Als Brecht bei Feuchtwanger klingelte – Klaus Modicks Roman „Sunset“

Winter 1918. Der Krieg geht zu Ende, in München wird die Räterepublik ausgerufen. Das lässt auch den Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der sich bisher eher für buddhistische Weisheiten und historische Themen interessierte, nicht kalt.

Gerade arbeitet er an seinem Theaterstück „Thomas Wendt“, einem „dramatischen Roman“ über einen Künstler, der sich zum politischen Engagement bekennt und sich in die Revolution einmischt. Da klingelt es an der Hautür und ein abgerissen wirkender junger Mann mit Stoppelbart, Schiebermütze und abgewetzter Lederjacke begehrt Einlass in die Wohnung des arrivierten Schriftstellers. Er habe ein Stück geschrieben und hoffe, dass der über beste Bühnen-Kontakten verfügende Feuchtwanger in der Lage sei, eine Aufführung zu erwirken, „weil ein Stück“, so der selbstbewusste Jungdichter, „das nicht aufgeführt wird, nichts wert ist.“

Das Drama, das der freche Dichter dem älteren Kollegen auf den Schreibtisch pfeffert, trägt den Titel „Spartakus“. Ein Geniestreich, einer, der Feuchtwanger fast das Leben kostet. Denn als die konterrevolutionären Freikorps seine Wohnung plündern und das Manuskript finden, vermuten sie, nicht ganz zu Unrecht, Feuchtwanger würde mit der Räterepublik sympathisieren. Nur durch einen Zufall entgeht Feuchtwanger dem Erschießungskommando. Aber das ist eine andere Geschichte. Eine, die vielleicht ein andermal etwas genauer erzählt und zu einer Novelle ausgeschmückt werden sollte.

In Klaus Modicks Roman „Sunset“ hat der süffisante Hinweis auf das lebensbedrohliche „Spartakus“-Manuskript eine andere Funktion: er soll zeigen, dass die Freundschaft, die in jenem Revolutionswinter zwischen Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht entstand und sich im Berlin der 20er genauso fortsetzte wie im kalifornischen Exil der 30er und 40er Jahre, von vornherein nicht frei war von bizarren Umgangsformen und kuriosen Streitereien. Wie sollte es auch anders sein, begegneten sich doch hier zwei Schriftsteller, die unterschiedlicher nicht sein konnten und doch zeitlebens miteinander aufs Innigste verbunden waren: Hier der bürgerliche Erfolgsautor, der mit seinen historischen Romanen gigantische Auflagen erzielte und selbst im Exil eine riesige Villa bewohnte. Dort der marxistische Intellektelle, der zwar stets viele Frauen um sich scharte, aber ständig am Hungertuch nagte und dessen Stücke in Amerika niemand spielen wollte. Ohne Feuchtwangers finanzielle Hilfe, das kann man ruhig einmal laut sagen, wäre Brecht in Hollywood vor die Hunde gegangen.

Klaus Modick weiß das natürlich alles. Schließlich hat er vor über 30 Jahren bei Hans-Albert Walter, den Mentor der Exil-Literatur-Forschung in Deutschland studiert und über Feuchtwangers Leben und Literatur promoviert. Durch die Romane Modicks spukt seither ein von Feuchtwanger inspirierter, historisch fundierter, von Aufklärung und Humanismus geprägter Erzählgestus. Eigentlich war es längst überfällig, dass Modick seinen Lieblingsautor zur Romanfigur macht. Ein schwieriges Unterfangen, musste er doch die sich in seinem Kopf angehäuften Fakten zu einer fiktiven Geschichte komponieren. Es ist ihm wunderbar gelungen.

Denn Modick verdichtet die Handlung auf einen einzigen Tag im August 1956: Feuchtwanger ist einer der letzten im kalifornischen Exil verbliebenen deutschen Dichter. Selbst die Kommunistenhysterie der McCarthy-Ära konnte ihn nicht vertreiben. Feuchtwanger ist allein in seiner „Villa Aurora“, es ist heiß, Gattin Marta macht auswärtige Besorgungen, die Sekretärin ist verreist. Da erreicht ihn ein von Johannes R. Becher geschicktes Telegramm aus Ost-Berlin: „Bertolt Brecht gestorben.“ Natürlich kann er der Einladung Bechers zum bereits am nächsten Tag angesetzten Staatsakt im Berliner Ensemble nicht nachkommen. Statt sich über den stalinistischen Kulturminister zu ärgern, erinnert sich Feuchtwanger lieber an seine Zeit mit Brecht. Wie er sich als väterlicher Freund und Ruhepol des jüngeren, aufbrausenden Kollegen empfand. Wie sie zusammen an Feuchtwangers „Warren Hastings“-Drama arbeiteten oder am „Spartakus“-Manuskript von Brecht, das unter dem Titel „Trommeln in der Nacht“ Bühnengeschichte schrieb.

Wenn der Tag zu Ende geht und die Sonne im Stillen Ozean versinkt, hat der von Magenkrämpfen gequälte Feuchtwanger nicht nur wichtige Stationen seiner Freundschaft mit Brecht abgeschritten, er hat auch eine Lebensbilanz gezogen. Modick hat dabei vieles frei erfunden. Aber eine gut erfundene Geschichte, das wusste niemand besser als Feuchtwanger, ist allemal besser als Langeweile in der Wirklichkeit.

Klaus Modick: „Sunset“. Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt, 192 S., 18,95 Euro.