Entfesselter Meister: Martin Grubinger und das Mahler Chamber Orchestra in Dortmund

Der Schlagzeuger Martin Grubinger, geboren im Mai 1983 in Salzburg, ist bekannt für seine Vielseitigkeit und Virtuosität (Foto: Felix Broede)

Der Schlagzeuger Martin Grubinger, geboren im Mai 1983 in Salzburg, ist bekannt für seine Vielseitigkeit und Virtuosität (Foto: Felix Broede)

Das Mahler Chamber Orchestra ist kein Kammerorchester. Nicht die Besetzungsgröße, die hundert oder mehr Köpfe umfassen kann, sondern das Selbstverständnis der Musiker spiegelt sich im Namen. Das genaue Zuhören, das aufeinander Lauschen, das sie von ihrem Gründervater und Spiritus Rector Claudio Abbado gelernt haben, ist zur prägenden Grundhaltung geworden. Die aus vielen Nationen Europas stammenden Musiker agieren mit einer Aufmerksamkeit, als spielten sie höchstens im Sextett.

Hier, im Konzerthaus Dortmund, finden sich noch fast kindliche Gesichter in ihren Reihen. Es sind Mitglieder der „MCO Academy“, die am Orchesterzentrum in Dortmund auf das Leben als Berufsmusiker vorbereitet werden. Claudio Abbado hätte diese Weitergabe von Tugenden und Traditionen gewiss gefallen. Ihm, der am 20. Januar in Bologna verstarb, widmet das Mahler Chamber Orchestra jetzt seine Konzerte in Essen, Dortmund und Köln.

Der Ungar Peter Eötvös steht dabei als Komponist und Dirigent im Mittelpunkt. Sein jüngstes Werk „Speaking Drums“ für Schlagwerk und Orchester wird zum überragenden, mit tobender Begeisterung gefeierten Höhepunkt des Abends. Das mag zu gleichen Teilen an der effektvollen Komposition liegen wie auch an Widmungsträger Martin Grubinger, dem Schlagzeug-Wunder aus Salzburg. Er wird vom Publikum bereits wärmstens empfangen, als er vor Beginn der Aufführung noch einmal rasch die Anordnung der Instrumente kontrolliert.

Was dann folgt ist Rausch, Spektakel, Artistik und Ekstase. Sprache vermischt sich in „Speaking Drums“ mit Musik: Der Solist rezitiert während des Spiels lustige Nonsens-Gedichte von Sándor Weöres. Vom staunenden Stammeln über rasendes Sprech-Staccato bis zum markigen Urschrei reicht die Ausdruckspalette, die Grubinger mit nachgerade anarchischer Lust auskostet.

Worauf der sportlich wirkende 30-Jährige gerade herum trommelt, ist vollkommen egal. Ob er auf Röhrenglocken hämmert, auf Klangblöcke schlägt, am Xylophon wirbelt, die Trommel rührt, das Tamtam erdröhnen lässt oder das Fell einer Kesselpauke mit bloßen Handflächen traktiert: Alles geschieht mit einer furiosen Begeisterung, einem hundertfünfzigprozentigen Einsatz, der körperlich sichtbar ist und jede Skepsis, jeden Zweifel mit Hurra über den Haufen rennt. In Dortmund kippt unter Grubingers entfesseltem Spiel sogar ein Ständer mit Hi-Hat-Becken von der Bühne. Macht nichts, die Sequenz war zum Glück gerade sowieso zu Ende. Grubinger wirbelt weiter, Virtuose, Clown und asiatischer Kampfkunst-Meister in Personalunion.

Der Ungar Peter Eötvös ist als Komponist und Dirigent einer der führenden Musikerpersönlichkeiten unserer Zeit (Foto: Marco Borggreve)

Der Ungar Peter Eötvös ist als Komponist und Dirigent einer der führenden Musikerpersönlichkeiten unserer Zeit (Foto: Marco Borggreve)

Beinahe wird der weitere Abend darüber zum restlichen Programm degradiert. Das ist schade, denn Eötvös und das Mahler Chamber Orchestra leisten Großes. Sie lassen in den Bläsersinfonien von Igor Strawinsky somnambule Stimmungen auf frühlingshafte Klänge treffen, die geradewegs aus dem heidnischen Russland zu kommen scheinen. Von zitternden Streicher-Tremoli durchwogt, wachsen die „Jeux“ von Claude Debussy zu raffinierter Klangpracht.

An Schmerzgrenzen führt zum Abschluss Olivier Messiaens wuchtiges Orchesterwerk „Chronochromie“. Dissonante Cluster werden in bohrender Lautstärke wiederholt. Durchaus enervierend auch das Chaos der Vogelstimmen, die von 18 Solo-Streichern intoniert werden. Aber die zugleich klare und passionierte Interpretation durch Eötvös und das Orchester machen deutlich, dass es sich bei Messiaens Werk um eine logische Fortschreibung von Debussys „Jeux“ in die Moderne handelt. Obschon vom Publikum schwächer gewürdigt, zählt auch dies zu den Wundern dieses Abends.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Kommende Höhepunkte im Konzerthaus hier )