Mario Desiatis Roman „Zementfasern“: Das vergiftete Leben in der Fremde

Cover Download Wagenbach Verlag „Die Vorfahren hatten ihr Leben damit zugebracht, einen sicheren Fleck Erde zu suchen. Einen Schutzraum, wo man abwarten kann, bis die Zeiten sich bessern.“

Mit einer sehnsüchtigen Erinnerung an sonnenglänzende Tage am Meer beginnt „Zementfasern“, der erste ins Deutsche übersetzte Roman des in Italien hochgeachteten Autors Mario Desiati. Doch Heimat ist (leider) auch keine Lösung. Diese Lektion lernt Desiatis nonkonformistische Heldin Mimi früh und sie wird ihr ganzes Leben bestimmen.

Mimis Heimat liegt in der apulischen Provinz Lecce, unweit der Küstenstelle, wo ionisches und adriatisches Meer aufeinander treffen. Mit 15 Jahren muss sie diese Heimat verlassen, ihren Eltern ist es nicht länger möglich, dort für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen. Sie emigrieren in die Schweiz und es beginnen entbehrungsreiche Jahre. Jahre aus Glas und Zement. In den siebzigern Jahren war es ein ganzer Strom von Menschen aus Kalabrien, Sizilien und Apulien, die sich auf der Suche nach einer besseren Zukunft in Schweizer Fabriken unter härtesten Bedingungen verdingten. Mimis Vater findet Arbeit in einer Zementfabrik, die Familie lebt in einem Verschlag in einer gläsernen Halle. Die Arbeit ist weitaus gefährlicher, als es den Anschein hat. Der Zement nährt sie, aber er zerstört sie auch. In den Fabriken wird Eternit hergestellt, bei der Arbeit atmen die Männer giftige Asbestdämpfe und Zementfasern ein, die ihre Gesundheit auf ewig zerstören werden. Da ist es nur mehr eine höhnische Randnotiz, dass der Markenname Eternit dem englischen Eternity (Ewigkeit) entlehnt ist.

In der Halle aus Glas sucht Mimi Zuflucht in einer frühen Liebe zum Arbeiter Ippazio. Der junge Mann ist mutig genug, in der Fabrik auf einem schmalen Grat über dem brodelnden Zement zu wandeln, jedoch nicht mutig genug, zu seiner Liebe zu stehen. „Aber in ihrem unverzichtbaren Recht auf wechselseitige Dummheit verbarg sich ein Wunder.“ Das Wunder trägt Mimi unter ihrem Herzen. Mit ihrer Tochter Arianna kehrt sie in die Heimat zurück, findet Arbeit in einer Krawattenfabrik und wird mit ihrer vitalen, unangepassten Art zu einem Mittelpunkt des Lebens in ihrem Dorf. Ein Dorf, dem nach und nach die Männer an den Spätfolgen der eingeatmeten Zementfasern wegsterben. Ein Dorf, in dem ein Totenkorb nach dem anderen gepackt wird und die Frauen für das Überleben der Gemeinschaft Sorge tragen.

Die Männer, die nicht an den Zementfasern dahinsiechen, erliegen der zweiten Krankheit der Entwurzelten, dem Alkoholismus. Mimi und die anderen Frauen nehmen schließlich den Kampf auf für eine späte Gerechtigkeit. Doch nur ihre unerfüllt gebliebene, aber immer Schatten werfende Liebesgeschichte mit Ippazio findet schließlich ein versöhnliches Ende auf dem Dach der von Schließung bedrohten Krawattenfabrik. Hier schließt sich ein Kreis, denn das italienische Wort für Dach ist Ternitti. Ternitti – so nannten die italienischen Arbeiter das todbringende Eternit, Ternitti – so lautet der Titel des Romans im Original.

Mario Desiati erzählt auf realistische Weise eine Geschichte nicht nur von Hunger, Tod und Ausbeutung, sondern auch eine von Liebe, Mut, Kühnheit und Kraft. Er setzt den Menschen seiner Heimat, die durch die Glücksversprechen Schweizer Fabrikanten so ausbeuterisch getäuscht wurden, ein Denkmal. Es ist eine Geschichte, wie sie überall auf der Welt erzählt werden könnte. Aber das war wohl nicht die Absicht Desiatis. Er hält seine Geschichte in kleinem Rahmen, eine globale Überbauung gibt er nicht. Damit macht er es einem Leser, der zum ersten Mal von der Tragik vieler Menschen in Apulien hört, schwer, einen empathischen Zugang zum Roman zu finden, zumal er etliches an Wissen beim Leser voraussetzt. Aber nicht jedem sind die gewachsenen Animositäten zwischen Kalabresen und Süditalienern bekannt, nicht jeder kann mit italienischen Begrifflichkeiten sofort etwas anfangen. So wird der Begriff Pajare für eine Bauweise in einer Fußnote erklärt mit Pajare – erinnern an die Trulli. Trulli sind Rundhütten, aber wer weiß das? Ich wusste es nicht und mutmaßte zunächst, die Trulli wären eine einflussreiche Familiendynastie in dieser Gegend. Diese Unterbrechungen des Leseflusses sind schade, denn Desiati eröffnet in diesem Buch einen ganz neuen, spannenden Blick auf italienische Wirklichkeiten. Einen Blick jenseits aller Klischees und auch jenseits gerade im Moment der Eurokrise gerne wieder aufkochenden Vorurteile.

Desiati erzählt mit Liebe und Respekt für seine Helden, sprachlich schafft er eine mitreißende Mischung aus Wut und Melancholie. In diesem Zusammenhang sei auch die bemerkenswerte Übersetzung erwähnt. Man merkt die Sorgfalt, mit dem die Übersetzerin Annette Kopetzki sich dem Buch und der Thematik genähert hat. Ich weiß nicht, wie sie es gemacht hat, aber sie hat es geschafft, dem Buch auch auf Deutsch eine italienische Sprachfärbung zu geben. Man meint förmlich, die italienische Sprachmelodie während des Lesens zu hören.

Das Ende des Romans bleibt zum Teil offen, man erfährt nicht, ob und welche Früchte der späte Protest der Frauen des Ortes Tricase getragen hat. Das erlittene Leid ist eben auch im übertragenen Sinne zementiert und nicht wieder gut zu machen. So bleibt für Mimi und die Ihren die Hoffnung, dass der Versuch gelingt, „nur die Erinnerungen zu bewahren, die sie lächeln machen.“

Mario Desiati: „Zementfasern“, Roman. Wagenbach Verlag, 283 Seiten, €19,90