Familienfreuden IX: Still-In

Viele Wege führen zur Sättigung - warum nicht auch ein Still-In? (Zeichnung: Nadine Albach)

Viele Wege führen zur Sättigung – warum nicht auch ein Still-In? (Zeichnung: Nadine Albach)

Es klingt nach: Ruhe, nach himmlischer. Kein Schreien, kein Nölen, einfach Ruhe. Die Rede ist vom Stillen. Da steckt ja schon im Wort, dass damit mindestens eine der beteiligten Parteien – Mutter und/oder Kind – in selige Entspannung verfällt. Zumindest ist das die Unterstellung im deutschen Wortschatze: Die Franzosen sind da deutlich pragmatischer und sprechen von „allaiter“, worin schlicht das Wort „lait“, also Milch, steckt und somit die Nahrungsaufnahme im Vordergrund steht. Die innige, auf wonnigen Werbebildern zur Genüge dargestellte, körperliche Mutter-Kind-Beziehung, idealisiert das Deutsche hingegen schon verbal.

Für das Umfeld der stillen(den) Glückseligen aber ist das Stillen nicht immer ein Geschenk. Ich meine, es war Harald Schmidt, der darüber lästerte, man könne kaum irgendwo in Ruhe seinen Kaffee trinken, ohne dass einem eine blanke Brust entgegenspringt. Dabei möchte auch ich meinen Mitmenschen nur ungern nackte Tatsachen ins Gesicht reiben – Fiona allerdings ist da weder verhandlungsbereit noch schambehaftet (wer weiß, vielleicht gründet sie später mal eine Kommune), ganz egal, wo wir gerade sind.

So bin ich inzwischen zur Hüterin der schrägen Stillorte geworden.

Ein Café oder ein Restaurant sind ja langweilig. Der Hunger überkommt Fiona gern in ungewöhnlichen Umgebungen (ob mit Absicht?). Jedenfalls hatte ich schon die zweifelhafte Ehre, eine Waschanlage zur Milchbar umzufunktionieren: Während die Waschbürsten meditativ schrubbten und außen das Wasser nur so floss, sprudelte im Autoinneren lecker Milch.

Im Laufen, im Liegen, im Sitzen, am Stadtparkteich neben den Enten oder auf 1500 Metern in der Schweiz – alles kein Ding. Eine Freundin hat mir sogar erzählt, dass sie es sich letztens in der Matratzenabteilung von Ikea gemütlich gemacht hat.

Mein Lieblingsort war allerdings – der Friedhof. Grabsteine und Gedenken hin oder her, Fiona hatte Hunger. Und das ist bei einem Baby kein Zustand, der zu großen Diskussionen anregt. Unangenehm war mir das trotzdem, ich wollte ja niemanden (von den Besuchern) stören. Also suchte ich mir die hinterletzte, zugewachsene Ecke und regte an, Fiona möge sich beeilen. Doch wo zuvor keine Menschenseele zu sehen war, tauchte plötzlich ein älterer Herr auf. Ich hatte mich ausgerechnet am Wasserspender platziert – und der arme Mann wollte einfach nur ein Grab gießen. Einen kurzen Moment lang trafen sich unsere Blicke. Ein wenig beschämt, ein wenig erschreckt, vor allem hilflos, in Gedanken an altes und neues Leben.

Schnell senkte der Mann den Blick, schob die Hände in die Manteltaschen und ging eilig davon. Fiona trank weiter, als wäre nichts geschehen. Um uns herum – Stille.