Verkannte Moderne: Essener Philharmoniker mit spannendem Programm

Seltsame Wege geht die Geschichte manchmal: Was bleibt? Was wird vergessen? Von der spannenden Zeit der anbrechenden musikalischen Moderne im deutschen Sprachraum bis zum Ersten Weltkrieg, auch von der Vielfalt in den Zwanziger Jahren, ist wenig geblieben: Richard Strauss vor allem; auch der erst seit wenigen Jahrzehnten wiederentdeckte Gustav Mahler. Und natürlich die Wiener Schule, gehätschelt von den „Fortschrittlichen“ nach dem Krieg, wenig geschätzt von einem auf Genuss und Wiedererkennungswert fixierten Publikum.

Entsprechend abgemagert war, was Dirigenten und Orchester für ihre Abo-Reihen – manchmal bis heute – auswählen. Und so war das Schönste am Neunten Sinfoniekonzert der Essener Philharmoniker das ungewöhnliche Programm mit drei Aspekten der Moderne, das sich nicht wieder in den Göttern des Genres erschöpfte.

Der erste verbindet sich mit Max Regers „Lustspiel-Ouvertüre“ von 1911, das Werk eines einst gefeierten Sonderlings, dem die technische Brillanz des Komponierens über alles ging. Man wagt nicht sich vorzustellen, welches „Lustspiel“ die Musik hätte einleiten sollen. Reger führt in dem dicht gewebten Satz alles vor, was ein Meisterkomponist zu beherrschen hat: Sonatenform, Haupt-, Neben- und Seitenthema, kunstfertige Kontrapunktik, Abwandlung, Kombination und Verarbeitung des thematischen Materials, rasante Modulationen. Man staunt, was in knapp zehn Minuten alles an formaler Kreativität möglich ist.

Hyeyoon Park. Foto: Giorgia Bertazzi

Hyeyoon Park. Foto: Giorgia Bertazzi

Aber die Lust ist – mit Verlaub – die eines geschickten Handwerkers: Taucht einmal ein melodischer Gedanke, eine rhythmische Figur auf, gehen sie sogleich im Mahlstrom der Polyphonie unter. Das mag alles mit intellektuellem Gewinn zu lesen sein; mit sinnlicher Lust zu hören ist es nicht.

Gastdirigent Patrick Lange tat nichts, um Regers artifizielles Geflecht durchsichtig zu machen. Die Philharmoniker produzierten einen Klang so fett wie die Braten, die der Ur-Oberpfälzer zu verschlingen pflegte. Die Bruchstücke Mendelssohnscher Pianissimo-Fragilität oder Nicolaischen Rhythmus-Charmes reichen nicht, um die üppige Zubereitung leichter zu machen.

Im atonalen Frost verwelkt

Ein zweiter Aspekt der Moderne: Erich Wolfgang Korngolds Violinkonzert, eine 1947 uraufgeführte romantische Spätblüte, schnell verwelkt im atonalen Frost der Nachkriegszeit. Das Gegenteil von Reger: süffige Melodielinien, schmeichlerische Harmonik, statt inneren symphonischen Zusammenhangs ein rhapsodisches Zitieren aus Korngolds Filmmusiken. Kein Wunder, dass eine technikverliebte musikalische Epoche diese kunstvoll assoziativ verknüpfte Musik nicht würdigen konnte. Korngold galt als Edel-Kitsch mit dem sentimental-süßlichen Odeur der Operette.

Dass dem nicht so ist, dass Korngold, das „Wunderkind“ des Wiener Fin de Siècle, sein „Handwerk“ souverän beherrschte, ist auch im Violinkonzert ablesbar. Die Überleitungs- und Durchführungspassagen des ersten Satzes verlangen Musikalität und Formgespür – bloßer üppiger Ton reicht da nicht. Auch nicht für das Seitenthema: Es erinnert an den Opernkomponisten Korngold, dessen „Tote Stadt“ mittlerweile wieder zum Repertoire gehört.

Hyeyoon Park spielt mit leuchtendem Ton und angemessener Aufmerksamkeit für den Gehalt jenseits sinnlicher Vordergründigkeit. Aber für die erotisch glühende Melodik ist der Porzellanton der 1992 geborenen Koreanerin zu kühl – auch wenn sie mit siebzehn Jahren mit diesem Konzert den ARD-Wettbewerb gewonnen, auch wenn die Kritik die natürliche Süße ihres Tons gepriesen hatte.

Den schwelgerischen Überschwang einer Anne-Sophie Mutter braucht es nicht, aber die Kantilene darf blühen, der Ton hin zu befreiender Fülle drängen. Der transparente zweite Satz überzeugt eher: Hyeyoon Park gestaltet die Phrasierung manchmal verletzlich filigran, findet dezentes lyrisches Schimmern. Hier zeigt sie, wie sie mit Tönen modelliert.

In den spieltechnischen Raffinessen des dritten Satzes ist sie in ihrem Element: leichtfüßige Staccati, ein pfeffriger Tarantella-Rhythmus, mit souveränem Schwung durchformulierte Melodik, Temperament in der Stretta. Der Beifall war begeistert – sicher auch, weil das Orchester bemüht war, Korngold vom Klischee der Filmmusik – mit der er höchst erfolgreich war – wegzurücken. Das bei der Uraufführung heftig getadelte Vibraphon jedenfalls bringt wie andere Instrumente des reichen Schlagwerks wunderbare Schattierungen in die Farbpalette des klassischen Instrumentariums.

Musikalische Meisterschaft und philosophischer Tiefgang

Zum Dritten schließlich Alexander Zemlinskys „Lyrische Sinfonie“ von 1924. Sie verbindet technische Meisterschaft, formale Reflexion, sinnliche Unmittelbarkeit und philosophischen Tiefgang. Die sieben Liebesgedichte von Rabindranath Tagore spiegeln die unnennbare Sehnsucht, das abgründige Verlangen, das ruhe- und ziellose Begehren der Zeit wider, spielen mit bedeutungsvollen Naturmotiven und symbolträchtigen Bildern. Zemlinsky findet dafür einen hochdifferenzierten Ton, nutzt den Reichtum des Orchester-Instrumentariums gedankenvoll und virtuos aus, kennt die rhythmische Schärfe, das raunende Piano, die Majestät des Blechs.

Wieder lassen es die Essener Philharmoniker an subtiler Modellierung des Klangs fehlen. Dirigent Patrick Lange dämpft nicht ab, daher ist das Orchester oft zu laut, zu wenig atmosphärisch im Klang. Der Bariton Heiko Trinsinger schöpft in der Deutung der Worte aus seiner Erfahrung, setzt seine große, nach wie vor flexible Stimme ein. Katrin Kapplusch ringt ihrem Sopran gestoßene Töne, ein hartes Vibrato und schrille Höhen ab. Zemlinskys raffinierte Klangwelten wurden umrundet, aber nicht erobert.

Informationen: http://www.essener-philharmoniker.de/sinfoniekonzerte/9-sinfoniekonzert-der-essener-philharmoniker-lyrisch.htm

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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