Unterwegs in eine stille und gütige Welt – „Die Unbeholfenen“ von Botho Strauß

Wo brüten sie gleichsam über der Weltformel, wo denken sie über unser aller Rettung nach? Botho Strauß führt uns mit seinem Buch „Die Unbeholfenen” in ein eher unscheinbares Fachwerkhaus inmitten eines schäbigen Gewerbegebiets.

Dort denkt eine merkwürdige Gruppierung über die offenbar zerstörerischen Triebkräfte der Gegenwart nach – und darüber, ob man Einhalt gebieten und umkehren kann. Das klingt nach Erweckung.

Der Ich-Erzähler namens Florian Lackner fühlt sich zunächst unbehaglich fremd in diesem Kreise. Am Gängelband seiner neuen Liebschaft Nadja ist er in die Abgeschiedenheit ihres elternlosen Familienverbands geraten. Zwei Schwestern (davon eine Stumme, die sich nur per SMS verständigt), einen Bruder (im Rollstuhl) und ihren arroganten Ex-Liebhaber Romero hat sie um sich geschart.

Das Spinnennetz
der Gegenwart

Wenn sie sich in meist hohem, manchmal beinahe priesterlichem Ton mitteilen, ist es weder Monolog noch Zwiesprache, sondern eine Art Reigen des Redens, ein Weiterreichen der Worte – wie in einem Denker-Orden oder einem Geheimbund.

Man vernimmt Bruchstücke einer wehen Zeitdiagnose, aus der man noch und noch zitieren könnte – ob nun einverständig oder ablehnend. Bewusstseinskrise und Verluste, wohin man nur blickt. Unsere technisch überrüstete, jede existenzielle Not dämpfende „Komfortgesellschaft” lässt demnach kein wirkliches Lebensschicksal mehr an uns heran, wir führen nur noch ein Schattendasein. Ob Strauß sich für diesen Befund wirklich überall im Lande umgesehen hat? Und ob er dabei alle Gegenden der Erde im Sinn hatte?

Spätestens durchs allgegenwärtige Spinnennetz des Internet, so Strauß weiter, sind wir dermaßen überinformiert, dass diese Fülle in umfassende Demenz umschlägt. Nichts geht uns mehr wirklich und zuinnerst an. Gesteigerte Endzeit-Vision: Das herkömmliche Menschenbild wird mehr und mehr biotechnischen Neuronenspeichern ausgeliefert, die irgendwann gänzlich unsere Stelle einnehmen werden. Schließlich ist von einem alles niederwalzenden Feuerball die Rede . . .

Heilserwartung ist nicht fern

Schleichende und rasende Apokalypse also. Solche Ängste ziehen seit alters her Heilserwartung nach sich. Bei Strauß ist es nicht anders. Bloßer Verstand hilft nach seiner Lesart nicht weiter. Dringlich ist die Sehnsucht seiner Figuren nach einem für alle heutigen Menschen verbindlichen Leitbild, ja nach neuem Heiligtum. Verzückung statt Aufklärung. Trance statt Scharfsinn. Auch „vordemokratische Ideale” werden raunend beschworen, doch nicht konkret benannt. Vielleicht sind ja auch Edelmut und Minne der Ritterzeit gemeint?

Wer meint, Strauß wärme hier den fatalen deutschen Hang zu rauschhaftem Untergang auf, der irrt gründlich. Zielgebiet ist eine nicht luxuriöse, eine karge, stillere Welt, in der man einander gütige Schonung angedeihen lässt und in Anschauung großer Symbole innerlich aufblüht.

Nicht so sehr Menschen aus Fleisch und Blut reden in dieser Abhandlung, sondern Lektürefrüchte (Wolfram von Eschenbach, Hölderlin, die Romantiker) und Mythen, aus denen Einsprüche gegen herrschende Stimmungen fließen. Eine „Bewußtseinsnovelle” nennt Strauß seinen gedankenreichen, mitunter gedankenschweren Text. Das äußere Geschehen bleibt begrenzt. Erst recht gibt es keine „unerhörte Begebenheit”, wie sie in der Novellen-Gattung traditionell üblich war.

Dennoch geht es nicht nur um die Hirnwindungen, sondern auch um die Körper. Man merkt, dass der Autor viel fürs Theater gearbeitet hat. Häufig notiert er, wie sich seine Personen im Raum postieren: miteinander, ohne einander, gegeneinander. Wie bei einer Bühnen-Stellprobe.

Am Ende nimmt der Erzähler Abschied von den Geisterstimmen. Man spürt Erleichterung. Wohin er so entspannt aufbricht, bleibt ungewiss. So wie unsere Zukunft.

Botho Strauß: „Die Unbeholfenen.” Hanser Verlag, 123 Seiten, 12,90 Euro.

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ZUR PERSON:

  • Botho Strauß wurde am 2. Dezember 1944 in Naumburg/Saale geboren.
  • 1967-1970 Redakteur und Kritiker der Fachzeitschrift „Theater heute”.
  • 1970-1975 Dramaturg der Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin.
  • 1977 Uraufführung seines Stücks „Trilogie des Wiedersehens”.
  • Weitere wichtige Werke: „Groß und klein” (Stück, 1978), „Rumor” (Roman, 1980), „Paare, Passanten” (Prosa, 1981), „Niemand anderes” (Roman, 1987), „Die Zeit und das Zimmer” (Stück, 1989), „Wohnen, Dämmern, Lügen” (Prosa, 1994), „Mikado” (Prosa, 2006).
  • Höchst umstritten war sein Essay „Anschwellender Bocksgesang” (1993). Manchen linksliberalen Kritikern gilt Strauß seither als potenziell „rechtslastig”. Ein weites Feld.