Flaneur im Stress – der Roman „Leise singende Frauen“ von Wilhelm Genazino

Die neuerliche Begegnung mit Wilhelm Genazino war eher Zufall. Ich sah das Buch beim Buchhändler liegen und dachte: schau doch mal rein. „Leise singende Frauen“ heißt der gerade einmal 176 Seiten umfassende Roman (im Paperback), den Titel ziert das Foto einer keusch berockten Dame mit Highheels und ohne Oberkörper, die sich bedrohlich weit aus einem Fenster zu lehnen scheint.

Erst auf den zweiten Blick gewahrt man, daß das Bild entweder ein farblich ganz zurückhaltendes Buntbild sein muß oder aber doch wenigstens ein kleines Bißchen Rot mitgedruckt wurde. Was sagt uns das? Eher – nichts. Man könnte allenfalls über die Motive der titelprägenden Firma („Wildes Blut, Atelier für Gestaltung“) spekulieren und vielleicht auch ein, zwei erwähnenswerte Erklärungsversuche herausdestillieren, doch wirklich weiter brächte einen das nicht.

Dem Autor jedoch, zumindest könnte ich mir das gut vorstellen, wäre dieses Titelbild ein Kapitel wert. Wie ihm auch andere Wahrnehmungen in seiner alltäglichen Umwelt der textlichen Erwähnung würdig scheinen, die unsereiner, eher eilend als flanierend in den großen Städten unterwegs, vielleicht nie gemacht hätte. Aber der Reihe nach.

Wilhelm Genazino, der nun auch schon über siebzig ist und der bis vor wenigen Jahren noch als so etwas wie der Star unter den unbekannten Autoren galt, ist wieder einmal in seinen Frankfurter Kernlanden herumgeschlendert, im Erlebnisbereich zwischen Mainufer, Eisernem Steg, Zeil und Constabler Wache, hat sich die Welt angeschaut, sich darüber Gedanken gemacht und selbige notiert.

Ab und zu hat er sogar interveniert, hat beispielsweise ein Paar herrenlose Damenschuhe ganz unerlaubt von einem Ort zum anderen getragen und dann geguckt, wie die Umwelt darauf reagiert (kaum). Oder er hat einem armen „Stadtstreicher“, der mit bürokratenhafter Regelmäßigkeit Mülltonnen nach Eßbarem durchforschte, selbige fristgerecht mit den Pausenbroten gefüllt, die Berufsschüler vordem in die Abfallbehälter vor ihrer Schule gestopft hatten. Und dann hat er geguckt, wie der „Stadtstreicher“ guckt, wenn er so reich beschert wird.

Solche Eingriffe in den normalen Gang der Welt zählen aber schon zu den Höhepunkten des Romans. Meistens beschränkt sich Genazino auf das reine Beobachten. Pflanzen und Tiere, in Sonderheit Insekten, scheinen ihn oft mehr zu interessieren als die Menschen. So viel zunächst einmal zum Setting, und das alles wäre auch in keinster Weise zu kritisieren, wenn dem Flaneur beobachtenderweise die schöpferischen Ideen kämen, die die alltäglichen Ereignisse aus dem Alltag herausrissen und idealerweise zu poetischen, das Bewußtsein der Leserschaft weitenden, in ihrem assoziativen Reichtum hin und wieder gar verblüffenden literarischen Stücken (oder doch wenigstens Miniaturen) würden.

Das aber passiert – meistens – nicht. Da bleiben die Gedanken auf der Erde, arbeitet sich der Denker eher angespannt an Amseln, Kühen, Schwalben, Nachtfaltern, Spinnen und vor allem Wespen ab, die einzeln oder im Kollektiv bemerkt zu werden sie zweifellos mit Stolz erfüllen dürfte, die aber deshalb noch lange nicht zu tragenden Charakteren werden.

Fast ist man dem Autor dankbar, wenn er einmal einen schillernden Traum erinnert, in dem es – die Familie muß flüchten, der Träumende muß alles arrangieren, es funktioniert nichts wie geplant – recht offensichtlich (auch) um Versagensängste geht. Bei diesem Traum vermeint man den Autor geradezu vor sich zu sehen, der ein neues Buch vollschreiben soll mit seinen einstmals so federleichten Weltbeobachtungen und dem dieses Ansinnen den nämlichen Versagens-Streß verursacht.

Aber vielleicht ist diese Phantasie schon zu weitreichend. Wie auch immer, die geneigten Leser dieser Zeilen ahnen es längst: Ich war von den „Leise singenden Frauen“ eher enttäuscht, weil ich nicht recht fand, was ich suchte. Vielleicht aber auch war ich mit meiner Suche bei diesem Autor falsch.

Die Titelfiguren indes, Putzfrauen mutmaßlich südeuropäischer Herkunft, die hinter geöffneten Fenstern bei ihrer Arbeit einen anmutigen, polyphonen Gesang anstimmen, der beim Auftauchen einer weiteren Person sein abruptes Ende findet, bevölkern einen der zarteren und auch etwas magischen Absätze, wie ich sie mir in diesem Buch in reicherer Zahl erhofft hatte.

Wilhelm Genazino: „Leise singende Frauen“, dtv, 176 Seiten, 9,90 €