Die Seele in Bilder eingebrannt – Vor 100 Jahren nahm sich Vincent van Gogh das Leben

Von Bernd Berke

Es gibt keinen zweiten Mailer, der sein zerrüttetes Ich so lodernd in Bilder eingebrannt hat. Es gibt kaum einen weiteren, dessen Farben so übernatürlich gleißen können wie etwa das Gelb seiner Sonnenblumen. Und es gibt keinen anderen, über den so viele Legenden in Umlauf sind, der ein derart exemplarisches „Künstlerleben“ geführt hat (oder hat „e s“ nicht vielmehr ihn in alle Höhen und Tiefen mitgerissen?). Hollywood hätte es nicht besser erfinden können.

Vincent van Gogh, der nach Umfragen beliebteste aller Maler, hat sich am 27. Juli 1890 eine Streifschußkugel in den Leib geschossen; am Sonntag vor genau 100 Jahren ist er daran gestorben. Es ist nicht einmal gewiß, ob dies eigentlich nur ein „Warnschuß“ sein sollte, oder ob er sich wirklich hat umbringen wollen.

Heute verehren ihn alle. Das hat sich in Amsterdam und Otterlo gezeigt, wo am Sonntag zwei große Ausstellungen enden; bald wird es sich in Essen erweisen, wenn Kunstfreunde in die Ausstellung „Vincent van Gogh und die Moderne“ (11. August bis 4. November) pilgern werden. Als naher Mitmensch würde er allerdings Haß auf sich ziehen: Nach allem, was zu lesen ist, war er zumeist höchst reizbar, rechthaberisch, aufbrausend, zudem ein Trinker hohen Grades (Absinth & Cognac), bei Frauen glücklos und regelmäßig in Bordells zu finden, wo er sich entsprechende Krankheiten zuzog.

Obgleich hochintelligent und äußerst sprachbegabt (seine wunderbaren Briefe zeugen davon), war er auch ein Versager in halbwegs bürgerlichen Berufen: Der am 30. März 1853 im Brabanter Dorf Groot Zundert geborene Sohn eines protestantischen Pastors scheiterte u. a. als Buchhandels-Gehüfe und Prediger. Mit 26 Jahren blieb ihm nur die Flucht, ja geradezu der Sturz in die Kunst, die er sich zunächst als geduldig-verbisseaer Kopist und Autodidakt erschloß. Nach damaligem akademischem Maßstab mußte er als Dilettant gelten. In der Tat verkaufte der Mann, dessen Bilder heute alle Auktions-Weltrekorde halten, sein Lebtag nur ein einziges Bild – zum Spottpreis.

Alsbald verlegte er sich, nach Vorbild des Franzosen Millet, auf zunächst noch düster-erdfarbene bäuerliche Motive. Gipfelpunkt dieser Phase waren die 1885 entstandenen „Kartoffelesser“.

1886 zog Vincent nach Paris, wo sein Bruder Theo im Kunsthandel arbeitete. Theo, der den vier Jahre älteren Vincent jahrelang finanziell über Wasser hielt, wird neuerdings in anderem Licht gesehen: Das von Theos Frau für die Nachweit geschönte Idealbild vom stets nur helfenden Bruder stimmt wohl nicht. Ein Streit mit Theo könnte gar Anlaß für Vincents tödlichen Schuß am 27. Juli gewesen sein.

In Paris geriet Vincent van Gogh zwar nicht in den Bann, wohl aber unter farblichen Einfluß der Impressionisten. Er arbeitete nun spontaner, gelangte allmählich vom mühsam errungenen zum rasch und rauschhaft erschaffenen Bild. Und die Farben wurden heller, vielfältiger. Es gelangen ihm nun Werke, mit denen er seinem erklärten Ziel, „deutlicher als die Natur selbst“ zu malen, nahekam. Glühende Farben, an den Grenzen des Wahns rotierende, aber auch zu magischer Einfachheit gelöste Formen – die Bilder waren unfaßbar „beseelt“, mit seinem „Ich“ durchtränkt.

Die Spätphase, in der praktisch alle wichtigen, übermächtig auf die heftigen „Fauves“ und die Expressionisten wirkenden Bilder entstanden, setzte 1888 mit der Stadtflucht aus Paris ins südfranzösische Arles ein. Hier, sodann beim (freiwilligen) Aufenthalt in der Heilanstalt von St. Rémy und am Ende in Auvers-sur-Oise bei Paris spielten sich dann all die Szenen ab, von denen jeder schon gehört hat: der heftige Streit mit Paul Gauguin (mit dem van Gogh eine zukunftsweisende freie Künstler-Gruppe gründen wollte); die Sache mit dem abgeschnittenen Ohr, der Terpentin-Trunk in der Heilanstalt.

Solche Vorfälle mögen erste Selbstmordversuche gewesen sein. Doch die letzten Monate stehen auch für einen beispiellosen Schaffensrausch: In Auvers entstanden binnen 70 Tagen 80 Gemälde sowie zahllose Zeichnungen. Bis in die letzten Lebenslage schrieb van Gogh klarsichtige Briefe, auch sann er noch auf künstlerische Innovationen.

Die neuere Forschung ist daher davon abgerückt, seine Spätzeit unter der Rubrik „Genie und Wahnsinn“ abzuhandeln. Van Gogh litt wohl unter schweren psychischen Störungen, war aber nicht im physiologischen Sinne geisteskrank. Doch vielleicht trifft auch auf ihn Heinrich von Kleists berühmter Satz zu: „Die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war“.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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