Der Spießer von heute sagt „ätzend“ und „geil“

Da bin ich ganz voreingenommen: Es gibt nicht allzu viele Autoren, auf deren Bücher ich mich im voraus so freue, wie auf die jeweils neuesten Hervorbringungen von Max Goldt.

Ahhhh, da ist er also endlich eingetroffen, der neue Goldt. Mal sehen. Mal anblättern. Und sogleich möchte man jubilieren: „Ja, ja, ja. So ist es.“ Wenn Goldt nämlich zu Beginn von „Die Chefin verzichtet“ den allwöchentlich republikweit exerzierten, neudeutsch strotzenden Feuerwerkswahn geißelt: „…vielmehr glauben manche mittlerweile, sie hätten ein Recht darauf, enthemmt durch Suff und Gruppenzwang, Explosionen zu verursachen.“ Über pyromanische Fußball-Randalos mäandert der Text sodann in bester goldtscher Manier bis hin zu absurden Seilbahn-Szenen mit US-Christen der dumpf fundamentalistischen Sorte. Herrlich! Wer sonst kommt so produktiv von Holz auf Stock?

Nun gut. Nicht alle Texte des Bandes sind dermaßen stark. Doch es ist zumeist eine Lust, wie dieser begnadete Kolumnist (diese Bezeichnung ist eigentlich eine Untertreibung) gängige Meinungsschemata aller Arten unterläuft, und zwar vollkommen unabhängig von etwaigen politischen Tönungen. Goldt erwischt beinahe alle, die es verdienen, so auch „die Stänkereien reaktionärer Giftknilche, die in jeder Frauenbeauftragten den Leibhaftigen sehen. Und sich bei ihrem Herumgepeste im Internet vorkommen wie Widerstandskämpfer…“ Kann man’s trefflicher sagen? Schwerlich.

Unfähige junge Hotel-Rezeptionistinnen ereilt ebenso der Bannstrahl wie das Elend der heutigen Buchgestaltung, die immergleiche Mimik eines gewissen Günter Grass („grantig und selbstgerecht“) oder die Machwerke des „spirituellen Volksverhetzers Paulo Coelho“. Sagt selbst: Hat jemand diesen Säusel-Schreiberling schon genauer charakterisiert?

Goldts Vortrag über den Wandel der Begriffe „Spießer“ und „Kleinbürger“ erspart wohl so manches sozialwissenschaftliche Seminar, auch ist er den meisten Kabarettisten im beherzten Zugriff voraus. Nur mal stichwortartig hingeworfen: „Sexy“ ist demnach das neue „spießig“. Der Kleinbürger von heute dünstet längst nicht mehr nach Rosenkohl, sondern mampft Pizza, sagt „geil“ und „ätzend“, „sexy“ und „lecker“. Richtig, diese Leute kennt man doch zur Genüge!

Doch Vorsicht: Manchmal könnte man auch selbst gemeint sein. Goldt arbeitet sich zur Hypothese vor, die von einer allgegenwärtigen Diktatur des Pop und des kommerziellen Sports ausgeht und verdammt plausibel klingt. Wir sollten uns das mal zu Herzen nehmen.

Mag sein, dass das eine oder andere verbliebene Qualitäts-Feuilleton schon in ähnliche Richtungen gezielt hat, doch Goldt setzt meist noch einen bis fünfe drauf. Seine Abhandlungen z. B. über kaum noch unterscheidbare TV-Talkshows, das unheimliche Faszinosum namens Sahra Wagenknecht, die Selbstdegradierung durch fade imitierten „Glamour“ bei heute gängigen Abi-Bällen, den fernsehüblichen Sprachmüll (auch bei Phoenix und 3Sat) oder das kennerhafte Getue beim Weintrinken sind einfach exquisit.

Am Schluss möge ein Zitat stehen, das die derzeit arg ins Stocken geratene Evolution der Spezies Mann aufgreift: „Besteht denn gar kein Wunsch, nach all den Jahren, die hinter uns liegen, mal wieder etwas anderes zu sehen als kahlrasierte, tätowierte Freizeitgrobis?“ Und jetzt alle im Chor: Doch, doch, der dringliche Wunsch besteht!

Max Goldt: „Die Chefin verzichtet“. Texte 2009-2012. Rowohlt Berlin. 159 Seiten. 17,95 Euro.