Vordergründig aktualisiert: Manfred Gurlitts Oper „Soldaten“ in Osnabrück

Susann Vent-Wunderlich als Marie in Manfred Gurlitts Oper "Soldaten" in Osnabrück. Foto: Jörg Landsberg

Susann Vent-Wunderlich als Marie in Manfred Gurlitts Oper „Soldaten“ in Osnabrück. Foto: Jörg Landsberg

Von runden Geburtstagen und ähnlichen Gedenkanlässen nimmt die Musikszene oft nur dann Notiz, wenn es etwas zu vermarkten gibt. Bei Manfred Gurlitt wird es zum 125. wohl nicht anders sein. Geboren am 6. September 1890, gehört Gurlitt zu den komponierenden Dirigenten seiner an musikalischen Talenten so reichen Zeit – von Richard Strauss bis Wilhelm Furtwängler. Der Name der Familie ist durch die Sammlung Cornelius Gurlitt und die damit wieder ausgelöste Debatte um NS-Raubkunst bekannt geworden.

Manfred Gurlitt dagegen ist einer der vielen Vergessenen. Trotz seines Eintritts in die NSDAP wurde er jüdischer Vorfahren verdächtigt und 1937 seine Mitgliedschaft für nichtig erklärt. Der Druck auf ihn nahm zu, so dass er zwei Jahre später nach Japan emigrierte. Doch auch im Fernen Osten war er vor dem langen Arm der Nazis nicht sicher.

Nach dem Krieg wirkte Gurlitt bis zu seinem Tod 1972 segensreich in Japan; in seiner Heimat blieb er unbeachtet. Einzelne Versuche, sein Werk auf die Opernbühne zurückzubringen – 1997 „Wozzeck“ in Gießen, 2003 „Nordische Ballade“ in Trier, 2010 „Nana“ in Erfurt – blieben folgenlos, Dabei hat zuletzt die parallele Aufführung der „Wozzeck“-Vertonungen Gurlitts und Bergs in Darmstadt 2013/14 gezeigt, dass man die Musik des Nachromantikers durchaus ernst nehmen sollte.

Mit diesem Eindruck verlässt man auch die neueste Gurlitt-Bemühung: Das Stadttheater Osnabrück brachte „Soldaten“ heraus, 1930 in Düsseldorf uraufgeführt. Düsseldorf hätte – das sei nebenbei bemerkt – durchaus noch etwas gut zu machen: Die für 1933 geplante Uraufführung von „Nana“ mit einem Libretto von Max Brod nach Émile Zola hatten die Nazis vereitelt; die Oper erschien erst 1958 in Dortmund.

Dominante Mutter: Joslyn Rechter (Frau Stolzius) und Jan Friedrich Eggers (Sohn Stolzius). Foto: Jörg Landsberg

Dominante Mutter: Joslyn Rechter (Frau Stolzius) und Jan Friedrich Eggers (Sohn Stolzius). Foto: Jörg Landsberg

Von Takt zu Takt spürt man in Osnabrück den versierten Theatermenschen: Gurlitt entwirft für die drei Akte seiner gut zweistündigen Oper konzentrierte Bilder, setzt den Kontrast zwischen Ensembleszenen und reflektierenden Monologen geschickt ein. Zwischenspiele gliedern das Drama, das Gurlitt selbst aus der Vorlage von Jakob Michael Reinhold Lenz destilliert hat. Die altertümliche Sprache behält er als ein distanzierendes Element bei.

Ähnlich wie in seinem „Wozzeck“ wählt er ein lakonisches musikalisches Idiom: Selten setzt er auf impressionistische Klangraffinesse, oft wählt er einen herben, harmonisch schroffen Ton, manchmal – auch das muss gesagt sein – fehlt ihm die originelle klangliche oder harmonische Erfindung.

Auch wenn Strauss und Schreker weiter waren: Die lapidare, eher kommentierende als emotional mitreißende Musik passt zu Gurlitts betontem sozialpsychologischem Ansatz. Skizzenhaft, aber nicht schablonisiert die Charaktere, komplex, aber klar herausgearbeitet ihre Beziehungen zueinander.

„Soldaten“ zeigt die Eltern-Kind-Beziehungen als unheilvoll: Marie, die weibliche Hauptfigur, muss ihre erwachenden Beziehungswünsche den Geschäftsinteressen ihres Vaters Wesener unterordnen. Fabrikant Stolzius kann sich letztlich nur durch einen Akt der Gewalt von seiner dominanten Mutter absetzen. Und der – namenlos bleibende – Sohn der Gräfin de la Roche hat keine Chance, den energischen Geboten seiner standesbewussten Mutter zu entkommen. Die titelgebenden Soldaten bilden eine Gruppe sozialer Desperados, zynisch, schmarotzerhaft, empathielos.

Die Gräfin (Joslyn Rechter) und der Sohn (Daniel Wagner). Foto: Jörg Landsberg

Die Gräfin (Joslyn Rechter) und der Sohn (Daniel Wagner). Foto: Jörg Landsberg

Ein faszinierender, vielschichtiger Stoff. Das Theater Osnabrück hat ihn dem jungen Regisseur Florian Lutz anvertraut, der im Rheinland durch die heftig umstrittene „Norma“ in Bonn auf sich aufmerksam gemacht hat. Sein Ansatz, die Geschichte aus dem Fokus auf individuelle Moral herauszurücken und gesellschaftlichen Bedingungen zuzuordnen, macht Sinn. Die Realisation auf der Osnabrücker Bühne scheitert dennoch: Lutz will den Stoff mit aktuellen politischen Assoziationen aktualisieren, bleibt aber im vordergründigen Zitieren und distanzloser Übertragung hängen. Diese Methode ist schon einmal schief gegangen, als er in Regensburg Wagners Frühwerk „Die Feen“ in das Beziehungsgeflecht der Wagner-Familie gezwungen hat. In Osnabrück ging es nicht besser.

Dass Lutz persönliche Schicksale als Ergebnis von Produktionsverhältnissen ansieht, könnte ja ein ertragreicher Ansatz sein: In der Firma Stolzius steht ein Automat eines weltweit verbreiteten koffeinhaltigen Getränks; eine Video-Botschaft verkündet, die Brause könne auch „a better world“ machen. Wir sind in der globalisierten Welt angekommen. Marie Wesener ist Tochter eines Waffenhändlers, der ziemlich skrupellos schweres Material verschiebt, seiner Tochter aber Vergnügungen wie die „Komödie“ verbietet. Kein Wunder, er scheint ja Muslim zu sein: Marie zieht jedenfalls ein Kopftuch auf. Auch das wirkt noch schlüssig: Kulturelle Unterschiede verursachen persönliche Tragödien.

Als es dann um die Soldaten geht, bleut Lutz seine Botschaft den Zuschauern mit dem dicken Knüppel ein – und damit sind nicht die „Rambo“-Szenen gemeint, die auf die flexibel beweglichen Bühnenelemente Sebastian Hannaks projiziert werden. Bundeswehr-Soldaten saufen und prügeln in einer sandsackbewehrten Stellung, Waterboarding und andere Abu-Ghreib-Foltermethoden garnieren das Gelage. Später mutiert die Gräfin de la Roche zur Gräfin Ursula von der Leyen, die ihre Kinder im Schlafanzug um den Weihnachtsbaum antreten lässt und sich mit säuglingsfütternden Soldaten den Medien präsentiert: Stimmt, die Bundeswehr soll ja familienfreundlicher werden! In solchen vordergründigen Bildern ertrinkt nicht nur Lenz‘ Sozialdrama; auch die aktuelle Relevanz schrumpft zur bloßen Behauptung.

Damit's auch jeder merkt: Marie wird zur "Hure" gestempelt. Susann Vent-Wunderlich in Manfred Gurlitts "Soldaten". Foto: Jörg Landsberg

Damit’s auch jeder merkt: Marie wird zur „Hure“ gestempelt. Susann Vent-Wunderlich in Manfred Gurlitts „Soldaten“. Foto: Jörg Landsberg

Damit’s auch jeder merkt, darf Marie auf ihrem Abstieg vom schüchtern verliebten Mädchen zum ausgestoßenen Opfer „Hure“ an die Wand krakeln. Zum Glück vermittelt Susann Vent-Wunderlich singend einige Aspekte mehr als die Grobschnitt-Regie. Ihr farbenreicher Sopran kann zärtliche Erwartung, aber auch Wut, Verlorenheit und Erschöpfung ausdrücken. Joslyn Rechters Bühnenerfahrung bewährt sich als Fabrikantengattin im Strickkostüm und als glamouröse, parkettsichere Gräfin. Jan Friedrich Eggers beleuchtet die Facetten des jungen Stolzius, der vom noblen Liebhaber zum rächenden Täter und Opfer zugleich mutiert.

Die Soldaten – Per Håkan Precht, Sungkon Kim, Silvio Heil, Genadijus Bergorulko – singen kalt, klar und kantig. José Gallisa ist als Wesener eine autoritäre Vaterfigur mit wuchtiger, aber unflexibler Stimme. Daniel Wagner als eingeschüchterter Sohn der Gräfin zeigt einen klangvoll hellen, aber oft zu flach positionierten Tenor. Das halbe Dutzend kleiner Rollen ist adäquat besetzt, auch Chor und Statisten bewegen sich in den sich rasch wandelnden Räumen sicher und gekonnt.

Die sorgfältige erarbeitete Klanglandschaft im Orchester, erarbeitet von dem bereits in Mainz als hoch begabt aufgefallenen Osnabrücker GMD Andreas Hotz, war in der besuchten Vorstellung bei Kapellmeister An-Hoon Song in guten Händen. Die Osnabrücker Symphoniker waren den sperrigen Reibungen ebenso gewachsen wie den emotional aufbegehrenden Momenten großen Klangs. Ein musikalisch lohnender Abend; die theatralische Bemühung möchte man mit einem Wort von Jakob Michael Reinhold Lenz bezeichnen: malhonett.

Weitere Informationen: http://www.theater-osnabrueck.de/spielplan/spielplandetail.html?=&stid=929