir beim Verstehen mehr Mühe zu geben als nötig. Lieber verallgemeinere ich im Rahmen eigener Multi-Genre-Lektüre durchaus gallig und gern, was Marcel Reich-Ranicki 2010 im Spiegel-Interview in Hinsicht auf nur eine literarische Gattung bekannte: „Für Romane bringe ich nicht mehr die Geduld auf.“

Gute Jurys fördern, selbst dann, wenn sie nicht fördern

Als junger, neugierig-eitler Juror dagegen freute ich mich über jedes Talent, das ich aus dem Pool der Einsendungen herausfischte. Dass ich bei Förderpreisen oder Stipendien auch viele Halbfabrikate zu sehen und lesen bekam – wie sollte es anders sein? Selbst, wenn ich über tagelange Lesearbeit als vertane Zeit stöhnte, zum guten Ende überwog die Freude an den gelungenen Texten und die Tatsache, dass auch ich einigen jungen Autorinnen und Autoren ein paar Meter ihres Weges ebnen konnte.

Die Preisverleihung fällt heute aus?
(Foto © Jörg Briese)

Gelegentlich aber gab es in Jurys auch heftige Diskussionen darüber, ob man für ein Jahr keinen oder weniger Preise verleihen sollte. Immer allein deshalb, weil die Qualität der eingereichten Texte wirklich niemanden in der Jury überzeugte. Seltener machten Jurys ernst mit ihrer (internen) Kritik und setzten einen Haupt- oder Förderpreis tatsächlich einmal aus. Zumeist aber wurden die Auszeichnungen doch vergeben: Auch, weil man fürchtete, dass in Zeiten klammer Kassen einfallslose Kulturpolitiker und Kämmerer einen Preis bei dessen Nichtvergabe sofort ganz abschaffen könnten.

Schöppinger Luxusproblem

In der Jury für Schöppingen stellte sich das Problem einer Nichtvergabe von Stipendien niemals, ganz im Gegenteil. Auch 2019 gab es in meinem Text-Pool vielversprechende Autorinnen und Autoren aus aller Welt. 12 von 63 Texten waren so gut, dass ich ihre Urheber gerne für ein Stipendium vorgeschlagen hätte. Doch im Rahmen des Schöppinger Förderbudgets können nun einmal nur acht bis zehn Literaturstipendien vergeben werden – und auch die anderen drei Juroren hatten unter den ihnen zugeteilten weiteren 190 Bewerbungen überaus ernst zu nehmende Talente.

„Ja, und?“, werden Sie vielleicht denken, „So ist das nun mal. Da müssen es die Nachwuchs-Autoren halt noch einmal oder woanders versuchen. Deutschland hat bekanntermaßen eine reiche Förderlandschaft aus Literaturpreisen und -stipendien.“ Und ich würde Ihnen hier zustimmen, wenn da in den gut 250 Bewerbungen für die Stipendien nicht bloß äußerst respektable Gedichte, Geschichten, Theater- oder Hörspielszenen vorlägen, sondern eben auch Biografien aufschienen, Überlebenspläne also und Künstlerträume, die kein halbwegs sensibler Juror en passant ignorieren sollte.

Illusion und Enttäuschung

Da sehnen sich junge Lyrikerinnen noch einer Auszeit vom Alltag, nach Fokussierung und Schreibzeit in „a room of one’s own“. Migranten hoffen auf die Möglichkeit, ihre Autorenkarrieren in Deutschland fortschreiben zu können. Da finden sich ebenso hinreißende wie bedrückende Lebensgeschichten aus Nepal oder Nigeria, und ein Bewerber aus Afghanistan schreibt lakonisch über seine Erwartungen an eine Residenzzeit im Münsterländischen: „Expectations? To have a cozy place away of explosions, so I go deep with writing.“

Ein Stipendium oder ein kleiner Preis bedeutet für viele die oft allein gültige Eintrittskarte in einen Literaturbetrieb, in dem jegliche Existenzsicherung nur über eben diese Preise und Stipendien gelingt, über daran gekoppelte Visa, Lesungen, Schreibaufträge, Projekte, kleinere Veröffentlichungen – und selbstverständlich über Nebenjobs als Kellner oder Nachtwache.

Ist es da ein Wunder, dass ich jedenfalls sehr erleichtert bin, die berechtigten Hoffnungen begabter (!) Schreiber nicht länger enttäuschen zu müssen? Die aber sollten wissen, dass ihre Bewerbung oft allein deshalb ins Leere lief, weil die Anzahl der Stipendienplätze begrenzt war, weil die Texte anderer Autoren der Jury vielleicht nur einen Hauch besser gefielen und dabei selbstverständlich auch die Lese- und Lebenshorizonte der Juroren neben dem Zufall keine geringe Rolle spielten.

Occupy LCB! Oder: Der Hauptmann … vom Wannsee

Es wird wohl weiterbestehen, das Dilemma aller guten Jurys, aller seriösen Juroren: Sie dürfen einige wenige Literaten mit Fug und Recht ermutigen, doch zugleich müssen sie ausgewiesene Talente immer wieder enttäuschen  – und deren Kunst besteht dann nicht zuletzt darin, auf keinen Fall aufzugeben.

Joachim Lottmann hat kürzlich in der WELT die einzig richtige, weil satirische Autoren-Antwort auf dieses Dilemma gegeben:

„Mein Wunsch nach einem Stipendium wurde so groß, dass ich es eines Tages nicht mehr aushielt. (…) Vor allem wollte ich in die Wannsee-Villa des Literarischen Colloquiums Berlin. Die vergaben jedes Jahr Stipendien an sechs vermeintliche Sprachgenies. (…). Ich bin dann einfach hingefahren, als die sechs Kandidaten ankamen, und tat so, als sei ich einer von ihnen. Zwei Gewinner hatten nämlich abgesagt – das war üblich dort, weil manche mehrere Stipendien gleichzeitig abwickeln – und so fiel es nicht auf.“