Der Avatar und die Toilette – Volker Königs Erzählung „Varn“

Was für eine Welt schaffen sich Menschen, denen die Möglichkeit gegeben ist, ein Leben nach ihren Wünschen und Vorstellungen einzurichten? Das Ergebnis – wie wir aus Volker Königs Erzählung „Varn“ erfahren – ähnelt nur allzu sehr unserer vertrauten Alltagswelt, es sieht nur ein bisschen perfekter aus. „Hatte ich nicht gehofft, eine Welt vorzufinden, die sich von der vor meinem Fenster in allem unterschied?“, fragt sich der Erzähler, der mit Hilfe seines Avatars namens Varn die Welt des „Second Life“ erkundet.

Bei seinen Gängen und Flügen durch die virtuelle Welt verfolgt Varn eine profane, zugleich verständliche Absicht: Er möchte die gut besuchte Internet-Plattform nutzen, um möglichst viele Bücher zu verkaufen, die sein Schöpfer in der ersten, nicht-virtuellen Welt geschrieben hat. Ob das funktioniert?

Cover. Volker König: VARNFoto: Latos-Verlag

Cover. Volker König: VARN
Foto: Latos-Verlag

Die Second-Life-Bewohner kann man sich größtenteils als Variationen der Barbiepuppe und ihres Freundes Ken vorstellen. Varn dagegen wurde vom Erzähler mit „Metzgerarmen und monströs fettem Bauch“ ausgestattet, „dazu einem fransig herabhängenden grau-weißen Haarkranz, einer dicken schwarzen Hornbrille vor einem einfältigen Gesicht mit großen Augen und Unterbiss“. Als Ausnahme unter den Avataren läuft, schwebt, fliegt, teleportiert er durch die Kunstwelt, soweit ihm die Mitspielenden Zutritt zu ihren aus Katalog-Versatzstücken zusammengesetzten Ressorts gewähren. Er beobachtet Avatare, wie sie Tütenmilch, Brot und Produkte aus der Kühltheke kaufen. Ihre Villen sind mit Betten, Stühlen, Küchen, ja Toiletten ausgestattet, was den Erzähler schmunzeln lässt.

In den humorvoll wiedergegebenen Details offenbart sich unaufdringlich der philosophische Tiefgang von Volker Königs Erzählung. Der alte Dualismus von Körper und Geist – was fängt ein Wesen, das aller körperlichen Bedürfnisse enthoben ist, mit dem langen Tag an? Jemand, der nicht einkaufen, kochen, essen, verdauen muss. Der weder Schlaf noch das schöne Auto benötigt, weil das Teleportieren schneller ist. Die Sinnfrage berührt den Kern des Spielens überhaupt. Manche der gelangweilten Second-Life-Bewohner sind Varn geradezu dankbar, dass er ein definiertes Ziel verfolgt – das Buch seines Schöpfers zu verkaufen.

Es bleibt nicht beim Anpreisen von Büchern. Varn findet mehr und mehr Geschmack an der Kunstwelt, als er mit der verführerischen Alida zu flirten beginnt. Alles Mögliche mag im Second Life schöner sein, das Wetter, das Eigenheim, die Fortbewegung… Aber der Sex? Der wird in seinem Suchtpotenzial nicht ganz nachvollziehbar beschrieben, als merkwürdige Bewegungen auf der Grundlage von Bällen.

Zur Anbahnung des erotischen Abenteuers ist Varn jedenfalls erleichtert, dass die Avatare dieser Parallelwelt in schriftlicher Form miteinander kommunizieren. Durch die Entschleunigung des Schreibens, meint er, ließen sich Fehler und Missverständnisse vermeiden. Bevor es allerdings zum Pixelsex kommen kann, muss der als voll bekleidetes Wesen erschaffene Varn beim Entkleiden mit Schrecken und Scham feststellen, dass er nicht mit dem zur Kopulation nützlichen Accessoire ausgestattet wurde (hatte Ken einen Penis?). Doch Alida kann ihm mit einem prächtigen Teil aushelfen.

Scheinbar spielerisch wirft Volker König die großen Fragen der Identität auf. Wie sich Menschen definieren, wenn sie die freie Wahl haben. Was die Persönlichkeit ihrer Ansicht nach ausmacht. Welche nicht nur kriminellen Möglichkeiten sich jemandem eröffnen, der sich anonym, hinter der Maske eines Avatars, durch die Welt bewegt. Welche Instanzen ein Interesse daran haben, dass jeder von uns sein Leben lang mit eindeutigen Identifikationsmerkmalen ausgestattet bleibt, mit einem Namen, den wir uns nicht aussuchen konnten, einem invariablen Geburtsdatum und einer Ausweisnummer. Und woran es liegen könnte, dass wir uns nicht auch im First Life öfter mal neu erfinden.

Mit der Frage der charakterlichen Konstituierung eng verbunden erscheint das Fragwürdige der sogenannten Realität; die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der immer wieder auftauchenden „Welt vor meinem Fenster“ und der virtuellen Welt. Mit der Entwicklung der Handlung werden die Beziehungen zwischen Varn und Alida, Varns Schöpfer und dem Menschen, der sich Alida ausgedacht hat, zunehmend verwickelter. In der Vermischung beider Sphären könnte man sich an das Liebesgeständnis erinnert fühlen, das 2011 Barbies Toy-Boy Ken seiner Idealfrau in New York von Plakatwänden aus zugerufen hat: „Barbie, we may be plastic but our love is real.“

Volker König, der in Essen lebende gebürtige Dortmunder, legt mit „Varn“ seine vierte Buchveröffentlichung vor – bei der bereits aus früheren Werken gewohnten Vergnüglichkeit seine bislang ernsthafteste. Wir freuen uns auf „In Zukunft Chillingham“, das nächste Buch, das der Latos-Verlag noch für dieses Jahr ankündigt, und wünschen beiden im ersten wie im zweiten Leben hohe Verkaufszahlen.

Volker König: „Varn“. Latos-Verlag, Calbe/Saale, 2012 (ISBN 978-3-943308-10-5). 8,50 Euro