Aus der Zeit gefallen: Barbey d’Aurevillys „Der Chevalier des Touches“ erstmals auf Deutsch

Jules Barbey d’Aurevillys Roman „Der Chevalier des Touches“ führt den Leser in ein wenig bekanntes Kapitel der französischen Geschichte: die Partisanenkämpfe katholisch-royalistischer Chouans gegen die siegreichen Revolutionstruppen auf der in den Ärmelkanal ragenden Halbinsel Cotentin in den 1790er Jahren.

Als sei das Thema nicht abgelegen genug, wählt der konservativ-dandyhafte Autor Protagonisten, die schon zum Zeitpunkt der Rahmenhandlung der erzählten Geschichte, während der Restauration, und erst recht bei der Erstveröffentlichung, 1863, als Vertreter einer unwiederbringlich zurückliegenden Epoche Befremdung ausgelöst haben mussten.

Der Chevalier des Touches Cover großIn einem Kaminzimmer der normannischen Kleinstadt Valognes versammeln sich vier greisenhafte Jungfern aus der alten Aristokratie, ein Baron und ein nach der Mode des Ancien Régime gekleideter Abbé, dem kurz zuvor beim Überqueren eines Platzes der seit langem totgeglaubte Chevalier des Touches wie eine gespensterhafte Erscheinung begegnet war. Dieses sonderbare Ereignis nimmt Mademoiselle de Percy zum Anlass, als überlebende Zeitzeugin die Geschichte der Befreiung des Chevaliers durch zwölf verschworene Chouans am Vorabend seiner geplanten Hinrichtung im Jahr 1799 zu erzählen.

Aus unseren Geschichtsbüchern wissen wir, dass auch die Anführer der Revolution nicht zimperlich vorgingen; nur wenige Jahre vor der Geschichte, die im Roman erzählt wird, hatten die republikanischen Truppen die Aufstände der Vendée blutig niedergeschlagen, bis zur Auslöschung ganzer Ortschaften. 1799 aber schien der Ausgang der Revolution entschieden. „Die Bauern sind müde; der Krieg flaut ab“, wird der resignierte Chevalier am Ende seine Begleiter wissen lassen. Sich jetzt aufzulehnen, kam einem Selbstmord gleich.

Um die Garde von der Bewachung des Gefängnisses abzulenken, in dem der Chevalier inhaftiert ist, zetteln seine Befreier eine Massenschlägerei auf der im Ort gerade stattfindenden Viehmesse an. Nur mit Peitschen und keulenähnlichen „Eschenprügeln“ ausgestattet, richten sie in geschickter Formation ein blutiges Gemetzel unter den politisch unbeteiligten Händlern und Bauern an. Es fällt beim Lesen schwer, wie Heinrich Mann im Kampf der kleinen Zahl gegen die ungefüge Menge „auch seine sympathische Seite“ zu sehen. Unbeirrbare Eiferer, die mit terroristischen Aktionen eine historisch überlebte Staatsform zurückfordern – sei es das Ancien Régime oder ein Kalifat – verdienen keine Heroisierung, mögen ihr strategisches Geschick und ihre Tollkühnheit aus rein militärischer Sicht auch noch so schwierige Kunststücke sein.

Aber Barbey d’Aurevilly ist ein zu raffinierter Erzähler, als dass der Chevalier des Touches, seine Befreier und der Kreis der an der Rahmenerzählung Beteiligten dem damaligen wie heutigen Lesepublikum nicht auch als verwunderliche, merkwürdig aus der Zeit gefallene Gestalten erscheinen mussten. Hatten noch in der Kindheit Barbey d’Aurevillys die Legenden über den historischen Jacques Destouches (1780–1858) die Augen der Erzähler und ihrer Zuhörer aufleuchten lassen, mischt der erwachsene Autor in seine Darstellung profunden Zweifel an dem unbedingten Engagement für die aussichtslose Sache. Die mit der Restauration zwischen 1814 und der Julirevolution 1830 noch einmal eingerichtete konstitutionelle Monarchie hatte nichts mehr vom Glanz früherer Bourbonenherrschaft.

Zwar werden sowohl die Körperkraft des Chevalier des Touches als auch dessen navigatorische Fähigkeiten als Bote zwischen dem von der Revolution abgesetzten König im englischem Exil und seinen Anhängern auf dem französischen Festland gerühmt, doch sind die Chouans in der Bevölkerung nicht besonders beliebt. Das wird besonders gut nachvollziehbar, wenn der soeben befreite Chevalier in einer Mühle grausame Rache an dem musikalischen Müller übt, der ihn an die Revolutionstruppen verraten hat.

Eine überraschende, jedoch im Lauf der Erzählung geschickt vorbereitete Wende nimmt der Roman auf den letzten Seiten, sobald Mademoiselle de Percy ihre Erzählung über die abenteuerliche Entführung des Chevalier des Touches beendet hat. Leser, die sich bis jetzt an all dem Martialischen, an den Strategiespielen der Chouans, nicht erfreuen konnten, dürften nun auf ihre Kosten kommen. Von allen unbemerkt, hatte im Kaminzimmer der alten Herrschaften ein etwa dreizehnjähriger Junge zugehört, dessen Lebensdaten (und auch nach dem, was sonst biographisch über Barbey d’Aurevilly bekannt ist) mit denen des Autors weitgehend kongruent sind. Er greift als erwachsener Mann die Geschichte auf und ergänzt mit historischem Abstand das, was Mademoiselle de Percy und ihre Zuhörer damals nicht wissen konnten. Der tatsächliche Jacques Destouches lebt seit mehr als dreißig Jahren geistesgestört und verbittert über den „Undank“ der Bourbonen in einer Anstalt in Caen, wo der Erzähler – und auch der Autor – ihn besucht.

Barbey d’Aurevilly hält diese Begegnung aus dem Oktober 1856 in einem seiner Tagebücher (von ihm „Memorandum“ genannt) fest. Der im Matthes & Seitz Verlag erstmals im Zusammenhang mit einer Ausgabe dieses Romans erschienene Text ist aufschlussreich sowohl über die Situation der psychiatrischen Krankenhäuser im 19. Jahrhundert als auch über die Demokratieferne des Autors.

Der den Besucher begleitende Arzt macht seine Patientenvisite. „Wenn einer von ihnen in Wut gerät (sie sind nicht gefesselt, Hut oder Mütze in der Hand), ergreifen ihn zwei oder drei Mann und schaffen ihn fort, wie ein Hausmädchen ein schreiendes Kind hinausträgt – genauso schnell. – Wunderbare, beinah zauberische Raschheit! – Als ich über die Behendigkeit staunte, mit der die Leute weggeschafft wurden, sagte mir der Doktor, wenn man eine Minute schwach sei oder zögere, würden augenblicklich alle aufsässig und unbezähmbar! – Dann gewinnen sie die Oberhand. – Ich dachte an die Staatsleute – was könnten sie hier über das Niederhalten der Massen lernen! – Völker muss man wie Verrückte lenken.“

War bereits der Roman ein aus vielerlei Gründen lesenswertes unzeitiges Zeitzeugnis, so lohnt sich die Lektüre erst recht wegen des gut 80-seitigen Anhangs. Der Herausgeber Gernot Krämer, der ein kenntnisreiches Nachwort beisteuert, das Verständnis vieler Textstellen durch gründlich recherchierte Anmerkungen bereichert und um eine gute Auswahlbibliographie ergänzt, hat zwei weitere Texte hinzugenommen.

Zunächst einen Essay von Heinrich Mann, dem großen Romancier und profunden Kenner französischer Geschichte, einer der ersten in Deutschland, der die Bedeutung Barbey d’Aurevillys erkannte und in einem 1895 in der Zeitschrift Die Gegenwart erschienenen Essay differenziert darzustellen wusste. Es ist dem Herausgeber zu danken, diesen klugen Essay entdeckt und der Chevalier-des-Touches-Ausgabe hinzugefügt zu haben.

Und nicht zuletzt den Text eines Autors, den man im Zusammenhang mit Barbey d’Aurevilly nicht unbedingt erwartet hätte: einen Auszug aus einer geistreich-verspielten Reflexion des Philosophen Michel Serres zum Kapitel über die „blaue Mühle“, die über das Weiße zu einer roten Mühle wird. Serres spürt der im Roman angelegten feinen Metaphorik nach, setzt die sinnlich wahrnehmbaren Farben in Beziehung zu ihren historischen Bedeutungen für die Trikolore und stellt kluge Überlegungen an zu Uhren, Mühlen, dem Fortschreiten der Zeit und fruchtlosen Versuchen, sie anzuhalten. Ein lustvoller Text, der zum Mehrlesen anregt.

Das gesamte Buch – der Roman selbst, die vortreffliche Übersetzung, die als Illustrationen beigegebenen Radierungen von Félix Buhot, das „Memorandum“ zum Besuch in der psychiatrischen Krankenanstalt, die Essays von Heinrich Mann und Michel Serres, das gut erklärende Nachwort von Gernot Krämer, seine Anmerkungen und weiterführenden Literaturhinweise, die aufwendige Herstellung (Fadenheftung) – das alles zusammen bildet eine gelungene Komposition und ergibt einen weiteren schönen Band der Barbey d’Aurevilly-Ausgabe im Matthes & Seitz Verlag.

Jules Barbey d`Aurevilly: „Der Chevalier des Touches„. Roman. Aus dem Französischen von Caroline Vollmann und Gernot Krämer, herausgegeben und mit einem Nachwort von Gernot Krämer. Mit Texten von Heinrich Mann und Michel Serres sowie Illustrationen von Félix Buhot. Matthes & Seitz Verlag, Berlin. 295 Seiten, 19,90 €.