Ein Mensch zerbricht: Alban Bergs „Wozzeck“ im Konzerthaus Dortmund
Mit versteinertem Gesicht steht er da: Ein Bär von einem Mann, bebend, die Hände an der Hosennaht. Sichtlich gequält, aber wehrlos. Ein gefesselter Gigant, ein Vulkan kurz vor der Eruption.
Das ist Johann Christian Woyzeck, in der Oper von Alban Berg schlicht „Wozzeck“ genannt. Ein armer Soldat, der sich für ein wenig Geld krumm macht, der von seinen Vorgesetzten schikaniert und von seinen Mitmenschen mitleidlos ausgenutzt wird. Eine Kreatur wie ein geprügelter Hund.
Es hat ihn um 1800 wirklich gegeben, den Sohn eines Leipziger Perückenmachers, der aus Eifersucht zum Mörder wurde. Sein Schicksal befeuerte Georg Büchner zu seinem berühmten Dramenfragment und Alban Berg zu seiner bahnbrechenden Oper. Die Alban Berg gewidmete „Zeitinsel“ im Konzerthaus Dortmund erreichte durch einen exzellent besetzten „Wozzeck“ jetzt erschütternd intensive Stunden.
Vom Bariton Johan Reuter kann dabei kaum die Rede sein, denn der ist eigentlich gar nicht da. Der in Kopenhagen geborene Sänger muss sein wahres Ich wohl in der Garderobe abgelegt haben, um sich ganz und gar in Wozzeck zu verwandeln. Und so hetzt er über die Bühne als ein Getriebener, der Stimmen hört und die Erde unter seinen Füßen wanken fühlt. Wie mit Überdruck bricht die Titelfigur aus diesem großartigen Sängerdarsteller heraus. Seine Stimme gibt uns den Rest: vibrierend vor Erregung, steigert sie sich schubweise zu Ausbrüchen einer Verzweiflung, deren Wucht uns fortreißt wie eine Naturgewalt. Wozzeck stammelt, er stöhnt, er brüllt auf. Da gibt es kein Entrinnen: Seine Verstörung springt uns förmlich auf den Schoß, seine Qual wird die unsere.
Die wunderbare Angela Denoke ist als Marie eine herrlich vielseitige Partnerin. Aus ihrem klaren, reifen Sopran klingt die Einsamkeit der vernachlässigten Frau, die Rat- und Trostlosigkeit angesichts eines Mannes, dessen Zustände sie immer weniger versteht. Zugleich ist sie zärtlich als liebende Mutter, giftig als zänkische Nachbarin, buhlerisch schmeichelnd im Flirt mit dem Tambourmajor. Auch die Denoke kann sich bis zum stöhnenden Aufschrei steigern. Ins schier Uferlose aber wächst Maries Jammer, wenn sie in stiller Verzweiflung um Vergebung ihrer Sünden betet.
Die Nebenrollen sind erwartungsgemäß stark besetzt: der Hauptmann (mit leichter Tendenz zur Überzeichnung: Peter Hoare), der Doktor (zu Beginn etwas steif: Tijl Faveyts) und der Tambourmajor (mit auftrumpfender Macho-Attitüde: Hubert Francis) sind ein treffliches Trio infernale, das Wozzeck das Leben zur Hölle macht. Zum Erlebnis wird der Abend auch deshalb, weil das Philharmonia Orchestra und die Sänger der Dortmunder Chorakademie immer wieder punktgenaue Schlaglichter auf das Geschehen werfen. Bergs bestechend dichte, psychologisch aufgeladene Partitur wird so zum Kommentar, der mehr sagt als tausend Worte. Zuweilen greift Esa-Pekka Salonen am Dirigentenpult so beherzt in die Fortissimo-Skala, dass die Gesangssolisten nur mehr als Farbe in der Klangorgie wahrzunehmen sind. Rauschhaftem Musikgenuss steht das aber nicht unbedingt entgegen. Es war diesmal nicht die Lautstärke, die das Publikum zum Jubeln brachte.
(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)