Rudelrennen in Babylon: Händels Oratorium „Belsazar“ im Gelsenkirchener Musiktheater

Gewogen und für zu leicht befunden: Die Tage der Herrschaft von König Belsazar (Attilio Glaser) sind gezählt (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Gewogen und für zu leicht befunden: Die Tage der Herrschaft von König Belsazar (Attilio Glaser) sind gezählt (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

„Jehova, dir künd’ ich auf ewig Hohn! Ich bin der König von Babylon!“ So ruft Belsazar in der gleichnamigen Ballade von Heinrich Heine, den Gott der Juden frech herausfordernd. Das biblische Gleichnis von der menschlichen Vermessenheit, dem Buch des Propheten Daniel entnommen, inspirierte im Jahr 1744 auch den Komponisten Georg Friedrich Händel. Er schuf mit „Belsazar“ eines seiner großen englischsprachigen Oratorien, jener zu Unterhaltungszwecken komponierten „Sacred Dramas“, die er in seinen Londoner Jahren schrieb.

Verschiedentlich hat die opernhafte Form und Dramatik von „Belsazar“ zu szenischen Umsetzungen geführt. Den jüngsten Versuch einer solchen hat jetzt die Regisseurin Sonja Trebes unternommen, die Gelsenkirchens Musiktheater damit die erste größere Barock-Produktion seit gut einem Dutzend Jahren bringt. An der Hanns Eisler Hochschule in Berlin ausgebildet und dem Staatstheater Kassel verbunden, schickt Trebes sich bei ihrem Gelsenkirchener Debüt an, „Belsazar“ als Parabel über die Vergänglichkeit von Macht zu deuten.

Doch obgleich sich der düstere Turm zu Babel beständig dreht, den Bühnenbildnerin Hyun Chu auf die Bühne gewuchtet hat, fällt es der Regie nicht leicht, ein lebendiges Spiel aus der starren Form des Oratoriums zu entwickeln. Ihr Bemühen führt zu manchem Rudelrennen der Chöre, zu manch kollektiver Tanzeinlage und diversen Aktionismen, aus denen sich jedoch kein wahrer Schwung gewinnen lässt. Bis Belsazar über seine Selbstherrlichkeit fällt und der Perserkönig Cyrus die Herrschaft übernimmt, bleibt der Abend eine recht zähe Angelegenheit.

Die aufwändigen Kostüme von Reneé Listerdal lassen trotz Fantasy-Anmutung die Konflikte unserer Tage anklingen. Die Babylonier tragen Munitionsgürtel um die Brust, Belsazar baumeln Handgranaten am Gürtel. Die roten Stirnlampen am Helm der in Goldrüstungen steckenden Perser wecken freilich auch andere Assoziationen: Biegt gleich womöglich die alte Dampflok „Rusty“ aus dem Bochumer Starlight-Express um die Ecke? Oder stimmt doch noch jemand das Steigerlied an? Wenn die Perser ihre Stirnlampen im Dunkeln für Morsezeichen nutzen, möchte mancher sich vielleicht auch ganz gerne vor den Kopf schlagen.

Königin Nitocris (Alfia Kamalova, l.) und der Perserkönig Cyrus (Anke Sieloff. Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Königin Nitocris (Alfia Kamalova, l.) und der Perserkönig Cyrus (Anke Sieloff. Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Von den Unbeholfenheiten der Szene unberührt, sind die musikalischen Leistungen achtbar. Unter der Leitung des kundigen Spezialisten Christoph Spering entfaltet Händels Musik ihre eleganten Phrasierungen und schimmernden Spinett-Klänge. Die Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen folgen seinem Dirigat willig, halten sich zugunsten der Sänger zurück, erreichen in den finalen Chorszenen aber auch imperialen Glanz samt Pauken und Trompeten.

Unter den Solisten ragt vor allem Alfia Kamalova heraus, die Belsazars Mutter Nitocris einen leuchtenden, biegsamen Sopran verleiht. Als Gast gibt Attilio Glaser der Titelfigur einen hellen Tenor mit störrischen Untertönen. Anke Sieloff (Cyrus), die bald  ihr 20-jähriges Bühnenjubliäum feiert, und Almuth Herbst (Daniel) sind den beiden verlässliche Partner.

Den größten Beifall ernten jedoch Opern- und Extrachor des Theaters (Einstudierung: Christian Jeub), die das Volk der Juden, Perser und Babylonier verkörpern müssen. Das bedeutet viele rasche Kostümwechsel, durch die sich die Sängerinnen und Sänger freilich nicht aus der Spur bringen lassen. Sie sind die tragende Säule der Produktion, die erst beim finalen Machtwechsel schmerzlich klar macht, wie willkürlich es um alle Macht bestellt ist. Ob König oder Gott: Welchem „Herrn“ das Volk huldigt, hängt am Ende allein von der Frage ab, wer gerade das Sagen hat.

Informationen und Termine: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/Belsazar/

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)