Freies Theaterfestival „Favoriten 2014“ in Dortmund – Chaos, Krise, Kreativität

Black Box auf echtem Rasen, von innen gleißend weiß. Foto: Katrin Pinetzki

Black Box auf echtem Rasen, von innen gleißend weiß. Foto: Katrin Pinetzki

Es riecht erdig im ehemaligen Museum am Ostwall: Die große, lichte Eingangshalle ist mit Rasen ausgelegt. Picknickdecken liegen bereit. In der Mitte: ein schwarzer, begehbarer Kubus. Wer neugierig die Tür öffnet, stößt einen überraschten Schrei aus: Innen blendet gleißend weißes Licht, auch Wände, Boden, Decken: weiß. Ein Stuhl in der Mitte lädt ein, der extremen Sinneserfahrung nachzuspüren – und das umgebende Nichts mit Bedeutung zu füllen.

Im 29. Jahr seines Bestehens bricht das Festival „Favoriten“ gleich mit mehreren Traditionen. Das freie Theaterfestival, eines der wichtigsten in NRW, ist unter der jungen künstlerischen Leitung von Felizitas Kleine und Johanna-Yasirra Kluhs erstmals kein Wettbewerb. Die Künstler konkurrieren nicht, sondern wohnen, arbeiten, feiern zusammen und sorgen für Begegnungen mit den Besuchern – in der ganzen Stadt, vor allem aber im ehemaligen Museum am Ostwall, das nach dem Umzug des Kunstmuseums ins Dortmunder U derzeit (noch) leer steht. Eine Zukunft des Gebäudes als Baukunstarchiv NRW ist dank des bürgerschaftlichen Engagements inzwischen so gut wie sicher.

Dieses ehemalige Museum also ist Festivalzentrum, und dort wird in diesem Jahr weniger Theater gespielt als vielmehr mit theatralen Mitteln darüber reflektiert. Das ganze Gebäude mutiert zur Performance-Bühne und zum Erfahrungsfeld, es ist eine Woche lang (bis 1. November) kaum wiederzuerkennen. Schon vor der Eingangstür die erste Installation, ein Tunnel mit Sitzgelegenheiten aus Sperrholz, ein DJ legt auf und lädt Besucher wie Passanten ein, eine Weile zu bleiben. „Titel: In Arbeit. Ein Festivalumbau“ heißt diese Arbeit von David Rauer und Joshua Sassmannshausen. Weitere Werke der beiden finden sich im Haus – sie sind Recyclingkünstler und haben mit jeder Menge Witz kleine und große Skulpturen eingeschleust, materielle wie immaterielle. Ziel eigentlich aller Festivalkünstler ist es, mit Besuchern ins Gespräch zu kommen, sei es durch eine Partie Backgammon, eine kleine Massage, Maniküre oder eine waghalsige Kletterpartie auf einem raumfüllenden Sperrholzsteg.

Einige Dortmunder wurden im Vorfeld des Festivals über ihr Verhältnis zu Theater interviewt, die Antworten laufen als Endlosschleife in der Galerie im Erdgeschoss. „Woran denken Sie bei modernem oder freiem Theater?“, wird da eine junge Frau gefragt, die sich als „klassisch angehaucht“ bezeichnet. „Chaos!“, antwortet sie prompt.

Tatsächlich: Bei einem Rundgang durchs Haus geraten Besucher leicht in Verwirrung. Wer ist hier Besucher, wer Künstler? Welcher Raum ist wem zuzuordnen? Bei dieser 16. Auflage des Festivals ist das eigentlich egal, einzelne Arbeiten ordnen sich dem Gesamt-Eindruck unter. Das kreative Chaos entsteht durch den höchst produktiven Mix der Kunstformen. Traditionelle Theater-Erfahrungen werden unterlaufen – etwa von der Düsseldorfer Ben J. Riepe Kompanie, die an jedem Tag des Festivals vier Räume neu und anders bespielt. Zur Eröffnung am Samstag waberten Kunstnebel und Obertöne durch die weißen Räume; die Darsteller standen, hockten, lagen oder gingen, einzelne Töne singend, umher. Während sich die Klänge vereinten und mal traumhaft-melancholische, mal schrille Mehrstimmigkeit produzierten, stromerte ein Dutzend gut erzogener Hunde neugierig schnuppernd zwischen Besuchern und Performern umher – eine Einladung, Augen und Ohren zu öffnen und den Kopf ganz frei zu machen von Erwartungen.

Raum-Klang-Skulptur "Exuviae" von Yoshi Shibahara. Foto: Katrin Pinetzki

Raum-Klang-Skulptur „Exuviae“ von Yoshi Shibahara.
Foto: Katrin Pinetzki

Auch die einzige Produktion mit festen Beginn und festem Ende hatte keinen definierten Bühnen- und Zuschauerraum. Die Kölner Choreografinnen „SEE!“ setzten in „Ok, Panik“ einen wie gewohnt kapitalismuskritischen Text des Musikers und Autors PeterLicht in Szene. Während ein Musiker versuchte, den Klang des kapitalistischen Grundrauschens festzuhalten (brummend, bassig, rhythmisch, penetrant präsent), tanzten zwei Darsteller durchs Publikum, zunächst wie von unsichtbaren Fäden gezogen, später zunehmend selbstbewusst mit der Erkenntnis: Auch die Krise ist ein Produkt! Sie ist käuflich!

Die neue Generation der Festivalleitung hat zumindest am Eröffnungsabend ein neues, junges Festivalpublikum angezogen. Krise? Kaum.

Bis 1. November in Dortmund, Infos und Programm hier