„Tuyas Hochzeit“: Armut lässt keinen Platz für Romantik

Hier zählen die einfachen, lebenswichtigen Dinge: eine Bleibe haben. Einen Brunnen graben, um Wasser zu finden. Erst wenn dies getan ist, können die Menschen an alles Weitere denken.

Der chinesische Berlinale-Gewinner „Tuyas Hochzeit” spielt in der inneren Mongolei. Fürwahr keine häufig „abgefilmte” Weltgegend. Schon deshalb schaut man mit Entdeckeraugen hin – und wird beileibe nicht mit bunter Folklore abgespeist.

Tuyas Mann, der Hirte Bater, hat beim Brunnenbau beide Beine verloren. Nun muss die junge Frau ganz allein für ihn, ihre zwei Kinder und sich selbst sorgen. Die kleine Schafherde wird dafür nicht reichen. In dieser Notlage beschließen die beiden, sich scheiden zu lassen, damit Tuya einen neuen Ernährer heiraten kann, der für alle einsteht. Welch eine schmerzliche Vernunft!

Schon bald sprechen Männer auf Brautschau vor, die nicht gerade von edlen Motiven getrieben werden. Man merkt: Romantische Liebe europäischen Zuschnitts hat hier keinen Raum – von Hollywood-Träumen ganz zu schweigen.

Regisseur Wang Quan’an und sein deutscher Kameramann Lutz Reitemeier finden großartige, gleichsam tief atmende Bilder für ihre Geschichte. Natürlich kommen ihnen die ungeheuer weiten Landschaftspanoramen entgegen. Vielfach denkt man: Genau diese Szenerie könnte ein grandioses Fimplakat ergeben. So soll Kino sein.

Doch das Werk erschöpft sich keineswegs in optischer Sensation. Geduldig, ruhig und präzise zeichnet Wang Quan’an die soziale Lage der Figuren. Der Horizont reicht übers Individuelle hinaus: Man ahnt, wie harsch einerseits die patriarchalischen Verhältnisse des Landes sind. Doch andererseits gibt es Anzeichen, dass einige schmalere Ströme des weltweit zirkulierenden Geldes die alte Zeit auch hier überfluten werden.

Wenn man es aus deutscher Sicht ins Auge fassen will: Einem Bert Brecht hätte die Art gefallen, erst die materielle Lebensbasis zu untersuchen und erst in zweiter Linie die Regungen des Seelenlebens (wobei eins vom anderen schließlich kaum zu trennen ist). Und ein Rainer Werner Fassbinder hätte die heißkalte Erzählweise goutiert, die an seine besten Werke erinnert.

Ein durch Ölfunde reich gewordener, bestürzend einsamer, entwurzelter und eigensüchtiger Hochzeitskandidat will Bater ins dürftige Heim abschieben. Herzzerreißend die Sequenz, in der Bater dort allein zurückbleibt, sich dem Suff ergibt und sich mit einer Flaschenscherbe die Pulsader aufschlitzt. Doch damit ist nicht aller Tage Abend. Tuya beginnt sich zu wehren – so sehr bis zur allgemeinen Verhärtung, dass sie den einzig wahren Bräutigam lange zurückstößt. Selbst diese nach und nach in stiller Größe wachsende Liebe kann man nicht in unserem Sinne „romantisch” nennen, wohl aber: existenziell, notwendig. Und das ist gewiss mehr.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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