„Klassische“ Musik als europäisches Phänomen: Zum Abschluss des Klavier-Festivals Ruhr

Riesenerfolg für den Pianisten Igor Levit beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Felix Broede

Riesenerfolg für den Pianisten Igor Levit beim Klavier-Festival Ruhr. Foto: Felix Broede

Das mit dem „nordischen Ton“ ist so eine Sache: Das Klavier-Festival Ruhr baute rund um die 150. Geburtstage von Jean Sibelius (mehr) und Carl Nielsen (weniger) ein Programm, um die großen Meister Skandinaviens zu ehren. Verdienstvolle Konzerte verwiesen auf die hierzulande kaum bekannte lebendige Musikszene im 18. und 19. Jahrhundert, zu der etwa Ture Rangström oder Wilhelm Stenhammer gehörten. Musiker aus dem Norden wie Olli Mustonen und Ketil Haugsand waren zu Gast.

Aber im Endeffekt zeigte sich, wie die Wege der Musik doch einem gemeinsamen Zentrum zustreben, sich nationalen Grenzen und „Stilen“ verweigern. „Klassische“ Musik ist ein europäisches Phänomen – eine Erkenntnis, die all den nationalen Aberrationen trotzt: Musik hat immer Brücken gebaut, selbst in Zeiten schlimmsten Nationalismus‘ und kulturellen Chauvinismus‘. Wagner hat eben nicht recht, sondern Meyerbeer: Nicht aus dem wie auch immer gearteten „Nationalen“ kommt der innerste Quell von Kreativität, Originalität und Inspiration, sondern aus der lebendigen Verbindung von Völkern, Sprachräumen und Nationen.

Dem widerspricht auch nicht, dass es musikalische Charakteristika und Ausdrucksformen gibt, die sich mit bestimmten Landstrichen verbinden. Ein Ländler ist keine Polka – aber beide sind international geworden. Und die „Volksmusik“, die etwa Jean Sibelius, der schwedische Finne mit dem französischen Vornamen und dem deutschen Studium benutzt, hat ein „Volks“-Idiom, das man möglicherweise auch in Galizien oder der Schweiz wiederfinden könnte.

Mit dieser Aufnahme der letzten Klaviersonaten Beethovens gewann Igor Levit den Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik. Die Verleihung fand statt im Rahmen des Abschlusskonzerts. Coverabbildung: Sony Classical

Mit dieser Aufnahme der letzten Klaviersonaten Beethovens gewann Igor Levit den Jahrespreis der deutschen Schallplattenkritik. Die Verleihung fand statt im Rahmen des Abschlusskonzerts. Coverabbildung: Sony Classical

Insofern hat das Abschlusskonzert des Klavier-Festivals in der Essener Philharmonie bestätigt, dass der „Nordische Ton“ in einen europäischen Kontext gebettet ist. Carl Nielsen schrieb die eröffnende „Helios“-Ouvertüre in Griechenland; ihr Thema ist nicht etwa die Mitternachtssonne, sondern der Lauf des Sonnenwagens, den die griechische Mythengestalt Helios über das Firmament lenkt. Und das Aufdämmern der tiefen Streicher aus dem Nichts, der kraftvolle Einsatz der Hörner, das langsame Crescendo im Wellenspiel der Streicher ruft Erinnerungen an Wagners „Lohengrin“ wach – oder an E.T.A. Hoffmanns Oper „Aurora“.

Das WDR Sinfonieorchester war trotz der Feldherrnpose seines Dirigenten, des Finnen Hannu Lintu, noch etwas befangen im Klang. Hörner und Violinen mussten sich locker spielen, fanden dann aber in Edvard Griegs Klavierkonzert zu schwingender Freiheit. Die breite Einleitung des Adagios strömte gelassen und klangschön dahin; die träumerische Atmosphäre, getragen von den gedämpften Streichern, wurde nicht durchbrochen. Anders in den rhythmisch geprägten beiden letzten Sätzen: Da setzte Lintu schon einmal auf den Effekt eines scharf und präzise geschnittenen Tutti und ließ die Klangwogen über dem Pianisten zusammenschwappen.

Der Pianist war Igor Levit: Noch keine dreißig Jahre alt, gehört er zu den jungen Leuten in der Szene, die seit Jahren die schönsten Erwartungen nähren – und immer wieder übertreffen. Für Edvard Grieg zieht er erst einmal das Jackett aus: Am heißesten Tag des Jahres soll die Etiquette nichts beeinträchtigen, was der Musik dient.

Levit ist keiner, der etwas „zeigen“ müsste; er kann es sich leisten, den markanten Solo-Einstieg nicht narzisstisch zu zelebrieren, sondern selbstbewusst hinzustellen, um dann den kleinen Formen nachzuspüren, eine Arabeske nachsinnend statt spielerisch zu formulieren, die Momente Liszt’schen Glanzes zu verinnerlichen, ohne dem riesigen Crescendo hin zu den markigen a-Moll-Akkorden des Satzschlusses seine Wirkung zu nehmen.

Levit ist auch in den folgenden Sätzen ein Mann der leisen Töne, der klanglichen Delikatesse, der klugen dialogischen Balance mit dem Orchester. Sympathisch seine Zugabe, die „Peter Grimes Fantasy on themes from the opera by Benjamin Britten“ aus dem Jahr 1971 als Hommage an den im März verstorbenen schottischen Komponisten Ronald Stevenson, dem sich Levit sehr verbunden fühlt.

Nochmal der nordische Ton, diesmal gefasst in Sibelius‘ Zweiter. Man fragt sich zunächst, warum es wieder einmal die populärste seiner sieben Sinfonien sein musste, hatte das Konzert doch schon mit Griegs Klavierkonzert den offenbar unverzichtbaren „Reißer“. Dann fragt man sich, warum Hannu Lintu trotz seines akkuraten Schlags manche Kanten weichzeichnet, während er die majestätischen Ausbrüche und die fahlen Holzbläser-Episoden richtig spektakulär ausspielen lässt. Die Frage nach der Folklore verweist auf die Orgelpunkte und Liegetöne, die man auch in anderen als den nordischen Traditionen findet.

Und wenn missgünstige, koboldige Bläser eine warme Dvořák-Idylle stören, könnte man sich auch in Böhmen wähnen. Dort, wo Gustav Mahler seine Wurzeln hat, dessen zerrissene Sinfonik die episodenhafte Materialverarbeitung und die Abbruchmomente bei Sibelius vorausahnen lassen. Das WDR Sinfonieorchester gibt sein Bestes, ob in den fantastisch ausgehörten Klangfarben der Holzbläser oder in den Momenten des Messingglanzes, ob in der Transparenz der Balance der Gruppen oder im Kontrast abrupter Brüche und kantabel entwickelter Bögen.

Jahrzehntelang verbunden: Martha Argerich und Misha Maisky

Tags zuvor entzückte wieder Martha Argerich ihre zahlreichen Fans in Essen, diesmal im Bunde mit dem Cellisten Misha Maisky und einem nicht-nordischen, erst kurz vor dem Konzert veröffentlichten Programm. Beethovens Variationen über „Bei Männern, welche Liebe fühlen“ aus Mozarts „Zauberflöte“ sind ein hübsches Einspiel-Stück’l. Die sieben Veränderungen des poetischen Themas zeugen davon, wie zwei Musiker im Lauf eines jahrzehntelangen Zusammenwirkens wie selbstverständlich aufeinander eingehen, sich in Nuancen abstimmen, aber auch einmal – wie ein altes Ehepaar – dem Anderen ins Wort fallen oder einfach über ihn weggehen.

Misha Maisky und Martha Argerich nehmen den Beifall entgegen. Foto: Peter Wieler / KFR

Misha Maisky und Martha Argerich nehmen den Beifall entgegen. Foto: Peter Wieler / KFR

Argerich zeigte ihre weichen Läufe, ihren diskret perlenden Ton, ihr elegisches Cantabile. Maisky räumte ihr chevaleresk elegante Vortritte ein, bemühte sich um einen noblen, zurückhaltenden Ton. Die folgende Schostakowitsch-Sonate d-Moll (op.40) wirkte manchmal ein wenig unbekümmert dahingespielt – und Martha Argerich erschrak auch mal neckisch, wenn sie sich vergriffen hat. Bei solchen Musikern wäre freilich selbst ein Spielen „prima vista“ aufregender als bei anderen wochenlang geübtes Kunsthandwerk. Da muss nichts mehr bewiesen werden: Der diskrete Klavierton in seinen expressiven Qualitäten nicht, der dicht-gesangliche Klang des Cello auch nicht.

Das zweite Allegro der Sonate beschwört in seinen wild-perkussiven Elementen auch einen „Volkston“, aber Schostakowitsch lässt Ironie mitschwingen – wie im vierten Satz, wo er eine Reihe von Final-Manierismen auf die Schippe nimmt. Die bedeutende Violinsonate César Francks – hier in einer Fassung für Cello – wollte trotz der Kontraste zwischen Lyrizismen und gesteigerten Erregungszuständen nicht recht für sich einnehmen: Maisky fand nicht zu einem gelösten, freien Ton; er verharrte in heiserer Anstrengung zumal in der Höhe. Argerich spielte wie auf einer Zauberharfe aus Glas und Elfenbein. Aber beides wollte sich nicht zu einem organischen Ganzen verbinden, das die Aufmerksamkeit hätte fesseln können. Jubel und drei Zugaben.