Vom Verlust der Heimat – Annika Scheffels Roman „Bevor alles verschwindet“

A.Scheffel, bevor alles verschwindet In letzter Zeit befassen sich offenbar auffällig viele Werke mit der Frage nach Heimat. Zufall oder deutliches Zeichen unserer rastlosen Zeit, in der Mobilität oft genug als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird? „Heimat ist auch keine Lösung“ lautete unlängst der Titel eines großartigen Theaterstücks im Bochumer Schauspielhaus. Unweigerlich musste ich diesen Satz denken, als ich den neuen Roman von Annika Scheffel „Bevor alles verschwindet“ gelesen habe.

Annika Scheffel erzählt vom letzten halben Jahr eines Dorfes, welches auf die Flutung wartet. Einem Staudammprojekt muss das Dorf weichen, ein Naherholungsgebiet soll entstehen. Die meisten Dorfbewohner sind schon weg, im neuen Ort, der bald einen großartigen Blick auf einen See zu bieten hat. Den See, der dann ihre einstige Heimat verschluckt haben wird. Im alten Dorf selbst harren Jahre nach der Ankündigung nur noch wenige Bewohner aus, die „Realitätsverweigerer“, wie die Verantwortlichen sie nennen. Die Verantwortlichen, das sind die fahlen Herren der Staudamm-Gesellschaft, die den bevorstehenden Untergang mit roter Sprühfarbe auf den abzureißenden Häusern markieren.

Die verbliebenen Bewohner haben „Angst bis zum Himmel und darüber hinaus“. Sie wissen, dass sie sich in der neuen Heimat fremd fühlen werden, sie sich ein neues Leben in der Heimatlosigkeit aufbauen müssen. Für einige von ihnen ist Heimat da, wo sie Freunde und Angehörige begraben haben, wo sie selbst dereinst begraben sein wollten. Nicht von ungefähr spielt im Roman der Friedhof, der auf seine Einbetonierung wartet, eine bedeutende Rolle.

Sie schmieden unbestimmte Pläne für finale Protestaktionen, doch über mehr als Halbherzigkeit kommen sie nicht hinaus. Dafür sind sie selbst zu sehr mit ihren eigenen Dämonen beschäftigt. Was sie eint, ist auch das Schweigen über vergangene Sünden, das Wissen übereinander, aber keiner von ihnen hat die Kraft, diese Gemeinsamkeiten in einen echten Protest zu lenken. So muss das ein Tier übernehmen, der blaue Fuchs, den nicht alle sehen können, der dafür aber die Verantwortlichen beißt. Die Rolle des stoisch Ertragenden spielt Milo, den auch nicht alle sehen können, der aber immer da auftaucht, wo ein Mensch alleine seine Last nicht mehr tragen kann.

Das Jahrhundertfest lässt man die Verbliebenen noch feiern. Außer den letzten Bewohnern kommen nur Gaffer und Dokumentarfilmer. Von denen, die schon am neuen Ort leben, lässt sich keiner blicken. „Wer einmal geht, so sagen sie, kehrt nicht mehr zurück“. Die halbherzig geplanten Protestaktionen sind ein letzter vergeblicher Aufschrei, der wirkungslos verpufft, die – auch tödlichen – Opfer, die gebracht wurden, sie waren umsonst. Die Flut kommt, das Wasser stürzt, der Ort ist Vergangenheit.

Im Roman wie auch so oft im Leben sind diejenigen die Verlierer, die an einer Heimat im Sinne eines unveränderlichen Wohnorts festhalten. Vordergründige Gewinner sind die fahlen Herren, die Verantwortlichen. Unwillkürlich denkt man bei diesen Herren an die grauen Herren aus Michael Endes „Momo“. Damals stahlen sie die Zeit, heute direkt die Welt. Dennoch ist „Bevor alles verschwindet“ weder Märchen, noch Gleichnis, noch politisches Statement. Was Annika Scheffel liefert, ist trotz des Auftretens eigener Fabelwesen, trotz des zwischenzeitlichen Versuches eines magischen Realismus eher eine Zustandsbeschreibung des äußeren Geschehens und eine Erkundung des Inneren der letzten verbliebenen Bewohner. Weil diese nicht wissen, was sie bekommen werden, halten sie an dem fest, was sie haben. Auch wenn dies lange nicht mehr das ist, was es mal war.

Die Autorin nähert sich ihrem Thema mit großem Respekt. Ihre Sprache ist flüssig, angenehm zu lesen, aber nicht einfach. Sie erzählt ganz ruhig, lässt Entwicklungen zu und überfrachtet ihren Roman nicht mit den mystischen Anspielungen, das dosiert sie sehr genau. „Bevor alles verschwindet“ weckt viele Emotionen. Stimmungen erzeugen – das ist etwas, was die Autorin sehr gut kann.

Dennoch leidet der Roman immer wieder an Längen. Ab und an denkt man schon, dass man es so genau jetzt auch wieder nicht wissen wollte. Gerade, wenn es um David geht, den Sohn des Bürgermeisters, der von seinem verzweifelten Vater in den Wahnsinn getrieben wird, führen diese Längen zu Desinteresse. Manchmal erzählt Annika Scheffel allzu ruhig und rutscht dadurch ins Unbeteiligte ab. Es gibt einige Stellen im Buch, die von Eltern erzählen, die ihren Kindern zuviel zumuten und ihnen die Zukunft verbauen. Hier wird soviel Fatalismus impliziert, dass man auf die Idee kommen könnte, diese Haltung wäre eben einfach so und nicht zu ändern.

Der Roman lässt seinen Leser traurig zurück, aber nicht ratlos. Und genau das ist es, was das Buch lesenswert macht. Was bleibt, ist zwar die Erkenntnis, dass manches unwiederbringlich verloren geht und man einfach nichts dagegen machen kann. Doch es bleibt noch eine zweite Erkenntnis: Die, die vorwärts schauen, die bereit sind, den Begriff Heimat für sich neu zu definieren, sie haben eine Zukunft, eine Chance. Prolog und Epilog des Buches gehören Jula. Jula zählt zu den Jüngeren der letzten Bewohner, sie hatte nicht nur den Verlust ihrer Heimat, sondern auch den ihres Zwillingsbruders zu beklagen. Jula zumindest scheint Jahre später ihren Platz, ihre Heimat gefunden zu haben. In sich selbst und an der Seite eines Mannes, den sie liebt. Und das ist doch gar keine so schlechte Lösung.

Annika Scheffel: „Bevor alles verschwindet“. Roman. Suhrkamp Verlag, 411 Seiten, € 19,95