Im Spiel findet der Mensch sich selbst – nachgefragt beim Dortmunder Spieleforscher Rainer Korte

Dortmund. Klingt beneidenswert: Der Sozialwissenschaftler Professor Rainer Korte von der Dortmunder Fachhochschule befasst sich beruflich mit Spielen. Seit 25 Jahren leitet er die bundesweit einzigartige „Arbeitsstelle für Spielforschung und Freizeitberatung”.

Weihnachten ist die Spiele-Zeit des Jahres schlechthin. Was also sagt der Freizeitberater: Sollen wir zu Heiligabend und an den Feiertagen in gemütlicher Runde etwa aufs Brettspiel zurückkommen? Wird das unseren ersehnten Familienfrieden befördern und den beteiligten Menschen ein Wohlgefallen sein?

Professor Rainer Korte (64) ist sich da gar nicht so sicher. Die Erwartungen seien an solchen Tagen oft zu hoch gespannt. Alle sollen mit dem Stand der Beziehungen, mit Speis und Trank sowie ihren Geschenken rundum froh und zufrieden sein. Möglichst soll auch noch Schnee liegen. Oje.

„In solchen Fällen ist es immer schwierig, Harmonie zu erzeugen. Schlimm genug, dass man so eng aufeinander hockt.” Spielen allein kann also die Lage nicht entkrampfen; erst recht nicht, wenn es sich um ein neues (vielleicht gerade frisch geschenktes) Brettspiel handelt, dessen Regeln noch keiner kennt. Dann sollte man lieber erst einmal die Finger davon lassen.

Rainer Korte: „Manche Spiele haben Regelhefte mit bis zu 30 Seiten. Bis die gelesen und von allen verstanden sind…” Tja, bis dahin hängt der Haussegen vielleicht schon schief. Dann kommen womöglich Vorwürfe wie: „Wer wollte denn hier spielen? Du doch!” Und so weiter.

Im Grunde aber preist Korte die wohltätigen sozialen Wirkungen klassischer Gesellschaftsspiele. „Mitmenschlich betrachtet, unterscheiden sie sich grundlegend vom Computerspiel. Man hat die Mitspieler als direktes Gegenüber vor Augen, man kann Freude oder auch mal Wut und Ärger gleich ‚rauslassen oder zwischendurch miteinander über ganz andere Dinge reden.” Hört sich doch gut an.

Übrigens rät der Professor auch dies: „Kinder sollte man beim Spiel nicht immer absichtlich gewinnen lassen. Sie müssen lernen, mit Frustration umzugehen.” Mensch, ärgere dich beizeiten tüchtig.

Imposant genug: Rund 3.500 Spiele hat die Dortmunder Arbeitsstelle gesammelt. Die meisten kamen nach und nach als Musterexemplare ins Haus, weil Professor Korte und seine Mitstreiter die meisten neuen Brettspiele erproben. Häufiges Manko: Die Titelbilder auf dem Karton erwecken einen völlig falschen Eindruck vom Spielhergang. Besser wär’s allemal, den Deckel vor dem Kauf zu lüften.

Die Dortmunder betreiben mit ihrem Spielefundus einen regen Leihverkehr für Schulen und Kindertagesstätten. Korte hat sich in der Szene jedenfalls einen solchen Namen gemacht, dass Spielverlage ihn mit Neuerscheinungen bemustern und ihn sogar schon als kundigen Entwickler abwerben wollten – mit dem Versprechen, er könne deutlich mehr verdienen als an der Fachhochschule…

Korte lehnte dankend ab, denn: „Ich kann doch nicht gleichzeitig Spiele erfinden und kritisieren.” Erschwerend kommt hinzu: „Spiele zu verkaufen, das ist heute ein Stress-Job. Die Branche hatte in den 80er Jahren eine Blütezeit. Doch seitdem sind sehr viele kleinere Firmen vom Markt verschwunden.”

Die letzte westfälische Domäne befand sich in Herscheid. Heute sitzen heimische Spiele-Firmen fast nur noch im süddeutschen Raum, wo die Tüftler zahlreich sind – und wo etliche Heimarbeiter werkeln; immer noch typisch für Teile des Spielwaren-Metiers.

In der Flut der Neuerscheinungen gibt’s kaum noch etwas gänzlich Neues. Meist würden nur die Muster der unverwüstlichen Klassiker mehr oder weniger geschickt variiert, sagt der Dortmunder Professor, der es aus langjährigen Vergleichen wissen muss. Eine Spiel-Idee zu patentieren, ist folglich auch so gut wie unmöglich.

Zur Orientierung in der Überfülle bietet sich das Prädikat „Spiel des Jahres” an. Doch auch davon hält der Dortmunder Fachmann nichts. „Im Grunde genommen gibt es kein ,Spiel des Jahres‘.” Warum nicht? Weil das alles eine Sache von Geschmack und Laune sei: „Man muss immer fragen: ,Wer spielt mit wem bei welcher Gelegenheit?” Erst dann könne man entscheiden, welches Spiel geeignet sei. Soso. Dann stellen wir wenigstens mal die richtige Frage zum frohen Fest: Wer spielt mit wem zu Weihnachten? Und was?

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INFOS:

  • An der Dortmunder Arbeitsstelle für Spielforschung und Freizeitberatung sind federführend tätig: Prof. Rainer Korte und Dr. Lars Thoms.
  • Sie gehören zum Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Dortmund.
  • Kontakt zur Arbeitsstelle: Otto-Hahn-Straße 23, 44227 Dortmund. Netz: www.spielforschung.de
  • Brett- und Kartenspiele sind Arbeitsschwerpunkte, doch die Dortmunder Experten kennen sich zum Beispiel auch mit Modellautos aus – und erstellen Gutachten zur Spielzeug-Sicherheit (Stichwort: gefährlicher Pfusch aus China und anderswo).
  • Passender Sinnspruch von Friedrich Schiller: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.” Und Henrik Ibsen befand: „Etwas Gescheiteres kann einer doch nicht treiben in dieser schönen Welt, als zu spielen.”
  • Aktuelle These zum Thema: In der Wirtschaftskrise, so hofft jedenfalls die Branche, seien die immer wieder verwendbaren Brettspiele gefragt – weil andere Freizeitvergnügungen auf Dauer zu teuer werden.