Monströse Erkenntnisse: „Der Widersacher“ von Emmanuel Carrère im Dortmunder Studio

Szene mit Alida Bohnen und Max Ranft (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Szene mit Alida Bohnen und Maximilian Ranft (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Offenbar hat es sich wirklich so abgespielt: Jean-Claude Romand, ein geachteter Mediziner in Diensten der WHO, bringt 1993 Frau, Kinder, Eltern und sogar deren Hund um, bevor er sein Haus anzündet und eine große Menge Schlaftabletten nimmt. Den Selbstmordversuch überlebt er, weil die Tabletten alt sind und deshalb kaum wirken. Fassungslos fragt das gutbürgerliche Umfeld der Romands nach Gründen, und was in der Folge an Erkenntnissen zu Tage tritt, ist monströs.

Romand führte seit vielen Jahren ein Doppelleben, war gar kein Arzt und auch nicht bei der WHO in Genf beschäftigt. Freunde und Familie hatte er glauben lassen, er studiere Medizin, während er tatsächlich längst schon mit dem Studium aufgehört hatte. Später dann fuhr er jeden Tag zur Arbeit, war ab und zu auf mehrtägigen Dienstreisen – tatsächlich jedoch machten lange Waldspaziergänge einen Gutteil seiner Arbeitszeit aus.

Für die Morde gab es, wenn man einmal so sagen darf, rationale Begründungen: Romand hatte in der Familie viel Geld eingesammelt, angeblich, um es „als Diplomat“ in der Schweiz mit sagenhaften 18 Prozent anzulegen. Tatsächlich aber lebten er und seine Familie von dem Geld. Als sein Vater einen Teil seiner Einlage für den Kauf eines Autos haben wollte, lief das Finanzierungsmodell Gefahr, aufzufliegen. Deshalb mußte der Vater und mußten die anderen sterben.

Szene mit (von links) Marlena Keil, Alida Bohnen und Uwe Rohbeck (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Tatsachenroman

Emmanuel Carrère erzählt diese Täuschungs- und Betrugsgeschichte in seinem Tatsachenroman „Der Widersacher“ nach, Regisseur Ed. Hauswirth machte die Übersetzung aus dem Französischen von Claudia Hamm zur Grundlage seiner Stückfassung, die derzeit im Studio des Dortmunder Schauspielhauses gezeigt wird.

Uwe Rohbeck, mit blonder Perücke kaum wiederzuerkennen, gibt den Buchautor und Erklärer Carrère, weitere Rollen im Stück sind mehrfach besetzt, was gewisse Chor-Effekte und Verstärkungen ermöglicht. Bis zu sieben Personen stehen (sitzen, liegen) auf der Bühne und erzählen, was da passiert ist, wie unglaublich ihnen diese Enthüllungen zunächst waren, wie ihnen die Ungeheuerlichkeit des ganzen zunehmend dämmerte. Rohbeck/Carrère strukturiert mit seinen nüchternen Erklärungen wiederholt die Erzählung, die Personen auf der Bühne hingegen spielen, sprechen, streiten kraftvoll, und immer unausweichlicher schiebt die Frage in den Raum, warum niemandem etwas aufgefallen ist, obwohl man Romand nie anrufen konnte, er nie Kollegen vorstellte und so fort.

Szene mit (von links) Marlena Keil, Björn Gabriel, Caroline Hanke und Uwe Rohbeck (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Erklärungen

Susanne Priebs (Bühne und Kostüme) hat zwei sehr zerbrechlich wirkende Stapel von Sammeltassen auf der Bühne platziert, die jedoch stabiler sind als befürchtet und den Theaterabend unbeschadet überleben; Es gibt ein paar widerborstige Stühle ohne Sitzflächen, ein paar eher gestische als pantomimische Einlagen, doch all das ist Beiwerk.

Im Zentrum dieser Inszenierung steht ein unbedingtes Interesse an der unglaublichen Geschichte des Jean-Claude Romand, steht das Bestreben, dem Publikum diesen Inhalt getreulich zu erklären. In der Form erinnert das, so verschieden der Gegenstand der Stücke auch ist, an einige Bühneneinrichtungen von Houellebecqs „Unterwerfung“ (etwa an jene des Westfälischen Landestheaters in Castrop-Rauxel), bei denen es ebenfalls vor allem darum ging, nicht ganz unkomplizierte Sach- und Sinnzusammenhänge schlüssig zu erklären. Dieses Theaterstück hat ein Anliegen, erschöpft sich nicht in formalen Spielereien.

Die Frage nach dem Warum

Bleibt die Frage nach dem Warum. Hauswirths Inszenierung weicht ihr nicht aus, versucht Antworten aber mit wohltuender Dezenz. Von den Annehmlichkeiten des bildungsbürgerlichen Milieus wäre hier sicherlich zu reden, vom guten Leben in vermeintlich vorgezeichneten Lebensbahnen. Zudem gab es in Romands Leben fraglos auch den Point of No Return, wo das Geflecht aus Lügen und Betrug übermächtig geworden war und seine eigene Dynamik entwickelt hatte. Aber es fragt sich doch, warum Jean-Claude nicht zur Zwischenprüfung ging, sondern statt dessen sein Doppelleben begann. Er hätte sogar durchfallen können, eine Wiederholung der Prüfung wäre möglich gewesen. Daß auch hier eher so etwas Banales wie Prüfungsangst die entscheidende Rolle gespielt haben könnte und (vorstellbar jedenfalls) keine manifeste psychische Macke, kann uns angesichts der folgenden Geschehnisse nicht wirklich beruhigen.

Viel Applaus für einen bewegenden Theaterabend mit spannendem Inhalt und anspruchsvoller Sprechkultur.

  • Termine: 13. und 29.12.2019 – 12., 16. und 26.1.2020 (Anfangszeiten wechseln!)
  • www.theaterdo.de