Wie Erinnerungen anderer uns in den Spiegel blicken lassen

Gestern habe ich endlich einmal auf einen Sitz Hans Keilsons, des unlängst im Alter von 101 Jahren Verstorbenen, „Erinnerungen“ gelesen, die kürzlich unter dem Titel „Da steht mein Haus“ bei S. Fischer erschienen sind. Ein schmaler, gut lesbarer Band mit einem abschließenden, sinnvoll beigefügten Gespräch zwischen dem Autor und dem Herausgeber Heinrich Detering.

Wenn es hier bei unseren Texten jeweils und grundsätzlich um ausgewiesene Ruhrgebietsnähe ginge (aber um die geht es generell ja gar nicht, da wir für unsere Texte als ohnehin im Ruhrrevier Schreibende keine derartigen Aufhänger benötigen), ließe sich ein Anknüpfungspunkt auch dieser Art bei Keilson unschwer finden. Auf Seite 93, zu Beginn des 19. Kapitels, ist zu lesen: „In Rekken erlebte ich die ersten Luftangriffe auf das benachbarte Ruhrgebiet.“ Aber ansonsten ist vom Ruhrgebiet nirgends mehr deutlich die Rede.

Doch mich hier beschäftigt ohnehin anderes. Mir ist in diesen behutsam und hellsichtig geschriebenen Erinnerungen, die Unangenehmes und Schlimmstes nicht verschweigen, aber auch um die Fehl- und Verführbarkeit von uns Menschen wissen, wieder einmal aufgefallen, wie sehr ich mich doch in solchen Erinnerungsbüchern immer auch vergleichend mitlese: Die eigene Geschichte und Vorgeschichte wird immer wieder copräsent, mitgegenwärtig, in der Lektüre vom Leben vermeintlich ganz anderer, uns zunächst fremder Menschen. Und es stimmt schon: vor allem drei Generationen, die eigene und die Eltern- und die Großeltern-Generation, spielen bei diesen hinzutretenden Lese-Spiegelungen eine ganz beträchtliche Rolle, also die Privatgeschichte und die große allgemeine Geschichte der letzten 100 Jahre in ihrem zu Recht kaum aufdröselbarem Verbund.

Biographien, Autobiographien, Erinnerungen, Briefe, Tagebücher haben für uns Leser… immer auch diese Funktion, unsere eigenen Erinnerungen vergleichend wachzurufen, und je älter wir werden, umso mehr. Und doch, wenn solche Erinnerungsbücher nicht sprachlich gut und menschlich ansprechend geschrieben sind, interessieren sie zumindest mich nicht, lese ich sie nicht weiter, mögen sie noch so viele faktisch interessante Details enthalten. Ich bin zum Glück kein Soziologe oder Historiker, der sich manchmal auch durch Wust hindurcharbeiten müsste; ich kann mir meine Lektüren aussuchen. Und zum Glück gibt es so gut geschriebene wie die von Hans Keilson eben auch.

Hans Keilson: „Da steht mein Haus“. S. Fischer Verlag. 141 Seiten. 16,95 Euro

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2 Antworten zu Wie Erinnerungen anderer uns in den Spiegel blicken lassen

  1. Völlig zu Recht heißt es auf der Buchrückenumschlagseite unter anderem:

    „Hans Keilson“ „erzählt Geschichten aus seiner Jugend und beleuchtet die Rolle der Juden in Deutschland, den zunehmend spürbaren Antisemitismus der 1920er Jahre und schließlich die schroffe Zäsur des Exils. Das Leben im Versteck, der Verlust der Eltern, Bomben über Deutschland – davon erzählt Hans Keilson behutsam und mit zarten Strichen und gerade deshalb unvergleichlich und unvergesslich.“

    Besonders berührt hat mich die Art und Weise, wie Hans Keilson seine Eltern porträtiert hat. Verwundert war ich darüber, dass er seine erklärten Ferienparadiese ausgerechnet in den Gegenden fand, in denen ich vor kurzem bzw. vor nicht allzu langer Zeit selber gewesen bin: in Krummhübel und Schreiberhau (am Riesengebirge) sowie in Swinemünde an der Ostsee, in Gegenden, die jeweils etwas mit Hans Keilsons Großeltern mütterlicherseits bzw. väterlicherseits zu tun gehabt haben. Ansonsten verbrachte er seine frühen Jahre in (Bad) Freienwalde an der Oder in Brandenburg.

  2. „Es sind nicht nur die Erlebnisse und Schrecknisse der Kinderstube – es ist das Zeitalter, das mein Leben geprägt hat.“
    (…)
    „Mein Leben und meine Erinnerungen sind verätzt von den Schwaden der Zerstörung.“ (Hans Keilson, a.a.O., S.10)

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