Adolf Muschg: „Ich bin mit mir selbst nicht identisch“

Der Schweizer Adolf Muschg (71) zählt zu den führenden Köpfen der deutschsprachigen Literatur. Der Büchner-Preisträger ist auch kulturpolitisch einflussreich: Er war Mitglied der Jury, die das Ruhrgebiet bei der Vorauswahl zur Kulturhauptstadt 2010 bereist hat. Und er ist Präsident der hochkarätigen Berliner Akademie der Künste. Eine Gespräch mit Adolf Muschg im Dortmunder Harenberg City-Center – vor einer Lesung aus seinem bei Suhrkamp erschienenen neuen Roman „Eikan, du bist spät“.

Frage: In Ihrem Roman geht es um einen Cellisten, seine Lebens- und vor allem Frauen-Krise. Was hat Sie an dem Thema gereizt?

Adolf Muschg: Das Cello ist von allen Streichinstrumenten das mit dem größten Körper-Engagement. Musik als spirituelles Prinzip – und zugleich das Sinnlichste, was es gibt. Ein interessanter Widerspruch. Außerdem wollte ich mir ein Gebiet erobern, das mit eher fern liegt, ich habe nur als kleiner Junge ein wenig Klavier gespielt. Es läuft hinaus auf das Motiv der Wiederholung, was die Frauengeschichten angeht. Das Wiederholungsmotiv ist im Grunde ein uraltes in der Liebe, man denke nur an Tristan und Isolde. Unser Leben besteht aus Wiederholungen – und wir alle haben den Anspruch, einmalig zu sein.

Ihr Cellist Andreas Leuchter wird aus all seinen Frauen nicht klug…

Muschg (lacht): Das gehört zum Wenigen, was ihn mir sympathisch macht…

Kann ein Mann denn aus Frauen im Wortsinne klug werden?

Muschg: Nein. Aber man könnte im Umgang mit ihnen ein bisschen weiser werden. Doch auch das würde nichts helfen. Ich glaube: Das Verhältnis zwischen Mann und Frau ist nicht dazu geschaffen, „vernünftig“ zu sein – obwohl es ohne Vernunft auch wieder nicht auszuhalten ist. Schon die Erfindung der Zweigeschlechtlichkeit ist ja eine große Kühnheit der Natur, davor hat sie sich mit Kopien und Zellteilungen begnügt.

Leuchter versäumt seine große Liebe…

Muschg: Das ist ein Verdacht, der Männer häufig beschleicht: „Ich bin etwas schuldig geblieben.“ Man kann sich auf triviale Formeln einigen: Die Chemie hat nicht gestimmt. Aber in der Liebe steckt ganz wesentlich eine massive Überforderung der Beteiligten.

Sie kommen in Ihren Büchern immer wieder auf Japan als das ganz Andere, Fremde zurück, so auch diesmal. Die zweite Hälfte des Romans spielt dort.

Muschg: Der erste Impuls liegt ganz lange zurück. Meine Halbschwester, 30 Jahre älter als ich, war Hauslehrerin bei einer schweizerisch-japanischen Familie. Als sie zurückkam, hat sie ein Kinderbuch geschrieben – es war das allererste Buch, das ich in meinem Leben gelesen habe. In dem Buch kam mein eigenes Elternhaus vor, und eines in Kyoto. Japan steht für das Fremde, man hat es sozusagen auch in sich, denn Identität ist nichts Festes, ich bin mit mir selbst nicht identisch. Ich bin überhaupt allergisch gegen das Wort Identität, weil damit auch politisch so viel Schindluder getrieben werden kann. Was ist eine schweizerische, was eine deutsche Identität? Oder eine europäische Identität? Europa hat sich immer wieder verändern lassen: die Germanen durch das Christentum, das Christentum durch die Aufklärung. Europäisch ist die Fähigkeit, sich fremde Dinge produktiv anzuverwandeln.

Von Europa zum Ruhrgebiet. Welchen Eindruck haben Sie bei Ihrer Jury-Reise in Sachen „Kulturhauptstadt“ gewonnen?

Muschg: Ich hatte vorher keine Ahnung, dass das Ruhrgebiet mein Favorit werden würde. Hier erscheint Kultur als fundamentaler Sachverhalt. Dieses ganze Gebiet hat sich neu erfinden müssen. Es ist ein erstaunlich waches Stück Deutschland. Die Menschen waren hier unglaublich erfinderisch. Kultur bedeutet ja nicht nur Theater oder Oper, sondern was man aus sich selber macht! Was das Ruhrgebiet jetzt zu stemmen versucht, das muss auch in Nordfrankreich oder in englischen Industriestädten geschehen. Man wünscht dem Ruhrgebiet so sehr, dass es gelingt. Da ertappe ich mich fast bei einer Art Liebesverhältnis.

Würde sich für die Akademie der Künste bei einem Regierungswechsel etwas ändern? Bundeskanzler Schröder hat Sie ja neulich zur „Einmischung“ in die Politik aufgefordert.

Muschg: Ja, dazu werden wir oft aufgefordert – bis wir es dann tun! Grundsätzlich wird sich wohl nicht viel ändern. Wir müssen weiterhin deutlich machen, dass Kunst kein Luxus, sondern Lebensmittel ist. Was mich am meisten beunruhigt, ist der zunehmende Druck des Marktes auf die Kultur. Da geht es oft nur noch um Neuheiten, Saisonartikel, Events. Übrigens fährt man als Künstler unter der CDU nicht schlechter. SPD-Regierungen sind nicht unbedingt kulturfreundlich. Aber die jetzige Kulturstaatsministerin Christina Weiss, die ja parteilos ist, die würden wir schon sehr vermissen.

(Der Beitrag stand am 25. Juni 2005 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“, Dortmund)

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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