Sommernachtstraum im Park von San Francisco

Im Buena-Vista-Park von San Francisco spielen tagsüber die Kinder. Vielköpfige Familienclans bevölkern die Grünflächen. Des Nachts treffen sich hier im Schutz der Bäume und Büsche die Verliebten, es streifen einsame Herzen auf der Suche nach ein bisschen Glück durch den im Dunklen liegenden Ort.

Dass die Menschen ihre Lebens- und Liebesspiele direkt unter den Augen von Elfen, Zwergen und Kobolden vollbringen, auf diese Idee kann man kommen, wenn man Shakespeares „Sommernachtstraum“ als zeitlose Geschichte über die Freiheit der Fantasie und das Ineinander von Wunsch und Wirklichkeit liest und als immer wieder frische Parabel auf die Nähe von Lust und Leid und die Allgegenwärtigkeit des Todes versteht.

Chris Adrian gilt als neuer Stern am US-amerikanischen Literaturhimmel. Der 1970 in Washington geborene und heute in San Francisco lebende Autor studierte Theologie und Medizin. Er arbeitet als Arzt auf einer Station für krebskranke Kinder. Den Roman „Die große Nacht“, in dem Adrian die Grenzen zwischen Zeit und Raum, Traum und Realität verwischt und Shakespeares „Sommernachtstraum“ in die Gegenwart holt, hat er den langen, schlaflosen Nächten abgerungen, der Verzweiflung und Hilflosigkeit, die ihn überfällt, wenn er das Dahinsiechen und Sterben seiner kleinen Patienten mitansehen muss. Der „New Yorker“ wählte ihn jüngst zu einen der wichtigsten jungen amerikanischen Autoren dieser Tage. ZDF-Journalist Wolfgang Herles pilgerte eigens mit seinem „Blauen Sofa“ nach San Francisco, um den neuen Literaturstar zu interviewen.

Erstaunlich, wie leichthändig der hochtalentierte Adrian mit dem mythenbeladenen und auf den Bühnen dieser Welt beinahe zu Tode inszenierten Stoff umgeht. Dass ihm bei seiner modernen Shakespeare-Version Botho Strauß und dessen Sommernachtstraum-Variation „Der Park“ behilflich gewesen sein könnte, ist mehr als wahrscheinlich. Denn wie bei Strauß dampft es auch in Adrians nächtlichem Park vor sehnsuchtsvoller Sinnlichkeit und purem Sex. Und wie bei Strauß streiten sich auch diesmal das sich unters gemeine Menschenvolk mischende Elfenkönigspaar Titania und Oberon um einen sterblichen Knaben. Oberon hat das Kind einer Menschenmutter geraubt und seiner Titania ins Bett gelegt. Die hat sich so sehr an den fröhlichen Wonneproppen gewöhnt, dass sie unendlich leidet, als das Kind an Leukämie erkrankt und weder von ihrem Elfenzauber noch von den Medikamenten und Apparaten der Ärzte zu retten ist. Zorn und Verzweiflung sind so groß, dass Titania nicht nur Oberon beleidigt und verstößt, sondern auch noch den hinterhältigen Dämon Puck von seinem Sklavendasein befreit und zu einem Monster macht, das in seinem Hass mordend durch den Park wütet.

Pucks Blutrausch und das Gezeter der um ihr Leben flüchtenden Elfenbande hat erheblichen Einfluss auf die nachts durch den Park irrenden Menschen. Vor allem Molly, Will und Henry werden arg in Mitleidenschaft gezogen. Eigentlich suchen die drei, die alle gerade einen geliebten Menschen verloren haben und nun mit der Liebe und dem Leben hadern, nur die Villa eines Freundes, der in seinem verwilderten Garten eine seiner legendären Feste veranstaltet. Sie wollen endlich einmal wieder fröhlich sein, die Einsamkeit und den Tod vergessen. Doch nun werden sie von Elfen verwirrt und verzaubert. Sie wissen nicht mehr, ob sie träumen oder wachen. Im verwunschenen Park warten dunkle Erinnerungen und peinigende Ängste genauso wie seltsame erotische Begegnungen und neue befreiende Hoffnungen. Und was hat es eigentlich mit dieser merkwürdigen Truppe von Laiendarstellern auf sich, die im schummrigen Mondlicht ein Polit-Musical probt und mit ihren Songs dagegen protestiert, dass in San Francisco angeblich Obdachlose verschwinden, zu Menschenfleisch verarbeitet und den Armen und Bedürftigen zur kostenlosen Speisung vorgesetzt werden?

Sehr undurchsichtig und gefährlich, aber auch sehr komisch und fantastisch ist diese „große Nacht“, die Adrian vor den staunenden Augen des Lesers ausbreitet. Wenn das erste Tageslicht den Park erhellt, wird die Welt eine andere und der Leser um einige köstliche Erlebnisse reicher sein.

Chris Adrian: „Die große Nacht“. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Piltz. Rowohlt-Verlag, 445 S., 14,95 €